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Schweiz: Der Streit um die Selbstdispensation

(jr). Das Schweizer Gesundheitssystem wartet mit einer Besonderheit auf, die sonst nur in Asien zu finden ist: die so genannte Selbstdispensation. Das Verschreiben und die Ausgabe von Arzneimitteln durch den Arzt ist in der Alpenrepublik ein Streitthema, das bereits Generationen von Apothekern, Ärzten und Bürgern beschäftigt.

Heute wie vor 156 Jahren sind in 13 deutschsprachigen Bezirken der Schweiz – darunter Zürich, Winterthur und Baselland – Ärzte damit betraut, ihren Patienten die verschriebenen Arzneimittel auch auszuhändigen. Die Verfassungsänderung von 1848 zur Liberalisierung des Schweizer Gesundheitssystems manifestierte dieses Recht, das noch immer für Unruhe zwischen Apothekern und Ärzten sorgt. Ein Blick auf Zahlen des Bundesamts für Statistik erklärt das Streitpotenzial.

Selbstdispensierende Ärzte händigten im Jahr 2002 Arzneimittel im Wert von fast 1,5 Milliarden Schweizer Franken aus, die betroffenen Apotheker setzten Arzneimittel im Wert von 3,4 Milliarden Schweizer Franken um. Während Apotheker den zunehmenden Verlust an Kundschaft beklagen, steigt die Zahl der Ärzte mit Erlaubnis zur Abgabe von Arzneimitteln stetig an. Allein im Zeitraum von 2000 bis 2002 drängten zu den 3104 selbstdispensierenden Medizinern 803 weitere auf den Markt, während 20 Apotheken schlossen.

Privileg ohne Grundlage

Die Apotheker argumentieren bereits seit Jahren, dass der Hauptgrund für die Selbstdispensation entfallen sei. Hatte der Gesetzgeber 1848 die Versorgung der Landbevölkerung mit Medikamenten durch den Arzt sichern wollen, sei heute beinahe überall und fast rund um die Uhr ein Apothekenservice gegeben. Doch die wenigen Ausnahmen sorgen bis heute für das Privileg der Ärzte, zumindest auf dem Land. In Städten wie Zürich sind die Mediziner hingegen nur im Notfall berechtigt, verschriebene Arzneimittel auch auszugeben.

Bereits in den 90er Jahren zogen diese zur Überraschung der Apotheker vor Gericht, um gegen die Ungleichbehandlung gegenüber ihren Kollegen auf dem Land zu klagen. Das Verwaltungsgericht forderte daraufhin eine Lösung zur Überwindung der Ungleichbehandlung. Der Kantonsrat favorisierte die Idee, medizinischen Praxen die Ausgabe verschriebener Medikamente zu untersagen, sofern sich innerhalb eines Radius von 500 Metern eine Apotheke befand. Im Referendum vom September 2001 sprachen sich jedoch 54 Prozent der Stimmbürger gegen diese Lösung aus. Die Ärzteschaft begrüßte die Ablehnung und legte das Nein des Referendums als Wunsch der Bevölkerung aus, selbst entscheiden zu wollen, wo Medikamente bezogen werden.

In den Folgejahren wurden mehrere Kampagnen organisiert, in denen Ärzte wie Apotheker um die Vor- und Nachteile der Selbstdispensation stritten. Die Mediziner verwiesen unter anderem auf Statistiken der Krankenversicherungen. Danach warteten Gebiete mit ausschließlicher Apothekenversorgung mit den höchsten Kosten für Arzneimittel auf. Als Beispiel wurde der Bezirk Graubünden angeführt, in dem die Kosten nach Abschaffung der Selbstdispensation Jahr für Jahr angestiegen waren. Neben der Beratungsgebühr kritisierten die Mediziner lange Wege zu Apotheken, die gerade für ältere Menschen und Patienten mit Kindern eine Belastung darstellen.

Direkter Draht: Ärzte und Pharmaindustrie

Die Apotheker kritisierten vor allem die unmittelbare Verbindung zwischen verschreibenden Ärzten und der pharmazeutischen Industrie. Im Interesse eines hohen Umsatzes bestünde die Gefahr, dass preiswertere Alternativen auf der Strecke blieben. Ohnehin, so die Apotheker, könnten die Mediziner nicht das breite Spektrum an Arzneimitteln bieten und ebenso wenig die Aufklärung zu alternativen Methoden. Die Selbstdispensation, so die Kritik, bedeute das Aus für viele Apotheken, was wiederum mit weniger Service für Patienten einhergehe.

Als Beispiel wurde der Einzugsbereich Zürich angeführt. Während die Zahl der Arztpraxen im Jahr 2003 um 54 auf 2438 stieg, gab es nur 221 Apotheken, Tendenz fallend. Der Regierungs- und Kantonsrat versuchte den Streit zu schlichten, indem er vorschlug, das Verbot der Selbstdispensation von der Existenz einer 24-Stunden-Apotheke abhängig zu machen. Die Ärzteschaft sammelte daraufhin genügend Stimmen für ein weiteres Referendum in Zürich, in dem gegen den Vorschlag gestimmt werden sollte.

Das erneute Nein der Zürcher Stimmbürger am 30. November 2003 bestärkte die Ärzte in ihrem Bestreben, die uneingeschränkte Medikamentenabgabe zu fordern. Die beteiligten Streitparteien warten nun erneut auf eine Lösung, die nicht zuletzt der Forderung des Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 1998 gerecht werden muss. Die Ärzteschaft verlangt die weitere Liberalisierung des Marktes, während die Apotheker auf den Schutz ihres Berufsstandes durch die Verfassung verweisen. Eine schnelle Lösung erwartet allerdings niemand – nicht nach 156 Jahren Streit.

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