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Giftinfo
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DAZ: Warum wurde der Standort am Helios Klinikum Erfurt gewählt? Gab es hier zu DDR-Zeiten eine ähnliche Institution?
Hentschel: In der DDR war der Toxikologische Auskunftsdienst ursprünglich dezentral an den Instituten für Pharmakologie und Toxikologie organisiert. In den 1970er Jahren habe ich mir da meine ersten Sporen in der Vergiftungsberatung verdient. Mit Inkrafttreten des Giftgesetzes der DDR 1977 wurde der Zentrale Toxikologische Auskunftsdienst in Berlin (Ost) eingerichtet, der auch nach der Wende bis Ende 1993 mit Unterstützung des Bundesgesundheitsamtes (BGA) fortgeführt wurde. Auf der Grundlage einer Konzeption des Freistaates Thüringen verständigten sich dann die vier jetzt beteiligten Bundesländer über die Errichtung eines Gemeinsamen Giftinformationszentrums (GGIZ) mit Standort in Erfurt.
DAZ: Herr Dr. Hentschel, seit Sie das Gemeinsame Giftinformationszentrum leiten, hat sich die Zahl der Anfragen mehr als verdreifacht, der Mitarbeiterstab aber nicht. Im vergangenen Jahr haben Sie fast 20.000 Beratungen durchgeführt. Wie organisieren Ihre Mitarbeiter diese Beratungsleistung rund um die Uhr?
Hentschel: Das Verwaltungsabkommen und damit die personelle Ausstattung des GGIZ orientierten sich am Entwurf einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für den Giftnotruf, die 1992 vom BGA ausgearbeitet wurde. Ursprünglich war hier ein Giftinformationszentrum für ein Einzugsgebiet von ca. zehn Millionen Einwohnern vorgesehen und es wurde von durchschnittlich 40 bis 50 Anfragen pro Tag ausgegangen. Diese Konstellation entspricht ungefähr der derzeitigen Auslastung des GGIZ (Stand 2008: Bevölkerung 10,5 Millionen; durchschnittlich 55 Anfragen pro Tag). Durch ein durchgängiges Drei-Schicht-System des ärztlichen Beratungsdienstes ist der Giftnotruf rund um die Uhr an allen Tagen des Jahres erreichbar. Alle Anfragen werden zeitnah in einer Datenbank elektronisch protokolliert, sodass bei Dienstübergabe ohne Informationsverlust weiter beraten werden kann. Die Ärzte des GGIZ werden im Hintergrund durch eine Apothekerin und einen Chemiker unterstützt. Letzterer betreut auch das Datenbanksystem des GGIZ. Für die technische Stabilität sorgen entsprechende Serviceverträge des GGIZ. Seit 1994 ist alles störungsfrei und trotz eines zwischenzeitlichen Umzugs in neue Räume ohne eine Unterbrechung gelaufen.
DAZ: Teilt man die Kosten des GGIZ durch die Zahl aller Anfragen, ergeben sich durchschnittlich 49 Euro pro Fall. Wenn durch die Beratung die Einweisung in ein Krankenhaus vermieden wird (durchschnittliche Kosten in Thüringen 381 Euro pro Tag), bedeutet dies jeweils eine enorme Kostenersparnis. Wird dieser Fakt von der Politik und den Krankenkassen wahrgenommen oder erhöht sich auch bei Ihnen der Kostendruck?
Hentschel: Bisher hat der Verwaltungsrat stets für eine solide und stabile Haushaltslage des GGIZ gesorgt. Leider fehlt in Deutschland eine rechtliche Regelung, die die eigentlichen Nutznießer an den Kosten der Giftberatung beteiligt. Das sind insbesondere die Gesetzliche Krankenversicherung, die chemische und die pharmazeutische Industrie. Hier ist die Politik in Bund und Ländern gefordert, endlich tragfähige Rahmenbedingungen für alle Giftinformationszentren zu schaffen und den § 16 e des Chemikaliengesetzes zu unterstützen.
DAZ: Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Anrufe ein, bei denen es sich um wirklich schwere Vergiftungsfälle handelt?
Hentschel: Das lässt sich aufgrund der Analyse des Vergiftungsgeschehens für unser Einzugsgebiet ziemlich genau beziffern: Bei Kindern sind es 1% aller Fälle, bei Erwachsenen 10%.
DAZ: Können Sie einschätzen, in welchem Verhältnis die versehentliche zur bewussten Applikation von giftigen Stoffen, beispielsweise in suizidaler Absicht oder als Rauschdroge steht?
Hentschel: Auch hier gibt es zwischen Kindern und Erwachsenen erhebliche Unterschiede. Im Kindesalter handelt es sich fast ausnahmslos um Vergiftungsunfälle, wobei gerade bei Kleinkindern auch die fehlerhafte Verabreichung von Arzneimitteln durch die Eltern einen nicht unerheblichen Anteil ausmacht. Besonders häufig werden Hustentropfen mit Inhalaten verwechselt oder es werden Suppositorien in falscher Dosierung verabreicht. Bei Erwachsenen überwiegen dagegen Vergiftungen mit Arzneimitteln in suizidaler Absicht. Dabei nehmen freiverkäufliche Präparate wie Paracetamol, Ibuprofen, Diphenhydramin und Acetylsalicylsäure eine Spitzenstellung ein. Häufig wird eine Überdosis dieser Mittel in Kombination mit alkoholischen Getränken eingenommen. Der Anteil der Anfragen wegen illegaler Drogen ist – gemessen an der Vielzahl von Arzneimittelintoxikationen – gering.
DAZ: Werden Sie überhaupt kontaktiert, wenn es zu Vergiftungen mit illegalen Rauschdrogen kommt?
Hentschel: Drogennotfälle betreffen in vielen Fällen jugendliche Erstkonsumenten. Hier kann sogar Cannabis zu unliebsamen Überraschungen führen. Wenn aber Ecstasy, Speed und Crystal "eingeworfen" werden und dazu reichlich Alkohol fließt, endet die Party meist in der Notaufnahme. Das Gleiche kann "Psychnauten" passieren, die mit Engelstrompete, Stechapfel und Pilzen "experimentieren". Rausch und Vergiftung gehen ohne scharfe Grenze ineinander über. Gerade in unübersichtlichen Situationen verlassen sich Notärzte und Krankenhäuser dann auf die Erfahrungen der Giftberatung.
DAZ: Kleinkinder sind die größte Risikogruppe für Giftunfälle. Worauf sollten Eltern besonders achten?
Hentschel: Eltern sollten schon beim Kauf der Produkte auf kindersichere Verpackung und Warnhinweise achten. Gefärbte und angenehm duftende Flüssigkeiten sind für Kinder besonders attraktiv. Haushaltprodukte mit Druck-Zug-Verschlüssen oder in Dosenverpackungen sind Gefahrenquellen. Am schlimmsten ist aber die Unsitte des Umfüllens von Resten in Getränkeflaschen, die auch für Erwachsene zum Verhängnis werden können. Giftberater sind keine Hellseher – ohne Kennzeichnung keine zuverlässige Einschätzung der Gefährdung. Arzneimittel gehören grundsätzlich außerhalb der Reichweite von Kinderhänden. Der schönste Blister nützt nichts, wenn die Tagesdosis in der Schiebeschachtel auf dem Küchentisch steht und der Anrufer nicht mehr sagen kann, aus welcher Packung "die kleinen Roten" waren. Beim Kauf von Zimmer- oder Freilandpflanzen sollte immer der deutsche und der botanische (lateinische) Name erfragt und notiert werden. Auch hier kann nur zielgerichtet geholfen werden, wenn die Spezies sicher identifiziert werden kann. Unter Umständen kann dann ein Foto per E-Mail oder eine Faxkopie der Blätter weiterhelfen.
DAZ: Die Haltung exotischer Tiere in Privathaushalten ist in Mode gekommen. Hatten Sie schon Anrufe, weil eine Schlange zugebissen hat?
Hentschel: Seit 1994 insgesamt zwölf Mal. Aber auch Klapperschlangen, Vogelspinnen, Skorpione, Stachelrochen, Feuerfische und viel anders Getier bevölkert inzwischen die Wohnungen, ohne dass sich die Halter der Gefahr bewusst wären. Das GGIZ fordert deshalb für alle Bundesländer ein konsequentes Verbot der Haltung gefährlicher Tiere in privater Hand, so wie es in Hessen bereits umgesetzt wird.
DAZ: Kürzlich berichteten die Medien über gehäufte Vergiftungsfälle bei Kühen durch giftige Kräuter. Wenden sich auch Landwirte an Sie?
Hentschel: Soweit das möglich ist, beraten wir auch Vergiftungsfälle bei Haus- und Nutztieren, da es vonseiten der Veterinärmedizin in Deutschland keinen toxikologischen Beratungsdienst gibt. In diesem Jahr waren es bereits 233 Anfragen. Vor allem Unfälle bei Katzen und Hunden beschäftigen uns fast täglich, aber auch ein Chamäleon, Kühe, Meerschweinchen, ein Papagei, Pferde, Schafe, Ziegen und ein Zwergkaninchen waren in diesem Jahr schon von Vergiftungsunfällen betroffen.
DAZ: Gab es schon einmal eine Anfrage zu einem Giftstoff, von dem Sie noch nie gehört hatten und den auch Ihre Datenbank nicht kannte?
Hentschel: Meist handelt es sich in solchen Fällen nicht um unbekannte Gifte, sondern um Übermittlungsfehler. Mit einem falschen, entstellten oder unvollständigen Namen kann man nichts finden. Zu unserem Leidwesen gibt es auch immer wieder Verständigungsprobleme mit Anrufern, die die deutsche Sprache nicht sicher beherrschen, und das betrifft nicht nur besorgte Mütter und Väter. Manchmal ist aber wirklich kriminalistischer Spürsinn gefragt, um dem Gift auf die Spur zu kommen. Das erfordert Erfahrung und Intuition, die nicht mit dem Lehrbuch erworben werden können.
DAZ: Was wünschen Sie sich für das GGIZ für die nächsten 15 Jahre?
Hentschel: Ein motiviertes und kompetentes Team, in dem jeder Einzelne Generalist und Spezialist gleichermaßen ist und in dem sich jeder auf den anderen hundertprozentig verlassen kann. Das schließt ausdrücklich die Fortsetzung und Weiterentwicklung der erfolgreichen Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kollegen im GIZ Nord in Göttingen ein. Und ich wünsche mir Kontinuität bei der konstruktiven Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der beteiligten Länder, damit das GGIZ wie bisher seine Arbeit auf einer sicheren Basis fortsetzen kann.
DAZ: Herr Dr. Hentschel, vielen Dank für das Gespräch!
LiteraturUnfallort: Haus und Garten Jährlich geschehen in Deutschland über 100.000 Vergiftungsfälle.
sind an der Tagesordnung. So manche Lebensmittelvergiftung endet im Krankenhaus und auch Kröten, Schlangen, Pilze und Beeren können gefährlich werden. Jedes Mal ist schnelle Hilfe gefragt. In diesem Leitfaden erfahren Sie alles zu toxischen Bestandteilen und deren Vergiftungssymptomen. Und Sie erhalten Hinweise über notwendige Gegenmaßnahmen, um im Ernstfall in der Apotheke richtig reagieren zu können! Constanze Schäfer und Brigitte Marschall-Kunz; Gifte und Vergiftungen im Haushalt, Garten, Freizeit für die Kitteltasche. X, 485 Seiten. 35 Euro. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2008. ISBN 978-3-8047-2385-6 Dieses Buch können Sie einfach und schnell bestellen unter der Postadresse: Deutscher Apotheker Verlag Postfach 10 10 61, 70009 Stuttgart oder im Internet unter: www.dav-buchhandlung.de oder per Telefon unter: (07 11) 25 82 - 3 41 oder - 3 42 |
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