Praxis

Wenn Tinnitus und Hörsturz zur Privatsache werden

Eine langjährige Stammkundin legt ein Privatrezept über Trental® Ampullen, Kochsalzlösung und Infusionsbesteck vor und erzählt verärgert, dass der HNO-Arzt ihres Vertrauens nicht nur die Medikamente, sondern auch die Behandlung ihres quälenden Tinnitus privat abrechnen möchte, da die Kosten von der Krankenkasse nicht getragen werden. Der Sachverhalt ist schwer nachvollziehbar. Wieso ein Privatrezept für ein verschreibungspflichtiges Medikament? Eine kommentierende Antwort geben Apothekerinnen vom Zentrum für Sozialpolitik, Bremen.

Tinnitus ist sehr häufig. Etwa jeder Zweite hatte schon einmal kurzfristige Ohrgeräusche, 10 bis 20% leiden längere Zeit darunter. Eine Alters- oder Geschlechtsprädisposition lässt sich nicht feststellen. Männer sind genauso oft betroffen wie Frauen, die meisten sind zwischen 30 und 50 Jahre alt, aber es tritt auch bei Kindern und jungen Erwachsenen auf. Der Auslöser ist nicht eindeutig zu identifizieren. Derartige Ohrgeräusche können nach einer exzessiven Lärmexposition (Disko- oder Konzertbesuch) entstehen, aber auch durch Medikamente (ASS, Chinin: Cave chininhaltige Getränke, Aminoglykosidantibiotika, Erythromycin, Cisplatin, Schleifendiuretika) verursacht werden, als Begleiter einer Erkrankung (Menière-Krankheit, Mittelohrentzündung, Zahn- oder Kieferprobleme) oder aber völlig idiopathisch auftreten.

Ein Tinnitus ist keine Krankheit, sondern ein Symptom und führt nicht zu einer Beeinträchtigung des Hörvermögens. Trotz des störenden Dauergeräusches nehmen die Betroffenen gleiche Geräuschlautstärken (in dB) wie Nichtbetroffene wahr [1 – 3].

Anders ist die Situation bei dem sich plötzlich manifestierenden, meist einseitigen Hörsturz. Das Hörvermögen ist massiv beeinträchtigt, im schlimmsten Fall können Betroffene taub werden. Die Ursache des Hörsturzes ist bis heute nicht eindeutig geklärt. (siehe Beitrag "Der Hörsturz - ein Notfall?"). [1 – 3]

Die Pathophysiologie von Tinnitus und Hörsturz ist unklar. Auf physiologischer Ebene soll sich nach gegenwärtiger Annahme bei beiden das gleiche ereignen. Jahrelang wurde spekuliert, dass die Hörzellen im Innenohr durch z. B. mangelnde Sauerstoffversorgung aufgrund einer Durchblutungsstörung geschädigt werden, und dem Gehirn falsche Signale übermitteln, oder aber komplett absterben und somit das Hörvermögen beeinträchtigen und zum Hörsturz führen. Diese Theorie konnte bis heute nicht bestätigt werden. Gegenwärtige Forschungsergebnisse deuten eher auf Störungen auf neuronaler Ebene hin. Neueste Erkenntnisse machen ein Ungleichgewicht zwischen inhibitorischer und exzitatorischer Transmission im Gehirn für Tinnitus und Hörsturz verantwortlich [4 – 6].

Eine gesicherte medikamentöse Therapie, die reproduzierbare Behandlungserfolge erzielt, existiert weder bei Tinnitus noch bei Hörsturz.

Gegenwärtig ist eine Vielzahl von Therapien im Einsatz, die im Hinblick auf ihre Evidenz als nicht wirksam und nicht geeignet einzustufen sind. In den vielen Studien zu dieser Thematik, die meist wegen gravierender methodischer Unzulänglichkeiten kaum brauchbar sind, konnte kein einziges Arzneimittel einen signifikanten Wirkungsunterschied zu Placebo zeigen [3 – 5, 10, 11].

Die ubiquitär praktizierten Therapiemaßnahmen, die sich aus den hypothetischen Durchblutungsstörungen ergeben, sind nur empirisch belegt. Darunter sind Tinnitusbehandlungen mit Vasodilatanzien (Pentoxifyllin, Naftidrofuryl), Antihistaminika (Betahistin), Calciumantagonisten (Cinnarizin), Ginkgo-biloba-Präparaten, Glucocorticoiden (p.o. oder i.v.), aber auch mit Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin) oder Benzodiazepinen und Antidepressiva zu finden. Beim Hörsturz kommen v. a. hämorheologisch wirksame Infusionen mit Hydroxyethylstärke (HEAS-Steril®), Dextran oder Kochsalz mit oder ohne Zusatz von Vasoaktiva oder Nootropika zum Einsatz.


Was kann helfen?


Sich vor zu lauten Geräuschen zu schützen und den Lärmpegel möglichst zu reduzieren, ist die wichtigste nichtmedikamentöse Maßnahme. Eine gesunde Lebensführung und Entspannungsübungen können hilfreich sein. Bei ca. 70% der Hörsturz-Betroffenen verschwinden in der Regel alle Symptome, bei 90% bessern sich die Beschwerden ohne jegliche Behandlung nach spätestens 4 Wochen. Bei Tinnitus sieht die Lage ähnlich aus. Bei chronischen Ohrgeräuschen sollten Techniken erlernt werden, die es den Betroffenen ermöglichen, besser damit umzugehen. Gute Ergebnisse lassen sich z. B. mit kognitiver Verhaltenstherapie oder Tinnitus-Masker erzielen. [1, 4, 7 – 9]

Viele offene Fragen

Das scheinbare Überangebot an Wirkstoffen wirft viele versicherungsrechtliche, ökonomische und ethische Fragen auf. Aus der fehlenden Evidenz der medikamentösen Behandlung und dem Wirtschaftlichkeitsgebot, dem jede ärztliche Verschreibung unterliegt, resultiert eine Nicht-Verordnungsfähigkeit zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Arzneimittel mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit oder mit negativer Risiko-Nutzen-Bilanz. Die Verordnung durchblutungsfördernder Mittel (Pentoxifyllin, Buflomedil, Naftidrofuryl) ist durch die Arzneimittelrichtlinien (AM-RL, Anlage III Punkt 24) des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeschränkt. Als Ausnahmen sind nur Prostaglandine und Naftidrofuryl bei periphärer arterieller Verschlusskrankheit genannt [14].

Pentoxifyllin (Trental ® ) als Ampullen zur Infusion) kam Anfang der 70er Jahre auf den Markt und damit vor dem Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes von 1978. Es ist lediglich registriert, so dass bisher die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht überprüft wurden [12, 13]. HAES-steril ® ist zwar bei kochleären Durchblutungsstörungen zugelassen, die therapeutische Wirksamkeit bei Tinnitus und Hörsturz konnte aber in Studien nicht ausreichend nachgewiesen werden. Wegen seiner Nebenwirkungen (unbehandelbarer, z. T. irreversibler Juckreiz bei 70% der Behandelten, anaphylaktischer Schock) sollte das Medikament bei Tinnitus und Hörsturz nicht mehr angewendet werden. [15 – 17, 21, 22] Ein weiterer Therapieansatz sind Dextraninfusionen , mit oder ohne Zusatz von durchblutungsfördernden Mitteln (Pentoxifyllin) oder Lokalanästhetika (Procain, Lidocain). Diese sind nach derzeitiger Datenlage der Besserung durch Spontanheilung nicht überlegen. Nebenwirkungen dieser rheologischen Therapie sind häufig (Nierenfunktionsstörungen, allergische Reaktionen), so dass diese weder notwendig noch wirtschaftlich ist [22].

Trental® 400-mg-Tabletten und entsprechende Generika sind für die Indikation durchblutungsbedingter Innenohrfunktionsstörungen zugelassen. Abgesehen davon, dass unklar ist, ob Durchblutungsstörungen die Ursache von Tinnitus und Hörsturz sind, fällt Pentoxifyllin durch schwerwiegende Nebenwirkungen auf: Tachykardie, Verschlechterung einer Angina pectoris, spastische Schmerzen in den Extremitäten [3, 15 – 18, 22]. 600 mg-Tabletten sind für Tinnitus und Hörsturz nicht zugelassen. Gleiches gilt auch für die meisten der Präparate (Glucocorticoide, Calciumantagonisten, Benzodiazepine, Antihistaminika), die versuchsweise eingesetzt wurden. Jede Behandlung mit diesen Mitteln ist ein "Off-label-Use", der keine Kassenleistung darstellt.

Ginkgo-biloba-Arzneimittel tragen zwar die Indikation "Tinnitus und Hörsturz", die Studienlage ist aber ebenso unbefriedigend. Diese Medikamente unterliegen nicht der Verschreibungspflicht und finden sich auf der OTC-Ausnahmeliste (Anlage I AM-RL) nur für die Indikation "Demenz" wieder. Daraus resultiert eine Verordnungsfähigkeit für dieses Krankheitsbild zulasten der GKV, jedoch nicht bei Tinnitus und Hörsturz [3, 17 – 20].

Ein Blick in die Pipeline zeigt, dass die Substanz Neramexan (ein NMDA-Rezeptorantagonist), die gerade die Phase III der klinischen Prüfung durchläuft, eine Therapiemöglichkeit eröffnen könnte. Fünf weitere Wirkstoffe befinden sich in der Phase I bzw. Phase II der klinischen Prüfung. Für die Zukunft bleibt nur zu hoffen und zu fordern, dass die Forschung nach den Ursachen von Tinnitus und Hörsturz nicht aufhört und so in näherer Zukunft eine gezielte evidenzbasierte Behandlung dieser Krankheitsbilder ermöglicht wird [23].

Fazit

Keines der Arzneimittel, die in der Vergangenheit Einzug in der Tinnitus- und Hörsturztherapie gefunden und einen breiten Einsatz genossen haben, konnte nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin eine Wirksamkeit zeigen. Die meisten Präparate sind für diese Indikation nicht zugelassen. Ihre Verordnung hat keinen Nutzen für den Patienten, birgt ein hohes Potenzial für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und ein Regressrisiko für den Arzt.

ApothekerInnen unterliegen bei Verordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung keiner Prüfpflicht, so dass Arzneimittel wie Trental®, Pentoxifyllin-Generika oder Ginkgo-biloba-Präparate ohne Weiteres beliefert werden dürfen.


Literatur

[1]  Hörstörungen und Tinnitus. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 29. Robert Koch Institut, 2006

[2]  Plontke S (2005) Gestörtes Horen – Konservative Verfahren. Laryngo-Rhino-Otol 84 Suppl. 1: 1 – 36

[3]  arznei-telegramm 1997; Nr.8: 83 – 5

[4]  Fornaro M, Martino M (2010) Tinnitus psychopharmacology: A comprehensive review of its pathomechanisms and management. Neuropsychiatr Dis Treat. 2010 Jun 24;6:209 – 18.

[5]  Biesinger E, Heiden C, Greimel V (1998) Strategien in der ambulanten Behandlung des Tinnitus. HNO 1998;46:157 – 169

[6]  Roberts LE, Eggermont JJ, Caspary DM, Shore SE, Melcher JR, Kaltenbach JA (2001) Ringing ears: the neuroscience of tinnitus. BMJ. 2001 Jan 13;322(7278):73

[7]  Martinez-Devesa P, Perera R, Theodoulou M, Waddell A. (2010) Cognitive behavioural therapy for tinnitus. Cochrane Database Syst Rev. 2010 Sep 8;(9):CD005233

[8]  Phillips JS, McFerran D (2010) Tinnitus Retraining Therapy (TRT) for tinnitus. Cochrane Database Syst Rev. 2010 Mar 17;(3):CD007330

[9]  www.gesundheitsinformation.de: Merkblatt: Tinnitus – wenn Ohrgeräusche den Alltag belasten (2009)

[10]  Elgoyhen AB, Langguth B (2010) Pharmacological approaches to the treatment of tinnitus. Drug Discov Today. 2010 Apr;15(7 – 8):300 – 5

[11]  Labus J, Breil J, Stützer H, Michel O (2010) Meta-analysis for the effect of medical therapy vs. placebo on recovery of idiopathic sudden hearing loss. Laryngoscope. 2010 Sep;120(9):1863 – 71

[12]  Cesarone MR, Incandela L, Belcaro G, De Sanctis MT, Nicolaides AN, Griffin M, Geroulakos G, Ramaswami G (2002) Treatment of vascular inner ear disease in vascular patients with pentoxifylline: a controlled, randomized trial. Angiology. 2002 Jan-Feb;53 Suppl 1:S23 – 6.

[13]  www.rote-liste.de

[14]  Arzneimittelrichtlinien: www.g-ba.de/informationen/richtlinien

[15]  Ollenschläger G., Bucher H.: Kompendium evidenzbasierte Medizin, Verlag Hans Huber 2007

[16]  Bopp A., Herbst V.: Stiftung Warentest Handbuch Medikamente, 2010

[17]  Arzneimittelkursbuch 2010/11, Arzneimittel-Verlags-GmbH Berlin 2010

[18]  Reisser CH, Weidauer H (2001) Ginkgo biloba extract EGb 761 or pentoxifylline for the treatment of sudden deafness: a randomized, reference-controlled, double-blind study. Acta Otolaryngol. 2001 Jul;121(5):579 – 84

[19]  Drew S, Davies E (2001) Effectiveness of Ginkgo biloba in treating tinnitus: double blind, placebo controlled trial. BMJ. 2001 Jan 13;322(7278):73

[20]  Hilton M, Stuart E (2004) Ginkgo biloba for tinnitus. Cochrane Database Syst Rev. 2004;(2):CD003852

[21]  Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Hydroxyethylstärke (HES) – Juckreiz (UAW – News – International). Dt Ärzteblatt 2003; 43

[22]  Der Arzneimittelbrief (2004), Ausgabe 12, Seite 89

[23]  Suckfuell M, Jastreboff P, Wirth Y, Krueger H, Goertelmeyer R, Ellers-Lenz B (2009) Neramexane in subjective tinnitus, Otolaryngology – Head and Neck Surgery, Volume 141, Issue 3, 87, 2009


Autoren
Stanislava Dicheva, Dörte Fuchs, Insa Heyde, Heike Peters, Anne Pötz
Apothekerinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der Arbeitsgruppe "Arzneimittelanwendungsforschung", Universität Bremen,
Zentrum für Sozialpolitik, UNICOM-Gebäude
Mary-Somerville-Str. 5, 28359 Bremen



DAZ 2011, Nr. 10, S. 62

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