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Arzneimittel und Therapie
Theoretisch möglich, aber nicht relevant
Wenn sich Interaktionen in der Praxis nicht bestätigen
Die Mehrzahl (60 bis 80%) der zugelassenen Arzneistoffe wird über Cytochrom-P450-Isoenzyme wie CYP3A4 oder CYP2D6 abgebaut. Die Geschwindigkeit, mit der diese Enzyme Arzneistoffe verstoffwechseln, hängt einerseits von pharmakogenetischen Varianten, andererseits von Inhibition oder Induktion des Enzyms durch Komedikation und Nahrungsmittel ab [1]. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen Arzneimittelinteraktionen blander verlaufen, als theoretisch und nach früheren Meldungen erwartet wurde.
Tamoxifen, SSRI und CYP2D6
Tamoxifen ist ein Prodrug, das unter anderem durch mehrere Cytochrom-P450-Enzyme zu verschiedenen aktiven Metaboliten umgewandelt wird. Die Arbeitsgruppe von David Flockhart publizierte 2003 Befunde zu einer um 55% erniedrigten Steady-state-Plasmakonzentration des aktiven Metaboliten Endoxifen (4-Hydroxy-N-Desmethyl-Tamoxifen) unter gleichzeitiger Therapie mit dem selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitor (SSRI) Paroxetin [2], die heftig diskutiert wurden. Schon damals wurde vermutet, dass die Standarddosis von Tamoxifen ausreichend hoch gewählt worden sei, um die pharmakogenetisch oder interaktionsbedingt veränderte Pharmakokinetik zu kompensieren. Denn es muss berücksichtigt werden, dass nicht nur der Metabolit Endoxifen, sondern die Gesamtzahl aller aktiven Metabolite und auch die Muttersubstanz zur Wirkung beitragen [3]. In der Folge wurde in Kohortenstudien versucht, die klinische Konsequenz dieser pharmakokinetisch gut nachvollziehbaren Interaktion zu ergründen. Während die meisten Studien keine Verschlechterung zeigten, konnte eine Studie einen nicht signifikanten Trend zu erhöhter Mortalität [4] und eine weitere Studie eine statistisch signifikante Verschlechterung unter Paroxetin (Number needed to harm [NNH]: 20) identifizieren [5]. Die aktuelle Publikation von Donneyon et al. (siehe Bericht S. 38), die deutlich größere Kohorten (n = 13.542) verfolgt, konnte für die SSRI-Gruppe Paroxetin oder Fluoxetin keinen Einfluss nachweisen [6]. Die Autoren vermuten, dass die Normaldosis von Tamoxifen schon so hoch sei und selbst bei schwacher CYP2D6-Aktivität eine ausreichende Menge von Wirksubstanz gebildet wird, wie initial postuliert [3]. Unterschiede zu anderen Studien sind beispielsweise die Altersstruktur, die Wahl des Endpunkts (studienbedingt kann nur die Gesamtmortalität erfasst werden) und die fehlende Differenzierung zwischen den einzelnen SSRIs im primären Endpunkt. Für die zusätzlich durchgeführten Sensitivitätsanalysen, bei denen Paroxetin und Fluoxetin auch getrennt betrachtet werden sollten, wurden sämtlichen anderen SSRI als Vergleichsgruppe gegenübergestellt. Ob das Ergebnis geeignet ist, einen Unterschied zwischen Paroxetin oder Fluoxetin und keinem SSRI zu erfassen, beibt unklar. Zusammenfassend überwiegen die klinischen Befunde, die die Interaktion als irrelevant erscheinen lassen.
Clopidogrel und CYP2C19
Clopidogrel ist ein Prodrug, das durch CYP2C19 aktiviert wird. CYP2C19 wird schwach von Omeprazol gehemmt, was zu der Empfehlung führte, beide niemals gemeinsam einzunehmen [7]. Widersprüchliche Studienergebnisse zu dieser möglicherweise relevanten Interaktion wurden mit pharmakogenetischen Einflüssen auf die eigentliche Interaktion erklärt [8]. Was „im Feld“ passiert, kann am ehesten mit der Analyse von Pharmakovigilanzdaten abgeschätzt werden, da hier die Arzneimitteltherapie am ehrlichsten abgebildet wird: Eine unselektierte Population, etwaige Medikationsfehler und andere Anwendungsprobleme werden in den Daten mit erfasst. Durch den Vergleich von erwarteten und beobachteten Fallzahlen können Signale für Nebenwirkungen wie Arzneimittelinteraktionen generiert werden [9]. Gibt es dort Hinweise auf eine Interaktion von Clopidogrel und Omeprazol? In den amerikanischen FDA-Daten ist „myocardial infarction“ unter der Kombination mit ca. 6,2% vertreten – bei Clopidogrel allein hingegen mit 7,3% (OpenVigilFDA 1.0.2, extrahiert am 13.10.2016). Eine Risikozunahme ist in dieser Quelle nicht zu erkennen – man könnte sogar paradoxerweise über einen kardial protektiven Effekt durch die zusätzliche Omeprazol-Gabe spekulieren.
Haloperidol und Citalopram
Haloperidol und Citalopram verlängern beide die QT-Zeit und können theoretisch im Extremfall fatales Kammerflimmern auslösen. Die theoretische Pharmakologie fordert hier, wie im oberen Beispiel, Kombinationen von QT-Zeit-verlängernden Medikamenten zu unterlassen. Interessanterweise wurden in den analysierten Daten weniger Probleme (z. B. Herzstillstand) unter der Kombination gemeldet als erwartet [10]. Dieses Phänomen könnte durch verstärktes Monitoring von Patienten mit dieser Kombination und damit frühzeitiger Medikationsveränderung bei QT-Veränderung erklärt werden – Hinweise für eine solcherlei erhöhte Vigilanz konnten wir aber bislang im Krankenhausalltag nicht beobachten. Es ist wahrscheinlicher, dass beide Medikamente tatsächlich nicht additiv die QT-Zeit verlängern.
Hypersensitivität durch ACE-Hemmer
ACE-Hemmer wie Ramipril hemmen den Abbau von Bradykinin, das Entzündungsreaktionen vermittelt. Es wird für den unter ACE-Hemmern auftretenden Reizhusten verantwortlich gemacht und soll zudem auch an allergischen Reaktionen bis hin zu einem Hypersensitivitätssyndrom beteiligt sein. Allopurinol kann ebenfalls ein Hypersensitivitätssyndrom (Allopurinol Hypersensitivy Syndrome, AHS) auslösen.Theoretisch sind nun bei gleichzeitiger Behandlung mit einem ACE-Hemmer und Allopurinol ein häufigeres Auftreten und auch eine fatale Verstärkung des AHS vorstellbar [11]. Tatsächlich gibt es zwei Fallberichte zu Hypersensitivitäts-bedingten Todesfällen unter dieser Kombination. Hat die warnende Pharmakovigilanz also Recht? Angesichts millionenfacher Abgaben dieser Kombination in Apotheken müssten beim Vorliegen einer tatsächlich relevanten Interaktion deutlich mehr Zwischenfälle aufgetreten sein.
Wann wird entwarnt?
Diese Beispiele zeigen alle die Diskrepanz zwischen theoretischer Überlegung und praktischem Outcome. Wann die Entwarnungen Arzt und Apotheker offiziell erreichen, bleibt abzuwarten: Die vorhandenen Interaktionsdatenbanken wie drugs.com und ABDATA nehmen zwar schnell Warnungen auf, tun sich aber schwer damit, Warnungen wieder zu streichen. Grund dürfte die Angst vor rechtlichen Konsequenzen sein, falls eine Interaktion dann doch auftritt. Als überfällig, aber auch mutig darf daher zum Beispiel der Schritt von MediQ bewertet werden, die Interaktion zwischen Bisoprolol und Clarithromycin in der Relevanz herunterzustufen – wie klinische Pharmazeuten es schon seit Jahren fordern. Physiologically-based pharmacokinetic modelling (PBPK) versucht, Modelle für Voraussagen für Induktions- und Inhibitionseffekte zu entwerfen. Diese Voraussagen müssen wiederum ein Pharmakokinetik-Pharmakodynamik-Modelling (PKPD) durchlaufen. Beide Voraussage-Algorithmen haben in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Sie müssen aber stetig an neu generierte experimentelleund ggf. klinische Daten angepasst werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit von Pharmakovigilanz, Anwendungsbeobachtungen und klinischen Studien. Der menschliche Körper ist für unser gegenwärtiges Wissen noch viel zu komplex, als dass wir exakte Voraussagen für Sachverhalte treffen können, die man nicht direkt experimentell untersucht hat. Oder auch: Theoretisch gibt es zwischen Theorie und Praxis keinen Unterschied, praktisch aber schon! |
Quellen
[1] Böhm R, et al. DAZ 2012, Nr. 36, S. 64–74
[2] Stearns V, et al. J Natl Cancer Inst 2003;95(23):1758-1764
[3] Stearns V, et al. Journal of the National Cancer Institute 2004;96(11):884-885
[4] Chubak J, et al. Cancer Causes Control 2016;27:125-136
[5] Kelly CM, et al. BMJ 2010;340:c693
[6] Donneyong MM, et al. BMJ 2016;354:i5014
[7] Reinecke K, et al. DAZ 2014, Nr. 30, S. 48
[8] Depta JP, et al. The Pharmacogenomics Journal 2015;15:20-25
[9] Böhm R, et al. PLoS ONE 11(6): e0157753; doi:10.1371/journal.pone.0157753
[10] Böhm R, Herdegen T. Using the OpenVigil FDA pharmacovigilance tool to screen for new drug-drug-interactions among neuro- and psychotropic drugs. Poster at Kiel Neuroscience Day 2016
[11] Böhm R, Cascorbi I. Front Pharmacol 2016;7; doi: 10.3389/fphar.2016.00396
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