Arzneimittel und Therapie

Profitieren Krebspatienten von NOAK?

Ein besonderer Drahtseilakt zwischen Thromboembolien und Blutungen

Krebspatienten haben ein besonderes Risiko für venöse Thromboembolien. Diese sind im Allgemeinen mit einer erhöhten Morbidität und Sterblichkeit verbunden und können eine Unterbrechung der lebenswichtigen Krebstherapie erforderlich machen. Ob und bei welchen Patienten eine Thromboembolieprophylaxe sinnvoll ist, ist unklar. Auch zwei aktuelle Studien zum Einsatz von nicht-Vit­amin-K-abhängigen Antikoagulanzien (NOAK) bei ambulanten Hochrisikopatienten liefern widersprüchliche Ergebnisse.

Etliche Krebspatienten entwickeln im Laufe ihrer Erkrankung eine tiefe Beinvenenthrombose oder eine Lun­gen­embolie. Eine routinemäßig ein­gesetzte medikamentöse Thromboseprophylaxe kann jedoch zu unverhältnismäßig häufigen Blutungskomplikationen führen. Auf Grundlage bisheriger Daten empfehlen diverse internationale Richtlinien daher, eine Thrombose­prophylaxe für onkologische Patienten nur dann in Betracht zu ziehen, wenn eine Hochrisikokonstellation vorliegt. Um solche Hochrisikopatienten zu identifizieren, sind verschiedene Strategien vorgeschlagen worden. Diese berücksichtigen spezielle Tumorarten, Chemotherapieschemata oder prognostische Scores wie z. B. den Khorana-Score (s. Kasten „Bestimmung des Thromboembolierisikos“).

Bestimmung des Thrombo­embolierisikos

Der Khorana-Score ist ein Algorithmus zur Einschätzung des individuellen Risikos einer Thromboembolie bei Krebspatienten. Der Score bewegt sich zwischen 0 und 6, wobei höhere Zahlen ein höheres Risiko für venöse Thromboembolien bedeuten (0: geringes Risiko, 1 bis 2: mittleres Risiko, ≥ 3: hohes Risiko). Der relativ einfach zu kalkulierende und weltweit genutzte Score ist im Jahr 2008 von Dr. Alok Khorana, Cleveland Clinic Cancer Center, USA, eingeführt worden. Berücksichtigt werden die Art des Tumors, hämatologische Kenngrößen wie Hämoglobin-Spiegel, Anzahl der weißen Blutkörperchen und Thrombozytenzahl sowie der Body-Mass-Index. Seit seiner Einführung ist der Score in verschiedenen Ländern mehrfach validiert worden.

Zwei Forschungsgruppen haben unabhängig voneinander in multi­zentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudien den Effekt von nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulanzien (NOAK) bei ambulanten Krebspatienten mit mittlerem bis hohem Risiko für venöse Thromboembolien analysiert.

AVERT-Studie

Ziel der Studie „Apixaban for the prevention of venous thromboembolism in high-risk ambulatory cancer patients“ (AVERT) war es, die Wirksamkeit und Sicherheit des Faktor-Xa-Inhibitors Apixaban (Eliquis®) bei Krebspatienten (Khorana-Score ≥ 2) zu untersuchen, die mit einer Chemotherapie beginnen [1]. Die Studienteilnehmer wurden zwei Gruppen zugeteilt und erhielten entweder zweimal täglich 2,5 mg Apixaban oder Placebo. Primärer Endpunkt für die Wirksamkeitsanalyse war eine objektiv dokumentierte venöse Thromboembolie (tiefe Beinvenenthrombose oder Lungenembolie) innerhalb der ersten 180 Tage (± drei Tage) nach Randomisierung. Endpunkt der Sicherheits­analyse war ein schwerwiegendes Blutungsereignis. Klinisch relevante aber nicht schwerwiegende Blutungen und das Gesamtüberleben während des gesamten Studienzeitraumes waren sekundäre Endpunkte.

Von 574 randomisierten Patienten sind 563 in die modifizierte Intent-to-treat (ITT)-Analyse eingegangen, in der alle Studienteilnehmer berücksichtigt wurden, die mindestens eine Dosis der Studienmedikation erhalten hatten.

Insgesamt wurde in der Apixaban-Gruppe eine signifikant niedrigere Inzidenz an venösen Thromboembolien gefunden als in der Placebo-Gruppe, allerdings auch eine höhere Inzidenz an schweren Blutungsereignissen. Eine venöse Thromboembolie trat in der Apixaban-Gruppe bei zwölf von 288 Patienten (4,2%) auf. In der Placebo-Gruppe waren 28 von 275 Patienten (10,2%) betroffen. Das Risiko für eine venöse Thromboembolie war in der Apixaban-Gruppe somit mehr als halbiert (Hazard Ratio [HR] 0,41; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,26 bis 0,65). Wenn nur die tatsächliche Behandlungsphase betrachtet wurde, war der Unterschied zwischen den Gruppen noch deutlicher: So trat der primäre Endpunkt während der Behandlung mit Apixaban bei drei der 288 Patienten (1,0%) ein, unter Placebo erlitten 20 der 275 Patienten (7,3%) eine venöse Thromboembolie (HR 0,14; 95%-KI 0,05 bis 0,42).

Die Zahl schwerwiegender Blutungen war in der Apixaban-Gruppe mit zehn betroffenen Patienten (3,5%) insgesamt jedoch doppelt so hoch wie in der Placebo-Gruppe (1,8%) (HR 2,00; 95%-KI 1,01 bis 3,95). Wurden lediglich Blutungen betrachtet, die sich unter der Einnahme der Studienmedikation ereigneten, so war der Unterschied zwischen den Gruppen nicht signifikant: Unter Apixaban traten sechs schwerwiegende Blutungen (2,1%) auf, unter Placebo drei (1,1%) (HR 1,89; 95%-KI 0,39 bis 9,24).

In Bezug auf die Gesamtsterblichkeit wurde kein Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen festgestellt (HR 1,29; 95%-KI 0,98 bis 1,71).

CASSINI-Studie

In einer zeitgleich, in derselben Fachzeitschrift veröffentlichten Studie ist der Effekt des Faktor-Xa-Inhibitors Rivaroxaban (Xarelto®) analysiert worden [2]. An 143 Zentren in elf Ländern wurden Krebspatienten (Khorana-Score ≥ 2) mit verschiedenen soliden Tumoren oder einem Lymphom in die sogenannte CASSINI-Studie eingeschlossenen. Eine Gruppe erhielt einmal täglich 10 mg Rivaroxaban, die andere Gruppe erhielt Placebo.

Die ITT-Analyse, in die alle 841 randomisierten Patienten eingeschlossen wurden – unabhängig davon, ob sie jemals Studienmedikation bekommen hatten oder nicht –, zeigte keinen signifikanten Unterschied zwischen der Riva­roxaban- und der Placebo-Gruppe: Innerhalb des Studienzeitraumes von 180 Tagen erlitten von 420 Patienten in der Rivaroxaban-Gruppe 25 Patienten (6,0%) ein thromboembolisches Ereignis. Demgegenüber standen 37 von 421 Patienten (8,8%) in der Placebo-Gruppe (HR 0,66; 95%-KI 0,40 bis 1,09).

In einer auf dem Interventionszeitraum – der Periode zwischen der ersten und der letzten Einnahme der Studienmedikation plus zwei Tage – basierenden Analyse wurde ein thromboembolisches Ereignis bei elf Patienten (2,6%) in der Rivaroxaban-Gruppe und bei 27 Patienten (6,4%) in der Placebo-Gruppe registriert (HR 0,40; 95%-KI 0,20 bis 0,80). Diese Per-Protokoll-Analyse ergab, dass die Inzidenz venöser Thromboembolien während der Behandlung mit dem oralen Antikoagulans niedriger war als unter Placebo.

Hinsichtlich schwerer Blutungen wurde ein numerischer Unterschied zwischen den Studiengruppen festgestellt, der allerdings nicht signifikant war: In der Rivaroxaban-Gruppe kam es bei acht Patienten (2,0%) zu einer schweren Blutung, in der Placebo-Gruppe waren vier Patienten (1,0%) betroffen (HR 1,96; 95%-KI 0,59 bis 6,49).

In der Gesamtmortalität unterschieden sich die Behandlungsgruppen nicht (HR 0,83; 95%-KI 0,62 bis 1,11).

Die Studienautoren kommen zu dem Schluss, dass der Nutzen einer Therapie mit Rivaroxaban bei Krebspatienten mit hohem Thromboserisiko mit dieser Studie allein nicht etabliert werden kann.

Foto: C. Schüßler – stock.adobe.com

Beide Studien zusammengefasst

In einem Editorial zu den beiden Studien wurden die Daten von AVERT und CASSINI durch eine kumulative Analyse zusammengefasst [3]. In der Gesamtschau bezeichnet Giancarlo Agnelli, der Autor des Editorials, die Behandlung ambulanter Krebspatienten mit NOAK als wirksam und sicher. So gehe der signifikante Nutzen direkter oraler Antikoagulanzien bei der Prävention venöser Thromboembolien bei ambulanten Krebspatienten mit einer geringen Inzidenz an schwerwiegenden Blutungen einher. Die Ergebnisse hinsichtlich der Blutungen seien ermutigend, so Agnelli, insbesondere im Hinblick auf die erhöhte Blutungsinzidenz, die in anderen Studien bei internistischen Patienten ohne Krebserkrankung mit Apixaban und Rivaroxaban berichtet wurden.

Darüber hinaus zeigten die vereinten Daten der AVERT- und der CASSINI-Studie keinen signifikanten Unterschied in der Sterblichkeit zwischen Patienten, die ein NOAK erhielten, und denjenigen, die ein Placebo bekamen.

Dennoch gibt es einige Einschränkungen, die es zu berücksichtigen gilt. Häufige Krebsarten, wie Brust- und Prostatakrebs sowie das kolorektale Karzinom sind in beiden Studien unterrepräsentiert. Darüber hinaus ist der Khorana-Score, auf dem die Studien beruhen, nicht für alle Krebsarten gleichermaßen aussagekräftig. Zudem geht das Chemotherapieschema nicht in den Score mit ein. Auch war die Anzahl der Patienten, die die Studienmedikation gemäß Prüfplan über den vorgesehenen Behandlungszeitraum eingenommen hatten, relativ gering.

Fazit

Die Behandlung von Krebspatienten ist komplex und muss an die individuelle Situation angepasst werden. In Bezug auf die Thromboembolieprophylaxe mit NOAK bleiben noch viele Fragen offen, wie Professor Sylvia Haas in ihrem Kommentar auf S. 38 erläutert. Um das Risiko von lebensgefährlichen Thromboembolien bei Krebspatienten zu minimieren, sollten weiter­gehende Studien zur Thromboseprophylaxe unter Berücksichtigung therapiespezifischer und individueller Faktoren wie Mobilität bzw. Immobilität des Patienten, Art und Stadium der Krebserkrankung, Therapieschema etc. durchgeführt werden. |

Quelle

[1] Carrier M et al. Apixaban to prevent venous thromboembolism in patients with cancer. N Engl J Med 2019;380(8):711-719

[2] Khorana AA et al. Rivaroxaban for thromboprophylaxis in high-risk ambulatory patients with cancer. N Engl J Med 2019;380(8):720-728

[3] Agnelli G. Direct oral anticoagulants for thromboprophylaxis in ambulatory patients with cancer. N Engl J Med 2019;380(9):781-783

Apothekerin Dr. Daniela Leopoldt

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