Klinische Pharmazie

Patienten schnittstellen­übergreifend betreuen

Zuwachs für die Leipziger Klinische Pharmazie

mp | An der Universität Leipzig ist dank der Integration der Pharmazie in die Medizinische Fakultät das Bangen um den Erhalt des Studien­standortes einer patientennahen Lehre für werdende Apotheker ­gewichen. Nun wurden zwei neue Stiftungsstellen geschaffen. Diese sollen den eingeschlagenen Weg der Klinischen Pharmazie weiter stärken.
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Die Pharmazie an der Universität Leipzig hat sich vom Wackelkandidaten zum Branchenprimus entwickelt. Noch bis 2016 sägten Sachsens Sparmaßnahmen am einzigen Institut, das im östlichsten Bundesland Deutschlands Apotheker ausbildet. Auch eine vertiefte Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurde für längere Zeit diskutiert. Die Unsicherheit belastete nicht nur Studierende und Mitarbeiter des Instituts. Auch Sachsens Apotheker sahen in der Schließung ihrer lokalen Ausbildungsstätte den verhängnisvollen Tropfen, der das Fass des Personalmangel-Problems zum Überlaufen bringen würde. Im Rahmen einer Demonstration besetzten am 28. April 2016 rund 60 aufgebrachte Pharmaziestudierende die Räumlichkeiten von Beate Schücking, der damals wie heute amtierenden ­Rektorin der Universität Leipzig. Nun konnte sich der Standort in der Stadt, in der unter anderem schon Theodor Fontane den Apothekerberuf ausübte, durch den Aufbau eines wegbereitenden Modells halten: vormals noch Teil der Fakultät für Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie, wurde das Institut für Pharmazie nun an die Medizinische Fakultät angegliedert. Die verstärkt patientenorientierte Ausbildung der Pharmazie gemeinsam mit der Medizin ist in dieser Form einzigartig und soll bundesweit Maßstäbe für die engere Zusammenarbeit zwischen Apothekern und Ärzten setzen. Den Grundstein für eine geförderte Kollabo­ration unter den Heilberufen schaffte die Gründung des Zentrums für Arzneimittelsicherheit (ZAMS) 2015. Es bildet eine interdisziplinäre Plattform zur Prävention arzneimittelbezogener Probleme. Dabei sollen wissenschaft­liche Forschungsprojekte mit der praktischen Umsetzung im Alltag Hand in Hand gehen. Beim ZAMS wird die Leitung der Krankenversorgung von Dr. Yvonne Remane, Direktorin der Klinikapotheke des Universitätsklinikums Leipzig übernommen, während Prof. Dr. Thilo Bertsche, Leiter der Klinischen Pharmazie der Universität Leipzig, die Forschungsdirektion stellt. Aktuell wird der Erfolg der jüngsten Entwicklungen noch stärker unterstützt: In einer Presseinformation der Sächsischen Landesapothekerkammer vom 27. Februar 2020 wurde bekannt gegeben, dass für die Klinische Pharmazie Drittmittel für zwei Stiftungsstellen akquiriert werden konnten. Die Fördermittel, die durch die Sächsische Landesapothekerkammer, den Sächsischen Apothekerverband und die AOK Plus bereitgestellt werden, belaufen sich auf 150.000 Euro jährlich, befristet für fünf Jahre. Einerseits wird eine Stelle für den Bereich Geriatrische Pharmazie geschaffen, die Dr. Susanne Schiek leiten wird. Zusätzlich wird der Bereich Pädiatrische Pharmazie von Dr. Martina Neininger ausgebaut. Beide Wissenschaftlerinnen waren zuvor bereits an der Universität Leipzig in den Bereichen Klinische Pharmazie und Pharmakologie tätig. Noch immer fristet die Klinische Pharmazie an vielen deutschen Hochschulen ein unberechtigtes Schattendasein: Vollzeitprofessuren etablieren sich nur mühsam auf einem flächendeckenden Niveau. Der Ruf nach einer Novellierung der Approbationsordnung wurde unter anderem laut, da angehende Apotheker im Studium nicht genügend auf ihren Berufsalltag vorbereitet wurden (DAZ 2019, Nr. 39, S. 68, 74). Der Ausbau in Leipzig unterstützt eben die Forschungsdisziplin, die sich der Professionalisierung patientenzentrierter pharmazeutischer Dienstleistungen annimmt. Auch der gebürtige Leipziger Friedemann Schmidt, Präsident der ABDA und der Sächsischen Landesapothekerkammer (SLAK), freut sich über die Entwicklungen in der Klinischen Pharmazie. Als besonders positiv erachtet er, dass neben den Aspekten der Forschung auch die Kollegen und Kolleginnen in der öffentlichen Apo­theke von den neuen Projekten profi­tieren werden.

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Prof. Dr. Thilo Bertsche ist Leiter der Klinischen Pharmazie und seit 2017 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazie an der Universität Leipzig.

Im nachfolgenden Interview mit der DAZ erklären Professor Dr. Thilo Bertsche, Dr. Martina Neininger und Dr. Susanne Schiek, was die neuen Fördermittel bewirken und welche Auswirkungen für Studierende des „Innovationsstudienganges Pharmazie in der Medizin mit Leuchtturmcharakter“ (so die SLAK) spürbar werden.

DAZ: Was erhoffen Sie sich durch die Stiftungsstellen, und wieso fiel die Wahl auf die pädiatrische und die geriatrische Pharmazie?

Bertsche: Im Sinne der Stiftungsgeber sollen die Stellen für patientenorientierte Fragestellungen zur Verbesserung der Patientensicherheit mit Fokus auf die Arzneimitteltherapie eingesetzt werden. Ziel ist es, die beiden auf diesem Gebiet ausgewiesenen Nachwuchswissenschaftlerinnen Dr. Martina Neininger und Dr. Susanne Schiek weiter wissenschaftlich zu qualifizieren und zur Habilitation zu führen. Potenzial in der Forschung sehen wir unter anderem in den Problemen einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung, die auch elektronische Ansätze und solche der Telemedizin mit einschließt. Wir wollen uns auf vulnerable Patientengruppen fokussieren, die von unseren Konzepten zur Optimierung besonders profitieren ‒ daher die Bereiche pädiatrische und geriatrische Pharmazie. Auf beiden Gebieten bestehen intensive Kontakte zu den medizinischen Fachrichtungen, die für künftige Ideen genutzt werden können und sollen.

Neininger: Bei der Erforschung von Konzepten zur Arzneimittelsicherheit und -versorgung berücksichtigen wir auch die Anwendbarkeit in der Routineversorgung. Das beste Konzept nützt nichts, wenn es in der Praxis nicht umgesetzt werden kann. In der Lehre sollen wichtige Akzente gesetzt werden, um die Studierenden besser auf Herausforderungen wie das Medikationsmanagement oder eine patientenorientierte Beratung vorzubereiten.

EVInews – die Entstehungsgeschichte eines Newsletters

EVInews stellt seit 2017 praxisrelevante Studienergebnisse zu evidenzbasierter Selbstmedikation in Form eines Newsletters zur Verfügung. Die Plattform entstand nach einem Beschluss des Apothekertages 2014, ein Informationssystem zur evidenzbasierten Selbstmedikation einzuführen. Die treibenden Kräfte, die die Realisierung eines solchen Systems forderten, waren unter anderem die Berliner Apothekerin Dr. Kerstin Kemmritz sowie der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP). Die Antragsteller kritisierten die Umsetzung der Forderungen: Die ABDA hätte entgegen der Forderungen keine allumfassende Datenbank etabliert, die Apothekern einfachen Zugang zu den Studiendaten zur Selbstmedikation ermöglicht. Mit EVInews wäre zwar ein gut gemachter Newsletter geschaffen worden, dieser sei jedoch lediglich als ein kostenloses Fortbildungsprojekt anzusehen. Anfang März 2020 wurde bekanntgegeben, dass die Förderung des Newsletters um weitere drei Jahre verlängert wurde. In der neuen Projektphase sollen Beratungsroutinen im Apothekenalltag analysiert werden. Die redaktionellen Inhalte von EVInews werden durch die Abteilung für Klinische Pharmazie der Universität Leipzig sowie dem Zentrum für Arzneimittelsicherheit (ZAMS) der Universität und dem Universitätsklinikum Leipzig erarbeitet.

DAZ: Werden neue Pilotprojekte ihren Schwerpunkt auf die Krankenhauspharmazie oder auf öffentliche Apotheken legen?

Bertsche: Wir sind bereits seit Jahren mit Forschungsprojekten in verschiedenen Kliniken und im ambulanten Sektor engagiert. Das schließt auch Patienten in Einrichtungen der Langzeitpflege mit ein. Dabei bedarf es auch einer engen Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten ‒ insbesondere Hausärzten. Mit EVInews haben wir ein Projekt speziell für die Kollegen in der öffentlichen Apotheke bundesweit aufgebaut, das nun fortgeführt wird. Uns geht es darum, die Betreuung der Patienten möglichst schnittstellenübergreifend anzugehen. Wichtig ist uns auch, dass wir arzneimittelbezogene Probleme strukturiert identifizieren und patienten- und qualitätsrelevante Parameter durch geeignete klinisch-pharmazeutische Strategien nachhaltig verbessern.

DAZ: Welche Forschungsschwerpunkte sollen in der pädiatrischen sowie geriatrischen Pharmazie gesetzt werden?

Neininger: Beim Thema „Pädiatrische Patienten“ fallen oft Stichworte wie „Dosisanpassung“ oder „off-label-use“. Doch ein großes Problem sehen wir auch im Bereich der Arzneimittelanwendung. Oft fehlen geeignete Darreichungsformen, oder die vorhandenen Arzneimittel sind weitaus kom­plexer in der Anwendung als das ­Schlucken von Tabletten. Wir möchten Konzepte entwickeln, um Eltern und andere Betreuungspersonen wie Lehrer und Erzieher optimal zu unterstützen. Zudem sollen die Bedürfnisse und Perspektiven der Kinder und Jugendlichen in Bezug auf die Arzneimitteltherapie erforscht werden, um die Therapie bedarfsgerechter gestalten zu können.

Schiek: Geriatrische und multimorbide Patienten stellen sowohl Apothekerinnen und Apotheker als auch das gesamte Behandlungsteam vor große Herausforderungen. Die Therapie ist aufgrund der Vielzahl von Erkrankungen hochkomplex. Sie leiden unter vielen Symptomen. Häufig ist unklar, in welchem Umfang Arzneimittel die Ursache sind. Diese Patienten sind vulnerabel für die Auswirkungen möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen und Therapieumstellungen. All das muss man nicht nur beim Medikationsmanagement, sondern auch bei der alltäglichen Beratung in der Apotheke berücksichtigen. Außerdem sind geriatrische Patienten in interdisziplinären Versorgungstrukturen nicht immer optimal eingebunden, sodass viele Symptome unbehandelt und arzneimittelbezogene Probleme ungelöst bleiben. Mit unseren Forschungsprojekten widmen wir uns diesen Herausforderungen. Wir wollen das Potenzial der Apotheken im interdisziplinären Behandlungsteam sichtbar machen und die kompetenz­orientierte Ausbildung der Pharmaziestudierenden in unsere Forschung einbinden.

Dr. Susanne Schiek wird den Bereich Geriatrische Pharmazie leiten.

DAZ: Inwiefern sind wissenschaftliche Untersuchungen zu patientenindividueller Medizin oder auch zu technischen und infrastrukturellen Änderungen geplant, wie etwa zur Telemedizin?

Schiek: Patientenindividuelle Aspekte wie die Dosisindividualisierung bei eingeschränkter Nierenfunktion oder die Dosisanpassung bei Kindern und geriatrischen Patienten waren bereits Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchungen. Mit diesen Themen werden wir uns auch künftig befassen. Zudem beschäftigen wir uns gemeinsam mit Medizininformatikern und Allgemeinmedizinern mit elektronischen Lösungen zum Management von unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Die Digitalisierung spielt auch in Schulungen und in der Lehre eine immer größere Rolle. Durch eine Förderung wurde uns gerade ermöglicht, digitale Elemente und Videos für Lehrveranstaltungen zu entwickeln. Diese Erfahrungen wollen wir auch für unsere Forschungsprojekte nutzen.

Dr. Martina P. Neininger wird den Bereich Pädiatrische Pharmazie leiten.

DAZ: Erachten Sie die eingeplanten Fördergelder von 150.000 Euro pro Jahr für angemessen, um die geplanten Projekte umzusetzen?

Neininger: Wir freuen uns sehr über die Unterstützung, die wir erfahren. Mit dem zur Verfügung gestellten Geld haben wir für die nächsten Jahre eine gewisse Planungssicherheit und können Forschungsprojekte fortführen. Allerdings können wir die Arbeit nicht alleine machen, sodass wir zusätzlich Gelder für Doktorandinnen, Doktoranden, Diplomandinnen, Diplomanden und Sachmittel einwerben müssen. Zudem ist derzeit nicht absehbar, wie es nach dem Förderzeitraum von fünf Jahren weitergehen wird. Wir wünschen uns, dass wir die Strukturen, die wir jetzt ausbauen, auch fortführen können.

DAZ: Wie gestalten sich schon jetzt innovative Formen des Pharmazie­studiums durch die Kooperation mit der Medizin in Leipzig?

Bertsche: Wie auch in den medizinischen Fächern sollte es selbstverständlich sein, dass sich Studierende an patientenbezogenen Forschungsvorhaben beteiligen können. Dies gilt in besonderem Maße für das Wahlpflichtpraktikum Klinische Pharmazie. Hier arbeiten die Studierenden bereits heute mit Ärzten, Medizinstudierenden und Pflegekräften zusammen. Weiterhin binden wir die ärztliche Perspektive in Lehrveranstaltungen ein. Dazu bieten wir freiwillige Visitenteilnahmen an. Andererseits bringt sich die Klinische Pharmazie mit einer Veranstaltung zur Arzneimitteltherapiesicherheit in die Lehre der Mediziner ein. In bestimmten Themen bilden Mediziner und Pharmazeuten auch Tandems bei Promotions- oder Diplomarbeiten.

Schiek: Vor zwei Jahren haben wir im achten Semester das Praktikum Medikationsmanagement eingeführt. Hier lernen die Studierenden anhand komplexer Patientenfälle, arzneimittelbezogene Probleme zu finden, einzuschätzen und Lösungen zu entwickeln. Damit können sie ihr pharmazeutisches Wissen in realitätsnahen Fällen anwenden und wichtige Berufskompetenzen erlernen. Im vergangenen Semester haben wir auch unsere „Übungsapo­theke“ didaktisch neu ausgerichtet. Das Format bieten wir schon viele Jahre für das siebte Semester an. Nun üben die Studierenden bereits im fünften Semester Beratungsgespräche mit Simulationspatienten. Sie beschäftigen sich nicht nur fachlich mit Themen der Selbstmedikation und Leitlinien der Bundesapothekerkammer, sondern lernen auch, auf individuelle Patienten­anliegen zu reagieren. Sie lernen, sich gegenseitig Feedback zu geben und die eigene Beratung zu reflektieren. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass die Beratung im geschützten Raum regelmäßig geübt werden und damit auch fachliches Wissen zu diversen Indikationen praktisch vermittelt werden kann. Die Rückmeldung der Studierenden zur Veranstaltung ist durchweg positiv.

DAZ: Wie konnten Sie die „Übungs­apotheke“ etablieren? Welche weiteren Mittel werden nötig sein?

Schiek: Ermöglicht wurde die Neukonzeption durch eine einjährige Förderung der Laboruniversität Leipzig. Wir arbeiten eng mit der Hochschul- und Medizindidaktik zusammen. Durch die engere Verzahnung mit der Medizin sollen die Lehrvisiten weiter ausgebaut werden. Außerdem profitieren Studierende von unserer Forschung, deren Erkenntnisse unmittelbar in die Lehre aufgenommen werden. Für eine sinnvolle Durchführung der Übungsapo­theke und Lehrvisiten sind allerdings Lehrveranstaltungen in Kleingruppen essentiell. Diese sind für die Klinische Pharmazie in den aktuellen Kapazitätsverordnungen leider nicht angemessen berücksichtigt. Für die Übungsapo­theke müssten perspektivisch auch Schauspielpatienten eingebunden werden. Eine Ausweitung dieser Formate ist daher ohne zusätzliche Personal- und Sachmittel kaum möglich. Wir hoffen, dass wir Möglichkeiten finden, um derartige Formate auch für zukünftige Jahrgänge sichern zu können.

DAZ: Legt die Approbationsordnung Schranken für die Kompetenzgerechte Wissensvermittlung?

Bertsche: Die Approbationsordnung ermöglicht auch heute schon Spielräume, innovative Formate umzusetzen. Allerdings limitiert insbesondere der Umfang der Lehre für die Klinische Pharmazie künftige Möglichkeiten. Für unser Modellpraktikum Medikationsmanagement an der Universität Leipzig haben wir mit der pharmazeutischen Chemie ein gelungenes Konzept entwickelt, um sowohl chemische als auch klinische Lehrinhalte abzudecken. Dies muss auch für die künftige Ausbildung gesichert werden. Für manche Themen wären Grundlagen patientenorientierter Fragestellungen bereits im Grundstudium wünschenswert. Außerdem hängen an den Lehraufgaben Personalstellen, die für Qualifizierungsarbeiten wie Promotionen und Forschungsleistungen unverzichtbar sind. Hier bestehen aktuell noch erhebliche Diskrepanzen zwischen den einzelnen pharmazeutischen Fächern.

DAZ: Frau Dr. Neininger und Frau Dr. Schiek, Herr Prof. Bertsche, vielen Dank für das Interview. |

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