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Feuilleton
Totale Institution und soziale Medikation
Arzneimittelprüfungen an Heimkindern in der Bundesrepublik von 1949 bis 1975
Mit den Schriften von Ivan Illich (1926 – 2002) und Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) wurde erstmalig deutlich, dass Arzneimittel missbräuchlich eingesetzt werden, um politisch und ideologisch definiertes unwertes Leben zu vernichten – und einige Ärztinnen und Ärzte haben sich an diesen Versuchen willfährig oder gar aus eigenem Impetus beteiligt, weil ihnen die Möglichkeit zur Profilierung geboten wurde. So spricht Ivan Illich in seinem Buch „Die Nemesis der Medizin“ zum Beispiel von den wehrlosen Patienten, die durch die klinische Iatrogenesis geschädigt werden – die Medikalisierung der Gesellschaft ist in vielen Bereichen zu beobachten. Der Jahrhunderte alte Grundkonsens der Medizin des Nichtschadens (nil nocere) wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach außer Kraft gesetzt, der Eid des Hippokrates, in dem es u. a. heißt: „Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht“, verlor seine Gültigkeit.
Dieser Beitrag ist eine Rezension der Dissertationsschrift von Dr. rer. nat. Sylvia Wagner zum Thema: „Arzneimittelprüfungen an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Neuroleptika sowie am Beispiel der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission“ (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, März 2019). Erschienen ist die Arbeit nun als Buch im Mabuse-Verlag:
Sylvia Wagner
Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975
Mabuse-Verlag 2020,
243 S., 34,95 Euro
ISBN 978-3-86321-532-3
In der jungen Bundesrepublik Deutschland wurden Arzneimittel an Heimkindern getestet, um sozial erwünschtes Verhalten oder Sedierung zu erreichen. Sylvia Wagner recherchierte dazu in Prüfberichten, Dokumenten aus Unternehmen und Bewohnerakten. Sie zeichnet ein bedrückendes doch authentisches Bild dieser bisher kaum untersuchten Problematik.
Dieses Buch wirft Licht auf ein verdrängtes Kapitel der deutschen Nachkriegszeit und trägt zur Aufarbeitung von Gewalt in der damaligen Heimerziehung bei.
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Behandlung von „schwererziehbaren“ Kindern
Ein besonders perfides Beispiel dieser Art von Medizin hat Sylvia Wagner in ihrer Dissertationsschrift aufgedeckt. Dabei geht es um die Situation in einer Reihe von Heimen während der 1950er- bis 1970er-Jahre, in denen „übergroße Gruppen von schwierigen, verhaltensauffälligen oder behinderten Kindern (…) von fachlich zumeist gar nicht oder unzureichend qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut“ wurden. Um dies zu erreichen, war der Tagesablauf der „Insassen“ dem Management einer totalen Institution unterworfen: Gewalt war dabei ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung des Systems. Neben der psychischen und physischen Gewalt war (…) die medikamentöse Sedierung eine gebräuchliche Form des Umgangs (S. 27/28). Dem als auffällig bezeichneten Verhalten der Kinder und Jugendlichen lag nur in seltensten Fällen eine organische Ursache zugrunde, weshalb auch ärztliche Verordnungen sedierender Medikamente nicht gegeben waren. Es ging vielmehr um medikamentöse Disziplinierungsmaßnahmen bei sogenannten dissozialen Jugendlichen – in diesen Fällen wohl eher willkürliche Zuschreibungsprozesse einiger Ärztinnen und Ärzte, die ihre Verordnung von stark beruhigend wirkenden Mitteln legitimieren wollten. Es ging um die Behandlung von, wie es hieß, „schwererziehbaren und verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen, wobei sich die Verwahrlosung durch Unordnung, Ungehorsam, Schule schwänzen, Frechheit, Bockigkeit, Jähzorn, Genussleben, Herumtreiben oder sonstiges Abweichen von der Norm zeigte. Und sexuelle Verwahrlosung zeigte sich bereits im Tragen kurzer Röcke bei jungen Mädchen. All diese Aspekte konnten Gründe für die Einweisung in ein Heim sein. Die Kinder und Jugendlichen in solchen Heimen waren dann nicht nur dem Betreuungspersonal, sondern auch vor allem den Ärzten (Ärztinnen waren wohl weniger beteiligt) ausgeliefert, die solche als „verwahrlost“ pathologisierten Heranwachsenden u. a. durch eine Arzneimitteltherapie kurieren sollten.
Arzneimittelprüfungen mit Neuroleptika
Und wie Sylvia Wagner in ihrer Arbeit zeigen konnte, haben einige dieser Ärzte die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen als Klientel für weder ethisch vertretbare noch medizinisch begründbare Arzneimittelversuche ausgenutzt, ohne Aufklärung oder Einwilligung der erziehungsberechtigten Personen: Eingesetzt wurden neben Barbitursäurepräparaten vor allem Neuroleptika, zu Beginn vor allem das Chlorpromazin, bekannt unter dem Handelsnamen Megaphen der Firma Bayer. Später kamen auch Periciazin (Aolept® der Firma Bayer) (Werbung z. B. „Aolept® erleichert das Zusammenleben“, abgebildet sind Kinder, 1969), Haloperidol oder auch Pipamperon (Haldol® und Dipiperon®, beides von der Firma Janssen) hinzu. Die Mittel wurden zum Teil in grenzwertig hohen Dosierungen eingesetzt, weit entfernt von den empfohlenen Erwachsenendosierungen, sodass sogar die betreffenden pharmazeutischen Hersteller der jeweiligen Psychopharmaka solche „übertriebenen“ Therapieversuche mancher Ärzte kritisierten – interveniert wurde jedoch nicht. Solche Arzneimittelprüfungen mit Neuroleptika fanden vor allem in den Jahren 1949 bis 1975 statt, wobei sich in vielen Fällen zeigte, dass die Kinder und Jugendlichen solche Mittel über Jahre erhalten hatten. Dabei waren extrapryramidalmotorische Störungen (Dyskinesien, auch Spätdyskinesien, die nach dem Absetzen der Mittel fortbestanden) schon seit den 1950er-Jahren bekannt – das nil nocere hatten wohl viele der Ärzte längst aus ihrer Ethik verdrängt.
Richtlinie wurde missachtet
Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte hätten auch noch etwas anderes berücksichtigen müssen: Es gab nämlich bereits seit 1931 Richtlinien für Versuche an Menschen, die eine Risiko-Nutzen-Abwägung forderten, daneben die Einhaltung der Grundsätze ärztlicher Ethik, die Forderungen nach einer schriftlichen Dokumentationspflicht sowie eine Aufklärung und Einwilligung der Versuchspersonen. Diese Richtlinien wurden möglicherweise im Rahmen der einige Jahre später folgenden Menschenversuche im Faschismus kaum beachtet, viele Rechtsexperten weisen aber darauf hin, dass diese Richtlinien eine bindende Wirkung behalten hätten, da sie nie für ungültig erklärt wurden, auch noch nach 1945, und dass sie erst 1961 bzw. 1964 durch das Arzneimittelgesetz und durch die Deklaration von Helsinki ersetzt wurden. Dass es im Übrigen nicht völlig unwahrscheinlich ist, dass einige der Ärzte, die durch unerlaubte Arzneimittelversuche an Kindern und Jugendlichen in Heimen auffällig geworden sind, noch biografisch der Medizin des Faschismus entstammten, soll hier zumindest angemerkt werden.
Die Dissertation von Frau Wagner stellt einen wichtigen Beitrag zu einem Thema dar, zu dem leider bisher viel zu wenig bekannt war. Die Auswertung von vielen Archivunterlagen und einschlägigen Publikationen zeigt, wie wenig und unzureichend Arzneimittelversuche an Kindern und Jugendlichen in Heimen bis zum Jahr 1975 kontrolliert und geregelt waren – einige Ärzte haben offenbar aus niederen Disziplinierungsstrategien die ihnen anvertrauten, angeblich verwahrlosten Kinder und Jugendlichen vor allem mit Neuroleptika über z. T. lange Zeit ruhiggestellt, sodass sich bei den heute noch lebenden Männern und Frauen Spätfolgen zeigen, wie einige Fallberichte in der Dissertationsschrift von Frau Wagner zeigen.
Es ist im Übrigen ein untauglicher Versuch, nun statt der Ärzte die mangelnde Aufsicht und Verantwortung der Heime bzw. die seinerzeit politischen Rahmenbedingungen für die Einweisung der Kinder und Jugendlichen als Ursache für die durchgeführten Menschenversuche heranzuziehen – schließlich haben letztlich immer die Ärzte über die Auswahl, Dosierung und Dauer der Arzneimitteltherapie entschieden. Sie sind es daher gewesen, die diese Arzneimittelversuche durchgeführt und sich damit der Verpflichtung eines ethischen Handelns entzogen haben.
Fazit
Die Dissertation von Sylvia Wagner hinterlässt nach dem Lesen Bestürzung und Wut, weil schwer nachvollziehbar ist, wieso unmittelbar nach einer Zeit der menschenunwürdigen Medizin während des Faschismus nur einige Jahre später nach der Errichtung der demokratischen Bundesrepublik auf der Basis eines Grundgesetzes, das die körperliche Unversehrtheit im Artikel 2 jedem Bürger und jeder Bürgerin garantiert, individuelle Arzneimittelversuche durchgeführt wurden, die weder ethische Aspekte noch den Schutz der Menschen beachten. Daher ist es Frau Wagner zu verdanken, dass diese Vergangenheit aufgedeckt wurde und damit auch den geschädigten Menschen die Möglichkeit geboten wird, ihr erlittenes psychisches und physisches Leid öffentlich zu machen und einzuklagen. Wir müssen die Vergangenheit aufarbeiten und kennen, um solche Vorkommnisse in der Gegenwart und in der Zukunft frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Frau Wagner hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet, der allen, die mit Medizin und Arzneimitteltherapie zu tun haben, dringend zum Lesen empfohlen wird. |
Literaturtipp
„Das Schicksal der Heimkinder“
2016 veröffentlichte Sylvia Wagner in der Zeitschrift „Sozial.Geschichte Online“ erste erschütternde Ergebnisse ihrer Doktorarbeit zu den Arzneimittelprüfungen an Heimkindern in der Bundesrepublik von 1949 bis 1975.
Viele ehemalige Heimkinder sind heute von Armut bedroht, psychisch krank, behindert, ohne Ausbildung, Beruf und Rente. In ihrem Sinn gründete sich 2004 der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH). Er kämpft dafür, dass die Opfer entschädigt werden. Doch 2010 kam der Runde Tisch Heimerziehung (RTH), eine von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Politik, Kirchen und Heimen, zu dem Schluss, dass die schlimmen Vergehen verjährt seien; ein Recht auf Entschädigung bestehe nicht mehr. Zwar richteten Bund, Länder und Kirchen Heimkinder-Fonds ein, doch das Geld ist längst verbraucht. Nur ein Bruchteil der Opfer erhielt daraus finanzielle Zuwendungen – und auch nur sehr geringe. Unzählige Kinder hatten von diesen Fonds nie erfahren. Andere scheuten die bürokratischen Hürden, empfanden die notwendige Schilderung ihres Schicksals vor Behörden als belastend und retraumatisierend.
Zum Weiterlesen: DAZ 2019, Nr. 15, S. 56
Eckart Klaus Roloff und Karin Henke-Wendt
Geschädigt statt geheilt
Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale
256 S., 29 s/w Abb., 15,3 × 23,0 cm, Kartoniert, 22,- Euro [D]
ISBN 978-3-7776-2763-2S.
Hirzel Verlag 2018
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