Die Seite 3

Ein großes Experiment

Foto: DAZ/Alex Schelbert

Dr. Doris Uhl, Chefredakteurin der DAZ

Wenn Sie dieses Heft in der Hand halten, dann steht das Leben in Deutschland wieder weitgehend still. Es ist uns nicht gelungen, das Pandemiegeschehen unter Kontrolle zu halten. Gesundheitsämter kommen mit der Kontaktnachverfolgung nicht mehr hinterher, Infektions- und Intensivstationen quellen über, Ärzte und Pflegepersonal sind am Limit, COVID-19-Ausbrüche in Kliniken und Pflegeheimen sind inzwischen an der Tagesordnung.

Große Hoffnung ruht daher auf den Impfstoffen. Biontech und Pfizer haben u. a. in Großbritannien, Kanada und den USA schon eine Notfallzulassung für ihren mRNA-Impfstoff BNT162b2 erhalten. In der EU sollte man sich bis Ende Dezember gedulden. Verständlich, dass die Stimmen lauter wurden, die hinterfragten, warum sich die europäische Zulassungsbehörde EMA „wochenlang“ Zeit nimmt. Selbst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn scharrte mit den Hufen und erhöhte den Druck mit dem Szenario eines deutschen Alleingangs. Die EMA stellt nun eine Entscheidung für den 21. Dezember in Aussicht.

In der Tat bezahlen wir für jeden Tag, an dem wir unsere besonders vulnerablen alten und kranken Menschen und unser Gesundheitspersonal nicht effektiv schützen können, angesichts der steigenden Zahlen von schweren ­Erkrankungen und Todesfällen einen viel zu hohen Preis.

Hektisch wird nach Auswegen aus dem Dilemma gesucht. FFP2-Masken sollen nun, ausgegeben durch die Apotheken, ältere Risikopatienten besser schützen (s. S. 28). Zudem hat sich inzwischen die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) an die „in Vergessenheit geratene“ bewährte Prä- und Postexpositionsprophylaxe mittels Gurgeln erinnert und entsprechende Empfehlungen ausgesprochen. Interessant ist, dass die DGKH dabei nicht nur von bewährten Schleimhautantiseptika wie Povidon-Iod überzeugt ist, sondern neben grünem Tee auch auf Listerine-Mundspüllösungen und Carragelose-haltige Nasensprays setzt (s. S. 34). Die Krux an der Sache: „Harte“ Evidenz gibt es nicht!

Und so sind solche Empfehlungen symptomatisch für unsere Hilflosigkeit im Umgang mit der Pandemie. Corona zwingt uns dazu, zu experimentieren: sei es mit Masken, Prophylaxemaßnahmen und Therapien oder auch mit Impfstoffen, die unter völlig neuen Bedingungen getestet und begutachtet werden müssen. Dabei sind wir alle Teil dieses großen Experiments mit ungewissem Ausgang. Denn auch der immer noch nicht richtig verstandene Erreger SARS-CoV-2 experimentiert mit uns, lässt immer mehr Menschen sterben, und hinterlässt tiefe Spuren auch bei vermeintlich Genesenen.

Vor diesem Hintergrund muss der Weg für solche Impfstoffe schnellstmöglich freigemacht werden, die gezeigt haben, dass sie einigermaßen verträglich sind und einen Schutz vor schweren Erkrankungen bieten. Sie sollten zu allererst denjenigen angeboten werden, die in Heimen und Kliniken Menschen behandeln, pflegen und versorgen, dazu zählt auch das pharmazeutische Personal. Fallen sie aus, kommt dort nicht nur die Behandlung und Versorgung von COVID-19-Patienten zum Erliegen.

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