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Praxis

Zukunft der Rezeptur, Chance für die Apotheken

Eine Analyse aus pharmazeutischer und ökonomischer Sicht

Die Digitalisierung hat das Labor und die Rezeptur in den Apotheken erreicht. Wie schnell und in welchem Ausmaß dies angebracht ist, muss in jeder Apotheke auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht bewertet werden. Strategisch entscheidend ist, die Rezeptur auf dem Stand der Zeit zu halten. Nur dann können die Apotheken von den Chancen profitieren, die neue technologische Entwicklungen bieten. Im Idealfall verbinden sich technologische und klinisch-pharmazeutische Neuerungen zu einer neuen Zukunftsperspektive. | Von Thomas Müller-Bohn

Die Technisierung des Apothekenlabors begann mit der instrumentellen Analytik, die die klassische Nasschemie ersetzt. Wesentliche Gründe dafür waren die größere messtechnische Genauigkeit und Zuverlässigkeit der instrumentellen Verfahren. Aus wirtschaftlicher Sicht kommt hinzu, dass dabei die zunehmend knappe Arbeitskraft des pharmazeutischen Personals durch Technik substituiert wird, die tendenziell preisgünstiger als in früheren Zeiten zur Verfügung steht. Lange Zeit ging es dabei um Insel­lösungen mit einzelnen Geräten. Mit Digitalisierung hatte das anfangs wenig bis gar nichts zu tun. Die Investitionsentscheidung beruht hier auf einer einfachen betriebswirtschaftlichen Überlegung: Wie oft wird das Gerät in der betreffenden Apotheke zu nutzen sein und wie viel Arbeitszeit wird bei jeder Nutzung gespart? In Verbindung mit den Personalkosten pro Zeiteinheit lässt sich dann errechnen, wie schnell sich das Gerät amortisiert. Diese Zeitspanne vermittelt eine Idee, ob die Anschaffung sinnvoll ist.

Bei der eigentlichen Herstellung in der Rezeptur sollen technische Neuerungen nicht nur Zeit sparen, sondern es geht dabei auch um Standardisierung, Qualitätssicherung und Bequemlichkeit, beispielsweise bei den Rührwerken. Die ­Digitalisierung betrifft in der Rezeptur vor allem die Dokumentation. Viele Anforderungen lassen sich mit Rezepturprogrammen einfacher und schneller erfüllen als ohne solche Hilfsmittel, beispielsweise die Plausibilitätsprüfung. Weitergehende betriebswirtschaftliche Abwägungen erübrigen sich dann, aber dies stößt eine Entscheidungskaskade an: Ist die Software für die Rezeptur erst einmal vorhanden, drängt sich die automatische Einwaagedokumentation auf – und dann die Anschaffung der passenden Waagen zu durchaus beacht­lichen Preisen.

Wie weit diese Kaskade getrieben werden soll, wird irgendwann doch zu einer betriebswirtschaftlich relevanten Frage, weil es um erhebliche Investitionen in immer mehr Geräte geht. Die digitale Integration von Labor und Rezeptur ist mittel- bis langfristig pharmazeutisch und wirtschaftlich empfehlenswert, weil besonders die Dokumentation damit beschleunigt werden kann und die Insellösungen überwunden werden. Doch nicht jeder kleine Zeitvorteil rechtfertigt, ein leistungsfähiges Laborgerät älteren Baujahrs sofort für viel Geld durch einen digitalisierten Nachfolger zu ersetzen. Oft wird es besser sein, erst bei einer ohnehin fälligen Neuanschaffung die digitale Variante zu wählen. Das fällt umso leichter, je weiter Labor und Rezeptur zu diesem Zeitpunkt schon digitalisiert sind. Die Software steht damit am Anfang eines längeren Veränderungsprozesses.

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Pharmazeutisch-technologische Entwicklungen bieten zumindest langfristig die Chance, dass sich daraus neue Versorgungsoptionen aus der Rezeptur der öffentlichen Apotheken er­geben.

Auf dem Stand der Technik bleiben

Aus strategischer Perspektive ist dabei wohl der wichtigste Aspekt, dass die Arzneimittelherstellung in der Apotheke insgesamt auf dem Stand der Zeit gehalten wird. Das erscheint aus mindestens zwei Gründen wichtig. Erstens werden die bekannten Argumente für die Rezeptur dauerhaft bestehen bleiben. Durch steigende Anforderungen an Zulassungen wird es tendenziell mehr Lücken im Fertigarzneimittelangebot geben. Außerdem ist auch eine Option nötig, wenn die industrielle Produktion stockt, wie bei den Desinfektionsmitteln in der Pandemie. Der zweite Grund für die Rezeptur ist ihr Potenzial für die Zukunft. Zumindest langfristig bieten mehrere pharmazeutisch-technologische Entwicklungen die Chance, dass sich daraus neue Versorgungsoptionen aus der Rezeptur der öffentlichen Apotheken ergeben. In der Vergangenheit betraf dies eher die wenigen Apotheken, die große Investitionen in die Herstellung von Zytostatika-Zubereitungen und anderen sterilen Darreichungsformen getätigt haben. Doch die nächste erfolgreiche Innovation kann ganz anders aussehen und alle Apotheken betreffen. So wie sich aus dem Angebot von Zytostatika der Bedarf für die frische Zubereitung der applikationsfähigen Formen entwickelt hat, könnten künftige Innovationen der Industrie zu neuen Aufgaben für die Apotheken – auch in breiteren Anwendungsgebieten – führen.

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Der dreidimensionale (3D-)Druck hat das Potenzial, die pharmazeutische Industrie zu revolutionieren, und könnte die Apotheken bei der patientenindividuellen Arzneimittelherstellung aufwerten.

Im Trend: Dosisindividualisierung

Eine neue Chance für die Rezeptur kann sich also aus Innovationen der Pharmaindustrie ergeben – oder auch komplementär zur Industrie. Schon seit Jahren wird über den möglichen Einsatz von 3-D-Druckern zum „Drucken“ oraler Darreichungsformen spekuliert. Ein Ziel könnte die Herstellung individuell dosierter Arzneiformen zur oralen Anwendung sein. Allerdings sind dabei noch viele Fragen offen und der Investitionsbedarf könnte erheblich sein. Das gleiche Ziel lässt sich mit schnelllöslichen oralen Filmen erreichen. Diese werden bereits vereinzelt als Fertigarzneimittel eingesetzt und können auch unter Rezepturbedingungen hergestellt werden. Begrenzende Faktoren sind offenbar die Erfahrungen zur Resorption in der Mundhöhle, die Wirkstoffmenge und der Geschmack (siehe DAZ 2016, Nr. 35, S. 58 ff.). Diese Entwicklungen stehen exemplarisch für die Suche nach einem neuen Konzept für die Dosisindividualisierung, das praktikabler und weniger fehleranfällig als die rezepturmäßige Herstellung von Hartgelatinekapseln ist. Wahrscheinlich werden abhängig vom Wirkstoff unterschiedliche Verfahren und Darreichungsformen zu nutzen sein.

Letztlich geht es dabei um eine neue Verknüpfung zwischen einem technologischen Angebot aus der Apothekenrezeptur und einem klinisch-pharmazeutisch begründeten Bedarf. Wenn Apotheken künftig ein systematisches Monitoring der Arzneimittelanwendung als Regelleistung anbieten, dürften mehr Fälle ermittelt werden, die individuelle Dosierungen erfordern. In einigen Fällen wird dies mit den verfügbaren Fertigarzneimitteln nur schwierig umzusetzen sein. Dann könnten neue Angebote aus der Rezeptur nützlich sein. Für diese Verbindung des technologischen und des klinisch-pharmazeutischen Aspektes ist die Apotheke prädestiniert.

Wirtschaftliche Voraussetzungen

Dies alles setzt voraus, dass der organisatorische Rahmen für die individuelle Arzneimittelherstellung in der Apotheke leistungsfähig und nicht nur auf seltene Fälle ausgelegt ist. Dazu gehört eine eingespielte Dokumentation nach den geltenden rechtlichen Vorschriften. Außerdem muss dies alles wirtschaftlich akzeptabel organisiert sein. Die Abläufe bei der Prüfung der Ausgangsstoffe, der eigentlichen Herstellung und der Dokumentation müssen so schnell und mit überschaubarem Personaleinsatz ablaufen, dass die möglichen neuen Aufgaben für die Apotheken wirtschaftlich ertragreich werden. Kostenintensive Pflichten haben die Apotheken bereits genug. Innovation ist nur möglich, wenn eine Gewinnaussicht besteht. Die jahrzehntelange Situation der klassischen Rezeptur als Verlustgeschäft hat die Zeitersparnis dort zum einzigen Investitionsmotiv gemacht. Die zumindest in der Anfangszeit bestehenden Gewinnaussichten bei Spezialrezepturen haben dagegen zu großen Investitionen geführt. In ähnlicher Weise müssten auch neue Einsatzgebiete der Rezeptur so honoriert werden, dass sie zu Investitionen anregen. Diese betriebswirtschaftliche Bedingung der Apotheken muss mit der volkswirtschaftlichen Forderung nach effizientem Ressourceneinsatz im Einklang stehen. Darum müssen die Abläufe in den Apotheken stringent organisiert sein. Dazu gehört das digitale Management der Schnittstellen. Allerdings rentieren sich Investitionen nur bei einer gewissen Auslastung. Der Schlüssel zu allen hier angeführten Überlegungen ist daher ein regelmäßiger Rezepturbetrieb in relevantem Ausmaß. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, DAZ-Redakteur

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