Foto: MclittleStock/AdobeStock

DAZ aktuell

Ordnungsgemäße Versorgung – was bedeutet das?

Analyse zur Erreichbarkeit von Apotheken und zu einer notwendigen Apothekendichte

SÜSEL (tmb) | Durch die sinkenden Apothekenzahlen ist der Versorgungsauftrag zu einem zentralen berufspolitischen Thema geworden. Die wesentlichen Fragen sind, wie eine ordnungsgemäße oder sogar gute Ver­sorgung definiert ist und wie viele Apotheken dafür nötig sind. Die vielen Aspekte dieses Themas lassen sich besser erfassen, wenn die Erreichbarkeit einzelner Apotheken und die Leistungsfähigkeit des Systems unterschieden werden. Wie das gelingen kann, zeigt diese Analyse.

Die höchste Zahl an Apotheken in Deutschland wurde (bei Betrachtung jeweils zum Jahresende) im Jahr 2008 mit 21.602 Apotheken erreicht. Ende 2022 waren es noch 18.068 Apotheken (gemäß ABDA), also 3534 Apotheken oder 16,4 Prozent weniger als Ende 2008. Dies wirft die Frage auf, wo und wie die Versorgung unter diesem Rückgang leidet. Sogar der nächste gedankliche Schritt taucht immer wieder in der berufspolitischen Diskussion auf: eine mögliche Strukturförderung für versorgungskritische Apotheken. Beispielsweise zeigten sich am 12. November 2022 beim Apothekertag Mecklenburg-Vorpommern Vertreter mehrerer Landtagsfraktionen offen für einen Sicherstellungszuschlag (siehe DAZ 2022, Nr. 46, S. 67). Kürzlich haben auch die Bundestagsabgeordneten Dirk Heidenblut (SPD) und Dr. Paula Piechotta (Grüne) in DAZ-Interviews grundsätzliches Interesse an gezielten Förderungen für Apotheken bekundet, nicht zuletzt mit Blick auf den Koalitionsvertrag, in dem ein Sicherstellungsfonds vorgesehen ist (siehe DAZ 2023, Nr. 8, S. 18 ff.). Heidenblut warf dabei die Frage auf, „was es uns wert ist, weiterhin überall Apotheken verfügbar zu haben“ (siehe DAZ 2023, Nr. 7, S. 16 ff.). Doch bleibt offen, an welches Kriterium eine solche Förderung geknüpft werden kann.

Keine Planwirtschaft

Eine Diskussion darüber kann aber nicht in Gang kommen, solange alle daraus möglicherweise abzuleitenden Konsequenzen mit dem Argument verworfen werden, dies führe in eine Planwirtschaft, von der generell nichts Gutes zu erwarten sei. Doch dieser Vorwurf greift hier nicht. Denn eine Bedarfsplanung nach sozialistischer Machart oder in Anlehnung an das bis 1958 geltende Konzessionssystem steht nicht zur Debatte. Auch in der erwähnten Diskussion beim Apothekertag Mecklenburg-Vorpommern wurde betont, dass ein Sicherstellungszuschlag keineswegs mit der Niederlassungsfreiheit kollidieren würde. Dies ist offensichtlich politischer Wille und zugleich logisch. Denn es geht um Unterstützung für Apotheken in besonderen Lagen, aber nicht um die Apothekenzulassung. Die Frage ist, in welcher Situation eine Apotheke eine besondere Förderung benötigt, aber nicht ob sie überhaupt bestehen darf. Oder noch deutlicher: Das Ziel an kritischen Standorten sind mehr, aber nicht weniger Apotheken. Selbstverständlich kann eine individuelle Förderung mit Steuer- oder Versichertengeldern nur auf der Grundlage eines überzeugenden und zugleich praktikablen Kriteriums erfolgen. Doch dies wäre keine Planwirtschaft, sondern geradezu typisch für die soziale Marktwirtschaft. Denn diese nutzt Marktkräfte, greift aber ein, wenn die Marktkräfte in besonderen Situationen versagen und insbesondere in sozialen Belangen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Der Vorwurf der Planwirtschaft greift also nicht und kann kein Hinderungsgrund für weitere Betrachtungen sein.

Mikro- und Makroebene unterscheiden

Die schwierige Frage nach einer Definition für eine ordnungsgemäße Versorgung lässt sich leichter beantworten, wenn zwei Elemente des Versorgungsauftrags unterschieden werden: Erstens die Erreichbarkeit einer Apotheke an einem bestimmten Standort und zweitens das Funktionieren des gesamten Systems.

Es geht also um die Mikro- und die Makroebene und damit um zwei Fragen: Was ist eine einzelne versorgungskri­tische Apotheke? Und was ist eine ordnungsgemäße (oder gute) Versorgung insgesamt?

Apothekenrecht und die Folgen

Das deutsche Apothekenrecht bietet zwei Anhaltspunkte für einen Maßstab für die Versorgung vor Ort: erstens die Regelungen für Zweigapotheken oder Notapotheken mit eingeschränkten Anforderungen gemäß § 16 und 17 Apothekengesetz (ApoG) und zweitens die Voraussetzungen für Rezeptsammelstellen gemäß § 24 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO).

Die Hürden für eine Zweig- oder Notapotheke sind sehr hoch. Die Regelungen greifen erst, wenn ein „Notstand in der Arzneimittelversorgung“ eingetreten ist (siehe §§ 16 und 17 ApoG). Auch dann liegt die Zulassung einer Zweigapotheke im Ermessen der Genehmigungsbehörde („Kann“-Regelung; siehe Kieser, Wesser, Saalfrank, Kommentar zu § 16 ApoG, Rn. 23). Dagegen besteht ein Rechtsanspruch auf Genehmigung einer Rezeptsammelstelle, wenn diese zur ordnungsgemäßen Versorgung „erforderlich“ ist (siehe ebenda). Dies beschreibt also einen Fall der ordnungsgemäßen Versorgung „von abgelegenen Orten oder Ortsteilen“ (siehe § 24 Abs. 1 ApBetrO) und nicht etwa einen Notstand. In der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis hat sich als Kriterium für die Abgelegenheit eine Entfernung zur nächsten Apotheke von sechs Kilometern oder mehr herausgebildet, was jedoch nur als „grobes Richtmaß“ zu verstehen ist (siehe Cyran, Rotta, Kommentar zu § 24 ApBetrO, Rn. 43 ff.). Einen wesentlichen Hintergrund dafür bildet die Überlegung, dass eine Besorgung innerhalb von einer Stunde möglich sein soll (siehe ebenda, Rn. 45).

Am Anfang der Betrachtung steht also ein Ort oder Ortsteil, der als Versorgungseinheit zu betrachten ist. Dabei liegt folgende Überlegung nahe: In einem Ort oder Ortsteil, der etwa sechs Kilometer von der nächsten Apotheke entfernt ist, gewährleistet eine Rezeptsammelstelle eine ordnungsgemäße Versorgung, allerdings mit Einschränkungen. Wenn an einem solchen Standort eine Apotheke etabliert ist, kann dies sicher als gute Versorgung bezeichnet werden. Der Wegfall einer solchen Apotheke wäre zwar mit einer Rezeptsammelstelle zu kompensieren, ohne dass ein Notstand entsteht, aber auch eine Rezeptsammelstelle ist als Ausnahme zu werten. Zur Entfernung tritt damit als weiteres Kriterium die empirische Erfahrung hinzu, dass sich die Versorgung dieses Ortes oder Ortsteils mit einer Apotheke etabliert und bewährt hat. Daher sollte eine bestehende Apotheke an einem solchen Standort als notwendig für die Versorgung betrachtet werden, auch wenn anderenorts in entsprechender Entfernung von anderen Apotheken nur eine Rezeptsammelstelle besteht. Demnach ist eine Apotheke für die Versorgung notwendig, wenn sie einen Ort oder Ortsteil allein versorgt und sich dort etabliert hat. Dabei darf die Entfernung zu nächsten Apotheke in dünn besiedeltem Gebiet sechs Kilometer oder etwas mehr betragen.

Irgendwo zwischen fünf und zehn Kilometern

Der wesentliche Gedanke dabei ist, dass die Bewohner des Ortes oder Ortsteiles beim Wegfall der Apotheke einen Weg von sechs oder mehr Kilometern zu einer Apotheke zurücklegen müssten, der in der Rechtsprechung als grenzwertig betrachtet wird. Zu den in der Rechtsprechung angestellten Betrachtungen zur Dauer einer Besorgung ist allerdings zu bedenken, dass die Fahrzeit entscheidend von der Verfügbarkeit eines Autos oder vom Fahrplantakt des öffentlichen Nahverkehrs abhängt. Wenn ein Auto oder Bus erst einmal fährt, hat es für die Fahrzeit nur eine marginale Bedeutung, ob die Fahrt sechs oder vielleicht auch etwa zehn Kilometer weit durch kaum besiedeltes Gebiet führt. Wenn es hingegen dicht besiedelt wäre, gäbe es dort eine Apotheke. Die Länge der Strecke wird darum wohl erst irgendwo bei etwa zehn Kilometern relevant. Damit ist die Grenze von sechs Kilometern durchaus als vage zu betrachten. Sie kann verwendet werden, solange keine schlüssige Argumentation für ein anderes Maß vorliegt, aber in sehr dünn besiedelten Gebieten können auch mehr als sechs Kilometer akzeptabel sein.

In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung von May, Bauer und Dettling zu beachten. Im Mai 2017 ermittelten sie in Deutschland 1711 Apotheken mit einer Alleinstellung im Umkreis von fünf Kilometern und 128 Apotheken mit einer Alleinstellung im Umkreis von zehn Kilometern (siehe May, Bauer, Dettling: Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, 2017, S. 86 ff.). Theoretisch ergibt sich bei zehn Kilometern Abstand zwischen zwei Apotheken für Patienten auf den gedachten Verbindungslinien zwischen den Apotheken höchstens eine Entfernung von fünf Kilometern zu einer Apotheke, aber Menschen wohnen nicht nur auf den Verbindungslinien zwischen Apotheken, und die Straßen liegen oft auch nicht auf diesen Verbindungslinien. Demnach müssen Menschen vielerorts wohl mehr als sechs Kilometer zu einer Apotheke zurücklegen.

Eine Apotheke für jedes Versorgungsgebiet

In Städten sind die Entfernungen zu Apotheken natur­gemäß kürzer, aber die obigen Überlegungen lassen sich auf städtische Regionen übertragen. Entscheidend ist, dass in jedem Gebiet, in dem üblicherweise alltägliche Versorgung stattfindet, eine Apotheke verfügbar ist. Der akzeptable Höchstabstand zur nächsten anderen Apotheke richtet sich dabei nach den örtlichen Verhältnissen und kann in städtischem Gebiet weitaus geringer als sechs Kilometer sein, wenn beispielsweise ein städtisches Quartier als Versorgungsgebiet zu betrachten ist. Ein Maximalabstand zwischen Apotheken kann daher nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für eine ordnungsgemäße oder sogar gute Versorgung sein.

Makroebene: auf das System kommt es an

Zugleich ist die Erreichbarkeit einer einzelnen Apotheke nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Qualität und die Sicherheit des Versorgungssystems. Die Versorgungssicherheit ist erst gewährleistet, wenn das System auf der Makroebene stabil und zukunftsfähig ist. Wie in allen Versorgungsbereichen ist eine gewisse Redundanz nötig, wie insbesondere die Pandemie gezeigt hat. Bei Störungen müssen Alternativen verfügbar sein. Für die Arzneimittelversorgung eines abgelegenen Ortes ist eine einzelne Apotheke sehr gut. In Städten oder für eine ganze Region muss aber ein anderer Maßstab angelegt werden. Dort reicht es nicht, nur die Versorgung durch eine einzelne Apotheke zu gewährleisten. Das Konzept des Apothekers als freier Heilberufler in Verbindung mit der freien Apothekenwahl für die Patienten würde ins Leere laufen, wenn die meisten Patienten praktisch nur eine Apotheke aufsuchen könnten. Es muss Wahlmöglichkeiten geben. Zudem bieten nicht alle Apotheken alles an. Nur wenige Apotheken verfügen über Reinräume für die Herstellung von Spezialrezepturen, und neben der vorgeschriebenen Arzneimittelversorgung gibt es Angebote ohne Kontrahierungszwang, beispielsweise mit Hilfs­mitteln für die Inkontinenzversorgung. Auch innerhalb des „Pflichtprogramms“ können sich Apotheken auf bestimmte Kundengruppen spezialisieren, beispielsweise Kinder, Diabetiker oder HIV-Infizierte. Der Versorgungsauftrag ist breit gefächert und nicht jede Apotheke kann alles mit gleicher Intensität bearbeiten. Neben der flächendeckenden Grundversorgung bestehen daher spezielle Angebote. Das führt in Städten zu einem Nebeneinander von Apotheken auf vergleichsweise geringem Raum. Auch der politisch gewünschte Preiswettbewerb bei apothekenpflichtigen Arzneimitteln kann nur funktionieren, wenn tatsächlich Wahlmöglichkeiten bestehen. Daher wird es nicht ausreichen, wenn überall nur so viele Apotheken bestehen, dass jeweils die Erreichbarkeit einer einzigen Apotheke gesichert ist. In großen Städten ist eine Sechs-­Kilometer-Entfernung als Kriterium ohnehin untauglich, weil die große Zahl der Patienten in einem solchen Gebiet von einer einzelnen Apotheke nicht zu bewältigen wäre. Für eine stabile Versorgung werden mehr Apotheken gebraucht und dies erfordert zusätzliche Kriterien. Eine sehr große Herausforderung für das Apothekensystem ist zweifellos der Notdienst. Dieser erweist sich jedoch als eigenständiges Thema, das nicht mit der Versorgung im „Normalbetrieb“ vermischt werden sollte (siehe Kasten).

Notdienst: Eigenständiges Thema mit Klärungsbedarf

Foto: Dan Race/AdobeStock

Der Notdienst ist ein Spezialfall der Versorgung und hilft darum nicht, einen Maßstab für die Versorgungsqualität im Normalfall zu finden. Die im nebenstehenden Beitrag betrachteten Kriterien für die Erreichbarkeit von Apotheken vermitteln allerdings eine neue Sicht auf die Notdienstorganisation.

Alte Kriterien …
Denn in ländlichen Regionen, in denen nur gerade die Erreichbarkeit einer Apotheke im Tagesbetrieb gesichert ist, ergibt sich für den Notdienst ein Dilemma. Entweder die Wege zur Notdienstapotheke betragen schon im Durchschnitt und erst recht im Maximum ein Vielfaches von sechs Kilometern oder es ergibt sich ein Notdienstrhythmus, der die Apotheken sehr stark belastet. Damit wird bisher sehr unterschiedlich umgegangen. Im Kommentar zu § 23 ApBetrO heißt es dazu, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis würden bezüglich der als zumutbar angesehenen Entfernung zum Teil erheblich divergieren (siehe Cyran, Rotta, Kommentar zu § 23 ApBetrO, Rn. 42). Dazu wird auf Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts von 1989 auf der Grundlage einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungs­gerichtshofs von 1985 verwiesen. Demnach könne bei beträchtlicher Arbeitsbelastung für die Apotheke eine Entfernung vom Patienten zur nächsten dienstbereiten Apotheke von erheblich mehr als sieben Kilometern und ein Zeitaufwand von mehr als einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln noch im Bereich der zulässigen Ermessensausübung liegen. Im konkreten Fall wurde aber eine Entfernung von 15 Kilometern als unzumutbar betrachtet, wobei nachts überhaupt kein öffentliches Verkehrsmittel zur Verfügung stand (Urteil vom 14.12.1989, Az.: 3 C 30.87).

… und heutige Realität
Wenn die im nebenstehenden Beitrag angestellten Überlegungen zu einem Maßstab für eine akzeptable Versorgung am Tage auf der Grundlage der Vorgaben für Rezeptsammelstellen auch nur grob akzeptiert werden, würde die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts allerdings bedeuten, dass in dünn besiedelten Regionen im Notdienst kaum ein anderer Maßstab für die Versorgung gilt als am Tage. Das kann aber nicht der Sinn eines Notdienstes sein. Auch die Idee, eine Besorgung bei einer Notdienstapotheke in einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchzuführen, ist lebensfremd. Denn in den meisten ländlichen Regionen gibt es abends und nachts gar keinen öffentlichen Nahverkehr. Wer auf dem Land lebt, braucht in dringenden Fällen ein Auto – entweder selbst oder im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Dies gilt auch für andere Lebenssituationen und auch am Tage. Auf dem Land wird dies als Selbstverständlichkeit hingenommen. Lange nach den oben erwähnten Urteilen wurde auch der ärztliche Notdienst zentralisiert und ist in den genannten Entfernungen typischerweise nicht verfügbar. Die Notdienstverteilung der Apotheken orientiert sich daraufhin in den meisten Bundesländern schon lange an wesentlich größeren Entfernungen, aber mit abnehmender Apothekenzahl stellt sich die Frage nach einem angemessenen Ausgleich zwischen der Versorgung der Bevölkerung im Notfall und der zumutbaren Belastung der Apotheken immer wieder neu. Der herausragende Aspekt dabei ist, dass Apotheken durch eine zu große Notdienstbelastung unverkäuflich werden können. Dann bedroht der Notdienst langfristig die Versorgung am Tag. Dieser Aspekt sollte die Maßstäbe grundlegend verändern und wurde wohl in den einschlägigen jahrzehntealten Entscheidungen noch nicht beachtet. Zugespitzt ist zu fragen: Braucht der Ort einen Notdienst in der Nähe oder eine Apotheke am Tage?

Notdienst mit eigenen Stellschrauben regeln
Der Notdienst ist damit ein eigenständiges Thema. Er kann kein Maß für die Versorgungsqualität im „Normalbetrieb“ sein, sondern er muss geregelt werden, ohne die Versorgung am Tag zu sehr zu belasten. Dafür bietet die Organisation des Notdienstes eine eigenständige Stellschraube, die eher zu beeinflussen ist als die Apothekendichte. Es wäre also eher die Organisation des Notdienstes zu ändern als die Apothekendichte. Jedenfalls kann der Notdienst allein kein Grund für den Bestand einer bestimmten Apotheke sein. Vielmehr muss umgekehrt der Notdienst so organisiert werden, dass dies den Bestand von Apotheken nicht gefährdet.

Empirisches statt deduktives Konzept gesucht

Gesucht sind Maßstäbe für den normalen Versorgungs­alltag. Doch es erscheint aussichtslos, aus den vielen relevanten pharmazeutischen und wirtschaftlichen Kriterien auf deduktivem Weg ein Maß für eine notwendige oder für eine „gute“ Apothekendichte herzuleiten, zumal diese immer auch davon abhängt, welche Leistungen die jeweiligen Apotheken bieten. Aussichtsreich erscheint allein eine Betrachtung der Realität. Dabei müssen Gebiete identifiziert werden, in denen sich die Versorgung unter Berücksichtigung aller Umstände als gut oder möglicherweise als problematisch erweist. Diese Gebiete sollten mit einem möglichst universellen Maß beschrieben werden, das anschließend zu validieren ist. Es ist also zu prüfen, ob das Erreichen eines bestimmten Wertes als Indiz für ein drohendes Versorgungsproblem geeignet ist.

Als Kandidaten für ein solches Maß drängen sich in ländlichen Regionen die Relation der Apothekenzahl zur Fläche und in städtischen Regionen die Relation der Apothekenzahl zur Einwohnerzahl auf. Die ABDA veröffentlicht regelmäßig Daten zur Zahl der Apotheken pro Einwohner auf Kreisebene. Doch im ländlichen Bereich ist die Verteilung in der Fläche der begrenzende Faktor. Dünn besiedelte Kreise weisen naturgemäß eine besonders große Zahl von Apotheken pro Einwohner auf und suggerieren oberflächlichen Betrachtern damit eine besonders gute Versorgung. Die Herausforderung auf dem Land bilden aber die großen Gebiete, die eine Apotheke ver­sorgen muss.

Apothekendichte bezogen auf die Einwohnerzahl …

Viele Einwohner, die sich eine Apotheke teilen müssen, sind hingegen das Problem in dicht besiedelten, aber strukturell unterversorgten sozial schwachen Stadtteilen von Großstädten. Dies ist bei einer Betrachtung auf Kreisebene nicht zu erfassen. Um die Versorgungsqualität in Großstädten zu messen, sollte daher die Zahl der Apotheken pro Einwohner auf der Ebene von Stadtteilen verglichen werden, um die gefühlte ungünstige Versorgung in bestimmten Stadtteilen zu objektivieren. Beispielsweise ver­sorgen im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg neun Apotheken 52.683 Einwohner (eigene Recherche). Das ergibt rechnerisch 17 Apotheken pro 100.000 Einwohner. Insgesamt hat Hamburg 381 Apotheken und 1.853.935 Einwohner (Stand Ende 2021). Das ergibt 20,6 Apotheken pro 100.000 Einwohner. Der Vergleich zeigt eine Tendenz, aber um die Versorgung umfassend zu beschreiben, sollten vermutlich auch hier die zu versorgenden Flächen berücksichtigt werden.

… und bezogen auf die Fläche

Um die Versorgungsqualität auf dem Land zu erfassen, sollte die Zahl der Apotheken pro Flächeneinheit systematisch untersucht werden. Zur Orientierung können hier nur einige Beispieldaten betrachtet werden. In Deutschland gibt es im Durchschnitt (Stand Ende 2021) 51,6 Apotheken pro 1000 Quadratkilometer (bei 235 Einwohnern pro km2), im etwas dünner besiedelten Schleswig-Holstein sind es 38,9 Apotheken pro 1000 km2 (bei 185 Einwohnern pro km2), in Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland mit der geringsten Bevölkerungsdichte, sind es 16,5 Apotheken pro 1000 km2 (bei 69 Einwohnern pro km2). Die Apothekendichte sinkt also erwartungsgemäß mit der Bevölkerungsdichte, aber das allein begründet noch keinen Versorgungsmangel. Im Idealfall sollten Regionen betrachtet werden, in denen viele Menschen tatsächlich ihre Versorgung organisieren, also eher kleine räumliche Einheiten. Landkreise sind dafür zu groß. Zudem sind sie oft heterogen, weil sie ein städtisch geprägtes Gebiet um eine Kreisstadt und daneben ländlichen Raum enthalten. Eine angemessene Größenordnung bieten möglicherweise die „alten“ Kreise in Schleswig-Holstein vor der Gebietsreform von 1970. Dazu sollen zwei damalige Kreise betrachtet werden, in denen die Versorgung erschwert ist, weil sie überwiegend durch Küsten begrenzt sind und daher kaum aus benachbarten Gebieten mitversorgt werden können. Im früheren Kreis Oldenburg in Holstein (heute Teil des Kreises Ostholstein) gibt es heute 23 Apotheken, das ergibt rechnerisch 27,5 Apotheken pro 1000 km2. Im früheren Kreis Eiderstedt (heute Teil des Kreises Nordfriesland) sind es nur drei Apotheken, das ergibt 8,9 Apotheken pro 1000 km2 (eigene Recherche). Beide Gebiete gelten als herausfordernd für die Versorgung, aber die Zahl der Apotheken pro Flächeneinheit unterscheidet sich deutlich. Möglicherweise müssen die bevölkerungs- und die flächenbezogene Betrachtung kombiniert werden. Das auffällige Ergebnis für die Halbinsel Eiderstedt deutet allerdings an, dass es unabhängig von der Einwohnerzahl eine Grenze in der erwünschten flächenbezogenen Versorgungsdichte gibt, die dort wohl unterschritten wird.

Dänemark hier kein passender Maßstab

Außerdem bieten sich internationale Vergleiche an. Dabei fällt stets Dänemark als Land mit der geringsten Apothekendichte in Europa auf. Dort gab es am 30. Juni 2015 nur 312 Apotheken, am 2. Juni 2020 waren es 501 (gemäß Danmarks Apotekerforening, Analyse vom 2. Juni 2020). Bei etwa 5,873 Millionen Einwohnern (Stand 2022, gemäß destatis) waren dies etwa 5,3 (im Jahr 2015) bzw. 8,5 (im Jahr 2020) Apotheken pro 100.000 Einwohner. Hinzu kommen von Apotheken betriebene Rezeptsammelstellen und Ausgabestellen für OTC-Arzneimittel in Supermärkten. Offenbar hat die geringe Apothekendichte spürbare Folgen für die Versorgung. Nachdem 2015 die Regelungen geändert und zusätzliche Filialapotheken zugelassen wurden, berichtete der dänische Apothekerverband über verringerte Wartezeiten, erweiterte Öffnungszeiten (am Tage) und einen insgesamt verbesserten Zugang zu Apotheken. Es ging also darum, Unzulänglichkeiten der Versorgung zu beheben. Als Maßstab für gut erreichbare Apotheken ist Dänemark daher nicht geeignet.

Dies gilt wohl auch für den historischen Vergleich mit der Situation in Deutschland vor der Niederlassungsfreiheit, also vor 1958. So wies das Bundesapothekenregister für 1957 in Schleswig-Holstein 252 öffentliche Apotheken aus. Ende 2021 gab es in Schleswig-Holstein 614 Apotheken, allerdings bei ganz anderen Behandlungsmöglichkeiten mit vielen neuen Arzneimitteln und einem anderen Anspruchsniveau als in der Nachkriegszeit. Bemerkenswert erscheint, dass es schon 1957 in den damaligen Kreisstädten Oldenburg in Holstein (jetzt etwa 9900 Einwohner) und Eutin (jetzt etwa 17.000 Einwohner) zwei bzw. drei Apotheken, aber sogar bis 2015 im ähnlich strukturierten dänischen Åbenrå (Apenrade, jetzt etwa 16.700 Einwohner) nur eine Apotheke gab. Dies unterstreicht den traditionell anderen Ansatz in Dänemark.

Österreich nur begrenzt vergleichbar

Eine ebenfalls geringe Apothekendichte weist Österreich mit 16 Apotheken pro 100.000 Einwohner auf, während es in Deutschland 22 Apotheken pro 100.000 Einwohner sind (gemäß ABDA). Dort darf gemäß § 10 Abs. 2 Ziffer 3 des Österreichischen Apothekengesetzes keine neue Apotheke errichtet werden, wenn dadurch eine umliegende Apotheke nur noch weniger als 5500 Einwohner zu versorgen hätte. Damit soll die wirtschaftliche Grundlage aller Apotheken gesichert werden. Wenn diese Zahl immer genau ausgeschöpft würde, ergäbe sich eine Apothekendichte von 18,18 Apotheken pro 100.000 Einwohner. Dies ist jedoch nicht mit Deutschland vergleichbar, weil in Österreich in strukturschwachen Gebieten auch Ärzte Arzneimittel dispensieren dürfen. Angesichts der besonderen Topografie des Landes mit vielen Tälern, die nur über eine einzige Straße erreichbar sind, ist dies ein relevanter Aspekt. Die Grenze von 5500 Einwohnern greift daher praktisch nur in Gebieten mit guter Infrastruktur. Die landesweite Apothekendichte ist ein Quotient aus der Apothekenzahl in gut strukturierten Gebieten und der Einwohnerzahl des ganzen Landes und daher nicht mit der landesweiten Apothekendichte in Ländern mit konsequenter Apothekenpflicht zu vergleichen. Die Grenze von 5500 Einwohnern pro Apo­theke liefert allerdings einen Orientierungswert für städtische Regionen.

Höhere Apothekendichte in Frankreich und Italien

In vielen anderen EU-Ländern ist die Apothekendichte hingegen weit größer als in Deutschland. Bemerkenswert ist, dass dies auch für Länder mit Bedarfsplanung oder mit Niederlassungsbeschränkungen in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl gilt, insbesondere für die großen EU-­Länder Frankreich und Italien. In Frankreich darf eine Apotheke nur eröffnet oder in eine Gemeinde umgesiedelt werden, wenn die Gemeinde mindestens 2500 Einwohner hat. Für eine zweite Apotheke in der Gemeinde müssen dort mindestens 7000 Menschen wohnen, also im Durchschnitt mindestens 3500 Einwohner pro Apotheke (siehe https://www.sempora.com/files/pdf/Value%20Scope%202021/SEMPORA%20Insights:%20Apothekenmarkt%20Frankreich.pdf). Auch in Italien gibt es eine Bedarfs­planung. Dabei kommt es hier nicht auf die regionale Vorgehensweise an, sondern auf das Ergebnis. In Frankreich bestehen 32, in Italien 33 Apotheken pro 100.000 Einwohner (gemäß ABDA). In dieser Größenordnung liegt auch der EU-Durchschnitt von 32 Apotheken pro 100.000 Einwohner (gemäß ABDA). Teilweise kann dies durch die geringere Bevölkerungsdichte von 106 Einwohnern pro km2 in Italien und 202 Einwohnern pro km2 in Frankreich erklärt werden, aber offenbar ist Deutschland mit seiner Niederlassungsfreiheit nach den Maßstäben der Bedarfsplanung in Italien und Frankreich erheblich unterversorgt.

Kein europaweites objektives Kriterium

Demnach muss Bedarfsplanung keineswegs zu einer geringen Apothekendichte führen. Offenbar gibt es auch kein zwingendes objektives und international anwendbares Maß für eine „gute“ Apothekendichte, sondern unterschiedliche Vorstellungen, die auch durch Gewohnheiten geprägt sind. Im internationalen Vergleich unterscheiden sich zudem die Leistungsspektren der Apotheken und die räumlichen Strukturen, in denen alltägliche Erledigungen stattfinden. Darum eignen sich internationale Vergleiche wohl eher als Plausibilitätsprüfung, zur Betrachtung von extremen Werten und als Inspirationsquelle.

Doch für die Beschreibung der Versorgung und zur Identifizierung problematischer Versorgungssituationen müssen auf nationaler Ebene eigene Maßstäbe entwickelt werden. Wegen der Doppelnatur der Versorgung betrifft dies sowohl die Verfügbarkeit in jeder einzelnen Versorgungseinheit als auch die Versorgungsdichte im System. Offenbar gibt es einen Ermessensspielraum für das, was unter guter Versorgung verstanden werden kann. Die Politik muss das Fehlen eines harten und universell anwendbaren Kriteriums für eine gute Versorgung akzeptieren. Das Versorgungssystem ist immer ein Ergebnis aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und historischen Entwicklungen. Damit eröffnet sich ein Korridor von Möglichkeiten. Politisches Handeln ist nur erforderlich, wenn punktuell oder systematisch Grenzen berührt oder überschritten werden, also bei Über- oder Unterversorgung.

Keine Überversorgung …

Es gibt keinen Grund, die geringste akzeptable Versorgung zu suchen und sich dabei über die gewachsenen Strukturen hinwegzusetzen. Ein legitimes politisches Ziel kann nur darin liegen, offensichtliche Unwirtschaftlichkeit durch Überversorgung zu vermeiden. Es gilt, die Effizienz zu sichern und Verschwendung zu verhindern. Diese Bedingung kann für die deutschen Apotheken allgemein als erfüllt betrachtet werden. Denn nach über 20 Jahren nahezu ohne Inflationsausgleich und 14 Jahren mit sinkenden Apothekenzahlen sind ineffektive Betriebe längst geschlossen. Vielmehr hat der Verfasser erst kürzlich dargestellt, dass viele Apotheken offenbar optimale Skalen­erträge erzielen und bei weiteren Vergrößerungen hohe sprungfixe Kosten zu bewältigen hätten (siehe DAZ 2023, Nr. 5, S. 20 ff.). Daher ist nicht zu erwarten, dass eine Reduzierung der Apothekenzahl noch Einsparungen für das System bieten könnte.

… aber möglicherweise Unterversorgung

Nach 14 Jahren mit sinkenden Apothekenzahlen stellt sich allerdings die Frage nach möglicher Unterversorgung. Die obigen Überlegungen haben gezeigt, dass es dafür zwei Betrachtungsebenen gibt. Aufgrund der gewachsenen Strukturen sollte in einem Ort oder Ortsteil, in dem eine Apotheke etabliert ist, diese als notwendige Versorgung betrachtet werden. Wegen der Doppelnatur der Versorgung reicht dies jedoch nicht aus. Die übrigen Aspekte der Versorgung sind so komplex, dass dafür Maßstäbe entwickelt werden müssen. Wenn daraufhin Unterversorgung droht oder bereits besteht, drängt sich ein Strukturhonorar als Gegenmaßnahme auf. Um die möglichen Gestaltungen eines solchen Honorars geht es in einem Folgebeitrag. Sie reichen von einem pauschalen Honorar für alle Apotheken bis zu einer gezielten individuellen Förderung. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, DAZ-Redakteur

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.