DAZ.ONLINE-DOKUMENTATION

Der lange Kampf um die Glinide

Berlin - 08.12.2015, 08:00 Uhr

Diabetespatient misst seinen Blutzucker: Das IQWiG kam zu dem Ergebnis, dass für Repaglinid und Nateglinid ausschließlich Kurzzeitstudien vorliegen. (Foto: Syda Productions - Fotolia)

Diabetespatient misst seinen Blutzucker: Das IQWiG kam zu dem Ergebnis, dass für Repaglinid und Nateglinid ausschließlich Kurzzeitstudien vorliegen. (Foto: Syda Productions - Fotolia)


2010 stoppte das Bundesgesundheitsministerium den Erstattungsausschluss für Glinide durch den G-BA. Dieser Schritt sei jedoch rechtswidrig, befand nun ein Gericht. Das BMG habe "möglicherweise im Interesse des im Vorfeld intervenierenden pharmazeutischen Unternehmens daran festgehalten“. Bleibt es nun dabei?

Zu Beginn war es Routine: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte im Juni 2010 beschlossen, dass bestimmte Glinide nur noch in medizinisch begründeten Ausnahmefällen für niereninsuffiziente Patienten zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dürfen. Es ging um Repaglinid (Novonorm® von Novo Nordisk, seit 2010 auch Generika) und  Nateglinid (Starlix® von Novartis).

Doch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) stoppte den Beschluss, woraufhin der G-BA klagte. Fünf Jahre später gibt das Ministerium seinen juristischen Kampf für die Glinide auf – nachdem das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg dem Ministerium deutlich dargelegt hat, dass die Beanstandung rechtswidrig war.

Aber von vorn:

6. April 2009: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) veröffentlicht seinen Abschlussbericht zur Nutzenbewertung der Glinide. Darin kommt es zu dem Ergebnis, dass für Repaglinid und Nateglinid ausschließlich Kurzzeitstudien vorliegen, aus denen sich kein Beleg für einen Nutzen der Glinide ergibt. Studien mit patientenrelevanten Endpunkten und Langzeitstudien vermisst das IQWiG.

17. Juni 2010: Auf Grundlage des IQWiG-Berichts beschließt der  G-BA die Verordnungseinschränkung für die Glinide. Er begründet diese damit, dass der therapeutische Nutzen dieser Antidiabetika nach allgemein anerkanntem Standard der medizinischen Erkenntnisse nicht nachgewiesen und die Behandlung mit ihnen daher medizinisch nicht notwendig sei. Angesichts der Tatsache, dass zwischen der Markteinführung der Glinide und dem Beschluss neun bis zwölf Jahre vergangen waren, hielt es der G-BA für nicht akzeptabel, dass relevante Studien fehlten.

August 2010: Beschlüsse des G-BA können vom BMG binnen zwei Monaten beanstandet werden; geschieht dies nicht, tritt er nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger in Kraft. Doch im Fall der Glinide wird das Ministerium aktiv. Mit Schreiben vom 12. August 2010   bittet es den G-BA um weitere Informationen und Stellungnahmen, sowie die Beantwortung zahlreicher Fragen. Darunter etwa die Frage, ob nun auch allen anderen im Markt befindlichen Antidiabetika, für die keine Studien zum Langzeitnutzen vorliegen, der Verordnungsausschluss drohe.

Der Hintergrund zu diesem Schreiben geht aus einem zuvor angefertigten internen Vermerk des BMG vom 15. Juli 2010 hervor, der dem Gericht vorlag. Das BMG stellt sich auf den Standpunkt, dass der G-BA einem Arzneimittel aufgrund seiner Zulassung nicht den Nutzen an sich absprechen könne. Er könne lediglich den Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Arzneimitteln bewerten. Wolle der G-BA ein Arzneimittel wegen Unzweckmäßigkeit ausschließen, so müsse er nachweisen, dass das Arzneimittel schlechter ist als die Vergleichstherapie. Zugleich räumt das Ministerium ein, dass die gegenwärtige Rechtslage diese von ihm vertretene Auffassung nicht hergibt. Tatsächlich bestimmte die einschlägige Norm damals, dass der G-BA einen Arzneimittel ausschließen könne, wenn der „therapeutische Nutzen (…) nicht nachgewiesen ist“ (§ 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V a. F.).

Rückblick Dezember 2009/Januar 2010

Pikant ist auch ein anderer interner Vermerk: Schon nach der IQWiG-Bewertung, aber noch vor dem G-BA-Beschluss war beim damaligen parlamentarischen Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium Rechtsanwalt „Professor Dr. Dr. E.“  vorstellig geworden, der eines der von dem G-BA-Beschluss betroffenen Pharmaunternehmen vertrat. Dieser bedankte sich im Anschluss an die beiden Treffen schriftlich bei den Ministeriumsvertretern für die Bereitschaft, mit diesen „im Falle einer entsprechenden Entscheidung des G-BA (…) unter Beteiligung der zuständigen Fachabteilung in einen konstruktiven Dialog treten zu dürfen“.

Oktober 2010: Auf das Schreiben des BMG reagiert der G-BA am 13. Oktober 2010. In einer Stellungnahme macht er seine Rechtsauffassung nochmal deutlich: Er trage nicht die Beweislast dafür, dass der Nutzen eines Arzneimittels nicht hinreichend belegt sei und dieses deshalb nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche.

Am 21. Oktober 2010 vermerkt das Ministerium intern, dass diese Antwort den Dissens mit dem G-BA bei der Auslegung des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V (a.F.) spiegele. Es bleibt bei seiner Meinung, dass der G-BA nicht berechtigt sei, Arzneimittel von der Verordnungsfähigkeit auszuschließen, wenn der Hersteller einige Jahre nach Markteinführung „keinen Nutzennachweis“ im Sinne einer Endpunktstudie erbracht habe. Bereits die arzneimittelrechtliche Zulassung sichere, dass ein Arzneimittel grundsätzlich zur Behandlung der jeweiligen Erkrankung geeignet sei. Das sollte auch das zu diesem Zeitpunkt geplante Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) alsbald klarstellen.

Laut Vermerk wäre eine ergänzende Nachfrage beim G-BA ein Vorteil, bringe sie doch Zeitgewinn. Sobald das AMNOG mit der vorgesehenen Änderung des § 92 SGB V zum 1. Januar 2011 in Kraft trete, sei eine Beanstandung rechtssicher möglich bzw. die neue Rechtslage würde jedenfalls einem Wirksamwerden des Beschlusses grundsätzlich entgegenstehen. Und so hakt das Ministerium am 25. Oktober 2010 noch einmal beim G-BA nach.

Februar 2011: Die Korrespondenz geht weiter, bis das BMG schließlich mit am 21. Februar 2011 den Beschluss des G-BA beanstandete. Dies ließ der damalige G-BA-Vorsitzende Rainer Hess nicht auf sich sitzen und zog vor Gericht.

Mai 2015: Am 27. Mai 2015 entscheidet das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zugunsten des G-BA. Ende August wurden die Entscheidungsgründe veröffentlicht. Darin stellt das Gericht zunächst klar, dass die Klage zulässig ist – insbesondere entfalle angesichts der mittlerweile geänderten Rechtslage nicht das Rechtsschutzbedürfnis für den klagenden G-BA. Überdies sei die Beanstandungsverfügung des Ministeriums rechtwidrig, da sie außerhalb der gesetzlichen Zwei-Monats-Frist ergangen ist.

Das Gericht macht ferner deutlich, dass das Vorgehen des Ministeriums rechtsmissbräuchlich war. Es habe frühzeitig erkannt, dass die von ihm vertretene Rechtsposition mit der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage nicht vereinbar gewesen sei. Gleichwohl habe es „mit Nachdruck – möglicherweise im Interesse des im Vorfeld intervenierenden pharmazeutischen Unternehmens – daran festgehalten“.

„Triebfeder des Anforderungsschreibens vom 25. Oktober 2010“ sei offenkundig nur das Ziel gewesen, das Beanstandungsverfahren zu verzögern. Es sollte weitere Zeit gewonnen werden, um den Abschluss des aufsichtsrechtlichen Verfahrens bis zum damals bereits absehbaren Inkrafttreten des AMNOG hinauszuzögern. Von einer „Gesetzesumgehung“ durch das Ministerium die Rede.

Oktober 2015: Das Ministerium akzeptiert das Urteil nun. Man habe die Urteilsgründe geprüft und sei zu der Erkenntnis gekommen, dass ein weiteres Rechtsmittel wohl „geringe Erfolgsaussichten“ habe, heißt es. Revision zum Bundessozialgericht hat es daher nicht eingelegt.

Glinide im Versorgungsalltag

Im Verordnungsalltag haben die Glinide immer noch ihren Platz. Sie gelten als Alternative bei einer Unverträglichkeit oder Kontraindikation gegen Metformin – trotz mangelnder Langzeitstudien. Zwar sank die Zahl der Tagesdosen in den letzten Jahren. 2014 wurden laut Arzneiverordnungsreport aber immerhin noch 28 Millionen Tagesdosen verordnet (27 Mio. Repaglinid, 1 Mio. Nateglinid). Im Jahr 2009 kam Repaglinid noch auf 31,6 Millionen DDD, Nateglinid auf 4,1 Millionen. Der Preis pro Tagedosis für Repaglinid sank von 1,29 Euro im Jahr 2009 auf im Schnitt 0,91 Euro im Jahr 2014. Für Nateglinid, das weiterhin ausschließlich von Novartis angeboten wird, lag der DDD-Preis 2014 bei 1,72 Euro gegenüber 1,86 Euro im Jahr 2009. Zum Vergleich: Die  Verordnungshäufigkeit der Standard-Antidiabetika Metformin lag 2014 bei 595,2 Millionen DDD, bei Sulfonylharnstoffen waren es 284,4 Millionen. Der durchschnittliche Preis einer Tagesdosis lag bei 0,21 bzw. 0,15 Euro.


Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


Diesen Artikel teilen:


4 Kommentare

Glinide

von Dr Schweikert-Wehner am 08.12.2015 um 13:07 Uhr

Schade um eine gute Gruppe von Antidiabetika. Sie sind besonders in Kombination mit Metformin wertvoll. Aber nur wenige wissen sie richtig einzusetzten! Gegen postprandiale Hyperglykämien sind sie bei Typ 2 Diabetikern ein Ersatz zu Insulin, bei geringerem Hypoglykämierisiko.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Dieser Kommentar wurde von der Redaktion aufgrund eines Verstoßes gegen die allgemeinen Verhaltensregeln gelöscht.

Marken zu Repaglinid und Nateglinid

von Katrin Fürstenau am 08.12.2015 um 11:56 Uhr

Bestimmt hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, denn
Nateglinid wird als Starlix und Repaglinid als Novonorm (und Generika) vertrieben.
Vielen Dank für den Übersichtsartikel zu diesem Thema.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Vertauschte Marken

von Kirsten Sucker-Sket am 08.12.2015 um 17:42 Uhr

Danke für den Hinweis! Der Dreher ist behoben.

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.