Evidenzbasiert beraten

Der VdPP-Brief im Wortlaut

Berlin - 31.12.2015, 09:30 Uhr

Was passiert mit dem Antrag zur Aufarbeitung der Evidenz gängiger OTC-Präparate? Der Verein demokratischer Pharmazeuten schrieb einen Offenen Brief an ABDA-Präsident Schmidt. (Foto: WavebreakmediaMicro - Fotolia)

Was passiert mit dem Antrag zur Aufarbeitung der Evidenz gängiger OTC-Präparate? Der Verein demokratischer Pharmazeuten schrieb einen Offenen Brief an ABDA-Präsident Schmidt. (Foto: WavebreakmediaMicro - Fotolia)


Florian Schulze vom Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) rückte Mitte Dezember das Thema pharmazeutische Evidenz in der Beratung in den Fokus. Nun haben Apothekerin Kerstin Kemmritz und Viktoria Mühlbauer, ebenfalls Vorstand des VdPP, nachgelegt. Mit einem offenen Brief an ABDA-Präsident Friedemann Schmidt.

Sehr geehrter Herr Präsident Schmidt, 

sehr geehrte Damen und Herren des geschäftsführenden Vorstands der ABDA,

der DAZ online vom 18.9.2015 entnehmen wir: „Statt einer Datenbank mit evidenzbasierten Ergebnissen zu Nutzen und Schaden der am häufigsten abgegebenen OTC-Arzneimittel könnte es künftig einen Newsletter geben, der Übersichts- und Originalarbeiten zum Thema für die Apothekenpraxis aufbereitet. Der geschäftsführende Vorstand der ABDA hat entschieden, den Govi-Verlag zu bitten, eine entsprechende Aufwand-Nutzen-Analyse zu erarbeiten“… „ Darüber hinaus soll geprüft werden, ob zusätzlich eine Datenbank mit Kasuistiken und einem Datenbankindex geschaffen wird, in die Fälle aus der Beratungspraxis von den Nutzern eingegeben und von allen Abonnenten recherchiert werden können.“ 

Dieses Vorgehen ist aus unserer Sicht schwer nachvollziehbar. 

Im Perspektivpapier „Apotheke 2030“ steht: „Die öffentlichen Apotheken versorgen ihre Patienten individuell und grundsätzlich evidenzbasiert.“  (Punkt 11, „Näher am Patienten“).  Diese richtige Aussage auch als Aufgabe verstehend, hat  der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) in Kooperation einen Antrag zur Aufarbeitung der Evidenz gängiger OTC-Präparate formuliert, den die Berliner Delegierte Dr. Kerstin Kemmritz auf dem Deutschen Apothekertag 2014 eingebracht und begründet hat. Er wurde mit großer Mehrheit angenommen. Der Vorschlag war, die Evidenzlage beispielsweise durch eine unabhängige, apothekereigene und fachlich kompetente Organisation wie die AMK aufarbeiten zu lassen und die Ergebnisse der Apothekerschaft so zur Verfügung zu stellen, dass diese sie auch alltagstauglich nutzen kann, idealerweise durch eine Einbettung in die ABDA-Datenbank. 

Von diesem Grundgedanken ist nun nichts mehr zu erkennen. Durch einen Newsletter, der aktiv abonniert werden muss, kann nicht geregelt werden, dass die aktuell benötigten Informationen für alle Kolleginnen und Kollegen im entscheidenden Moment verfügbar sind. Zudem sprechen grundsätzliche Bedenken gegen eine Beauftragung des Govi-Verlags: Als Herausgeber der Pharmazeutischen Zeitung, die sich über Werbung der pharmazeutischen Industrie zu OTC-Produkten mitfinanziert, hat er erhebliche Interessenkonflikte, welche die erforderliche Unabhängigkeit des Projektes gefährden könnten. 

Während den Ärztinnen und Ärzten evidenzbasierte Behandlungshilfen etwa in Form von Leitlinien zur Verfügung stehen, hat die Apothekerschaft hinsichtlich der Selbstmedikation wenig Vergleichbares in der Hand. Im praktischen  Apothekenalltag ist es für die einzelnen Apotheker nur schwer möglich, auf allen Gebieten der Selbstmedikation die jeweilig erforderlichen Kenntnisse über die aktuelle wissenschaftliche Datenlage zu Nutzen und Schaden der OTC-Präparate zu erlangen und zu nutzen. Allerdings wird von den Patientinnen und Patienten vollkommen zu Recht erwartet (und vom Gesetz so formuliert!), dass wir in unserer heilberuflichen Tätigkeit den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zugrunde legen. Soll dazu eine Sammlung von Fallbeispielen beitragen? 

Ein richtiges  Armutszeugnis  für die Apothekerschaft ist daher die Überlegung, ersatzweise eine Kasuistik-Datenbank zu erstellen. Sie wäre geradezu das genaue Gegenteil von evidenzbasierter Arbeit! Um die Evidenzlage zu einer bestimmten Fragestellung aufzuarbeiten, sind methodische Kenntnisse und systematisches Arbeiten notwendig. Beides ist weder im Apothekenalltag nebenher zu leisten noch im Pharmaziestudium bisher ausreichend fundiert vermittelt worden und auch nicht durch Fortbildungen  schnell zu erarbeiten!  (wenngleich hier natürlich der Erfahrungsaustausch wichtig ist).  Daher muss bezweifelt werden,  dass in einer von den Nutzern mit Beiträgen bestückten Datenbank das zwingend erforderliche wissenschaftliche  Qualitätsniveau  erreicht werden kann, das im Sinne des Antrags benötigt wird. Natürlich können Informationen und Informationsaustausch wie in einem Newsletter oder einer Fallbeispielsammlung ergänzend hilfreich sein, aber sie können nicht die offizielle  Informationsbasis eines ganzen Berufsstandes sein! 

Es ist klar, dass es sich bei der Aufarbeitung und Aktualisierung der für OTC-Präparate bestehenden Evidenz um ein Langzeitprojekt handeln würde, das nicht ohne die Bereitstellung finanzieller Mittel zu realisieren ist. Dieses Projekt trotzdem in Angriff zu nehmen und jetzt einen Anfang zu machen, würde jedoch ein deutliches Signal senden, wie ernst die Apothekerschaft die evidenzbasierte Pharmazie und die heilberufliche Verantwortung auch in der Selbstmedikation nimmt. Die momentan angedachte Umsetzung lässt jedoch nur den Schluss zu, dass in der ABDA der politische Wille zu einer konsequenten Evidenzbasierung fehlt und deren Bedeutung für das pharmazeutische Kerngebiet „Selbstmedikation“ verkennt. Immer wieder in der Öffentlichkeit erhobene Angriffe gegen die Qualität der Beratung sollten vom Berufsstand sehr ernst genommen werden. Wer das Expertentum auf diesem Gebiet aus der Hand gibt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Apotheker  im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung verlieren. Und dies ginge nicht zu Letzt sehr zulasten der Patientinnen und Patienten! 

Auf dem Deutschen Apothekertag 2014 haben Sie, sehr geehrter Herr Schmidt, betont: „Wir sind Naturwissenschaftler und keine Künstler, und wollen es auch bleiben“. 

Wir nehmen Sie beim Wort und bitten Sie um Klärung im geschäftsführenden Vorstand, wie die ABDA gedenkt, den Inhalt des Antrags umzusetzen oder ob dieser tatsächlich nur in das eingangs von DAZonline zitierte Vorgehen münden soll. Dazu gehört auch, im Kontakt mit den Antragsstellern die Vorgehensweise zu diskutieren und zu kommunizieren, zumal wenn der Antrag in einer deutlich anderen, vom Inhalt und Hintergrund des Antragstextes abweichenden Form umgesetzt werden soll. 

Wir fordern Sie daher dringend auf, im Sinne der Glaubwürdigkeit der Apotheker als Arzneimittelfachleute mit dem Antrag nicht irgendetwas zu tun, sondern die Zielsetzung des Antrags zu verfolgen im Sinne der Übernahme von Verantwortung für eine evidenzbasierte Beratung in den deutschen Apotheken. 

In diesem Sinne stehen Ihnen nicht nur die Unterzeichner, sondern auch eine Vielzahl weiterer Kolleginnen und Kollegen mit weitreichenden Erfahrungen auf dem Gebiet der evidenzbasierten Pharmazie jederzeit auch für ein gemeinsames Gespräch oder eine weitere Projektplanung zur Verfügung. Ergreifen Sie diese Chance! 


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10 Kommentare

Verkäufe

von Holger Hennig am 04.01.2016 um 10:27 Uhr

Könnte es vielleicht sein, dass die Standesführung nicht nur die Arbeit/Kosten für den Aufbau einer solchen evidenzbasierten Datenbankstruktur scheut, sondern sich dessen bewusst ist, dass Konsequenz einer solchen Evizenzfokussierung sein könnte, dass weniger verkauft wird? Ich will das nicht hoffen, weil das natürlich die Karikatur des angeblichen Primats der Pharmazie über die Ökonomie wäre, aber: honi soit qui mal y pense ...

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evidenzbasierte Datenbank

von carola schmidt am 31.12.2015 um 13:35 Uhr

Ein Newsletter ist wirklich nicht zielführend! Nur eine Einbettung einer gut geführten Datenbank zum Thema evidenzbasierte Selbstmedikation in die Abdadatenbank und damit in die Kassensysteme ist nämlich auch für eine PTA am HV-Tisch schnell und einfach zu konsultieren. Und der größere Teil der Beratungen in Apotheken wird nun mal von PTAs durchgeführt. Ein Newsletter, der den Apothekenleiter erreicht, dann eventuell ausgedruckt an die Mitarbeiter weitergeben wird oder vielleicht sogar Thema einer Mitarbeiterweiterbildung ist, kann nie den selben Effekt haben. Selbst im optimalen Fall.

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Handlungsfähigkeit..

von Reinhard Rodiger am 31.12.2015 um 11:15 Uhr

anmahnen zu müssen wirft ein Schlaglicht auf die Unwilligkeit, die Niederungen des Alltags überhaupt zu berücksichtigen.
Es ist kein Zufall, dass die Strategie der Vernachlässigung der Lebensader der Selbstmedikation mit all ihren Facetten zur falschen Gewichtung in der Politik führt.Bei der standespolitisch aktivierten Marktbereinigung ist ja auch keine Notwendigkeit, sich mit den Anforderungen der Zukunft auseinanderzusetzen.Dazu gehört auch die Überarbeitung und Anpassung der vorhandenen ABDA-Datenbank.Sie verlangt mehr Zeitaufwand als neuere auf leichtere Übersicht , bessere Gewichtung der Relevanz
und Visualisierung ausgerichtete Anwendungen.
Das Ignorieren aller meinungsbildenden Massnahmen zu den eigenen Verantwortlichkeiten und den gegebenen Leistungen ist die Ursache der politischen Missachtung.

So wirkt das Verfolgen der Eliminierung der lästigen 60% zu kleinen Betriebe nur konsequent.Für den Rest braucht es keine Evidenz.

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up to date

von Dr.c.m.klotz am 31.12.2015 um 10:56 Uhr

Man muss sich bei einem solchen Thema nur fragen, wie würdn das andere lösen. Dann liegt die messlatte der Beurteilung richtig.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, zu vermuten, dass zu diesem Thema die Arbeitshaltung bei der ABDA mehr als zu wünschen übrig lässt. Ich vermisse den Ergeiz, dass beste und schnellste Informationssystem auf die Beine stellen zu wollen, damit der Berufsstand in Sachen Arzneitmittelkompetenz - letztlich ist es dabei wurscht, ob es sich um Rx oder OTC-Arzneimittel oder sogar Pseudoarzneimittel handelt - möglichst immer die Nase vorn hat. Denn nur so fällt der Anspruch, den Björn Kersting immer wieder gerne propagiert: Die Apotheker wissen über Arzneimittel mehr als Ärzte - nicht in sich zusammen.
Selbst in ihren Formulierungen sind die ABDA-Vertreter nicht einmal ansatzweise auf diesem Pfad.
Wie können wir das ändern. Mit Appellen?
Übrigens die Antragsfrist zum DAT 2016 endet a,m 28.08.2016
Die Antragsfrist zur Gestaltung der Tagesordnung des DAT endet am 28.07.2016

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AW: Das schnellste Informationssystem

von Schneider am 31.12.2015 um 16:09 Uhr

Ich stimme Ihnen zu Herr Dr. Klotz.
Wenn die Apotheker dieses System nicht innerhalb der nächsten 3-5 Jahre haben, werden es "Apps" von Fremdanbietern können. Das ist zwar nicht im Sinne einer Beratung ohne Interessenkonflikte, aber es wird kommen. Die "Beratung" des Apothekers wird dann nicht mehr gebraucht.

AW: Wir brauchen eine neue Datenhoheit!

von Kerstin Kemmritz am 31.12.2015 um 17:03 Uhr

Du hast völlig Recht: Egal, ob OTC oder Rx, wir müssen die Hoheit über Daten haben, die mit dem Arzneimittel zu tun haben. Dazu gehören für mich auch ganz klar Evidenzdaten, Anwendungsdaten, Informationen zu Nahrungsergänzungsmitteln und nicht nur wie derzeit erweiterte Packungsbeilagen in altertümlichen Datenstrukturen wie in der jetzigen ABDA-Datenbank. Wie sollen wir mit diesen restriktiven Daten d Suchfunktionen Recherchen zum Medikationsmanagement durchführen?

Wir müssen jetzt in unsere Zukunft investieren wie auch Schneider schon treffend formuliert hat!

AW: Datenhoheit

von Reinhard Rodiger am 03.01.2016 um 21:27 Uhr

Es existieren schon visuell ausgerichtete Datenbanken zB Scholz-DB für Ärzte.Sie ermöglichen unter Einbeziehung der Relevanz schnellere und alltagstaugliche Entscheidungen.
In fortgeschrittener Vorbereitung sind entscheidungsvorbereitende und absichernde Arztsysteme.Deren Zweck ist Konzentration der Entscheidung an einem Ort.Wir dagegen überlassen bisher die Handhabbarmachung der ABDA-Datenbank den EDV-Dienstleistern.Da liegt der Hund begraben.Es gibt genug,aber nicht unter eigener Kontrolle. Das Vorhandene muss bewertet und genutzt werden.Nicht zu vergessen: wir verkaufen die Datenbasis an die zukünftigen Konkurrenten,nur preiswerter als an unsere Leute.

Datenbank erstellen

von Christiane Patzelt am 30.12.2015 um 17:32 Uhr

Es war in Schladming, Januar 2015, als mir der Vorsitzende der Bundesapothekerkammer Herr Kiefer in einer öffentlich gehaltenen Rede mitteilte, dass das Faxgerät schon das allermodernste Geräte sei, mit dem man heutzutage kommunizieren kann! Das unsere Kunden bei uns per mail, whatsapp,twitter, skype und andere Kanäle mit uns in Kontakt tritt, sehen diese Herren aus der Generation 60plus einfach nicht mehr! Mein Fazit: die Herren aus der Führungsriege sind viel zu technikängstlich und unflexibel, nicht mehr am Puls der Zeit und schon gar nicht mit dem Ohr an der Basis. Für mich sind Schmidt und Arnold wie Erich und Margot Honecker, die einfach nicht verstehen, dass die Zeit um sie herum viel schneller vorbeifliegt. Wenn die ABDA keine Datenbank will, will sie keine Datenbank! Punkt! Machen wir uns eben selber eine: Geld in Topf gesammelt mit KfW-Geldern aufgetunt und dann das Ding an interessierte Apotheken verkaufen. Wenn Herr Ponawallah noch nix im Köcher haben sollte....

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AW: Bitte das Schreikissen....

von gabriela aures am 30.12.2015 um 17:42 Uhr

...zum Mund führen :
Dr. Kiefer ist "Baujahr" 1961 !

Also....

von gabriela aures am 30.12.2015 um 16:13 Uhr

...im PP steht ja auch gewollt nix von den 40% Packungen aus der Selbstmedikation - das war damals schon nicht wichtig genug- warum jetzt den Finger in die Wunde des Vergessens oder Bewußten Ausklammerns legen ?
Das Vorgehen ist ABDA-typisch: delegieren bis das Thema versandet.
Auf jeden Fall möglichst wenig bewegen.
Mir dünkt, es herrscht das Motto: wer was tut, kann auch Fehler machen - also tun wir lieber präventiv mal gar nichts.
Gerät das Thema dummerweise nicht in Vergessenheit, weil einige Unbelehrbare wie z.B. die Kollegin Kemmritz und ihre Berliner Unholde immer wieder damit anfangen, dann kann man die Dramaturgie ja am beliebten Beispiel "DAT- Antrag auf Mitgliedschaft im G-BA " ablesen:
Abschließende Verkündung des GV, keine Lust mehr zu haben (es gäbe ja eine abschließende und vollumfänglich ablehnende Beurteilung), sich damit zu beschäftigen und entsprechende Verärgerung auf dem Podium bei Zuwiderhandlung.
Klappe zu, Deckel drauf, fertig.

Das ist das Drama unserer Standesvertretung: die Macher , die Aufgeweckten, die Umtriebigen,Unbequemen und Mutigen sind im Kanon der 34 leider immer noch in der Unterzahl.

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