Zwischenfall in Rennes

Experten untersuchen irreversible Wirkungen von BIA 10-2474

Stuttgart - 09.03.2016, 15:30 Uhr

Eingang der Notaufnahme der Uniklinik Rennes, wo ein Proband der Studie zu BIA 10-2474 starb und fünf weitere eingewiesen wurden. (Foto: picture alliance / dpa)

Eingang der Notaufnahme der Uniklinik Rennes, wo ein Proband der Studie zu BIA 10-2474 starb und fünf weitere eingewiesen wurden. (Foto: picture alliance / dpa)


Es handele sich um eine sehr unspezifische Substanz, die anders als angegeben wohl irreversibel bindet: Die Expertenkommission der französischen Gesundheitsbehörde wirft mehr neue Fragen auf, als sie beantwortet. Gleichzeitig veröffentlichen die Experten einen Fragenkatalog an den portugiesischen Pharmahersteller Bial.

Wie kam es zu dem verhängnisvollen Zwischenfall bei der Phase-1-Studie in Rennes? Derzeit untersucht eine zwölfköpfige Expertenkommission um den Pharmakologen Bernard Bégaud von der Universität Bordeaux den Zwischenfall mit der Prüfarznei BIA 10-2474. Während sich zuerst alle Augen auf das Auftragsforschungsinstitut Biotrial gerichtet haben, ist nun der portugiesische Hersteller Bial im Visier Experten. Obwohl die Untersuchungen bis Ende März abgeschlossen sein sollen, stochert die Kommission noch im Nebel, wie ein am Montagabend veröffentlichter Zwischenbericht zeigt.

Ein möglicher Grund für den tragischen Zwischenfall ist, dass BIA 10-2474 nicht nur wie gewünscht auf das Endocannabinoid-System wirkt, um Schmerzen zu verringern. Es könnte neben der eigentlichen Zielsubstanz Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH) auch andere Enzyme erheblich hemmen, fürchten die Experten. Sie haben sich daher nochmal grundsätzlich die Wirkweise der Substanz angesehen und halten in ihrem Bericht fest, dass die Arznei von Bial im Gegensatz zu anderen FAAH-Hemmern, die beispielsweise Pfizer oder Janssen entwickelt hatten, äußerst unspezifisch wirkt. Aus den Versuchen mit Ratten hätte sich ergeben, dass der Wirkstoff vergleichsweise wenig Affinität zu den Fettsäureamid-Hydrolasen habe. „Die aktuell zur Verfügung stehenden Unterlagen diskutieren nicht die Spezifizität von BIA 10-2474 gegenüber FAAH im Vergleich mit anderen Hydrolasen“, schreibt die Kommission. „Dies muss dokumentiert werden, um die Plausibilität von Off-Target-Effekten bewerten zu können.“

Bindet BIA 10-2474 tatsächlich irreversibel?

Doch noch eine andere grundlegende Frage ist offen, die für Wirkungen wie Nebenwirkungen entscheidend ist: Geht BIA 10-2474 feste Bindungen mit FAAH ein, handelt es sich also um einen irreversiblen Hemmstoff – oder um einen reversiblen? Bial stellt die Substanz als reversiblen FAAH-Hemmer vor, doch im Vergleich mit bekannten irreversiblen Wirkstoffen zweifeln die Experten daran: „Die strukturelle Ähnlichkeit und die Analyse seines chemischen Aufbaus würden uns dazu bringen, BIA 10-2474 als irreversiblen und nicht als reversiblen FAAH-Hemmer einzustufen“, so die Kommission. Ein Anhaltspunkt für die Bindungsstärke ist die Frage, ob die Substanz starke kovalente Bindungen eingeht.

Der Apotheker Tom Sundermann von der Uni Heidelberg teilt die Einschätzungen der französischen Kollegen: „Von der Struktur selber her würde ich annehmen, dass es durchaus dazu fähig ist, kovalente Bindungen einzugehen“, sagt Sundermann, der selber in seiner Promotion an kovalenten Hemmstoffen gearbeitet hat. Für ein abschließendes Urteil bräuchte es jedoch Bindungsstudien, die ihm bereits in der Patentschrift zu BIA 10-2474 fehlen. Auch die Expertenkommission hat diese von Bial offensichtlich bisher nicht erhalten. Offen ist, ob Bial sie unter Verschluss hält, oder ob sie gar nicht existieren. „Es wäre schon sehr fahrlässig, wenn sie es nicht konkret überprüft hätten – darauf beruht die ganze weitere Vorgehensweise“, sagt Sundermann.

Die Experten diskutieren verschiedene Hypothesen

Im Bericht werden einige Hypothesen erwogen, warum es am Ende zu den starken Problemen kam. Neben einer Wechselwirkung mit anderen Produkten, die die Probanden vielleicht zu sich genommen haben, gehören für Sundermann unspezifische Effekte auf weitere Enzyme zur möglichen Erklärung. Dies kann auch zusammenpassen mit dem Fund der Kommission, dass die getesteten Dosen von BIA 10-2474 sehr hoch waren: Vollständige FAAH-Hemmung hätte es schon bei Wirkstoffmengen unterhalb von 5 Milligramm geben müssen, doch erhielten die Probanden der letzten Gruppe täglich 50 Milligramm – im Vergleich zu den 20 Milligramm der Vorgruppe spricht der Bericht von einer „brachialen“ Erhöhung. Anders als in der vorherigen Gruppe hätte sich auch kein konstanter Plasmaspiegel eingestellt, welcher stattdessen über die Tage weiter angestiegen sei, so dass es wohl zu einer weiteren Kumulation der Prüfsubstanz kam.

Die Experten decken außerdem bisher unbekannte Nebenwirkungen bei früheren Versuchen auf: Neben zwei Hunden mussten insgesamt sechs Primaten „aus ethischen Gründen“ bei den präklinischen Versuchen eingeschläfert werden. Die Dosen seien jedoch – im Verhältnis zum Körpergewicht – ungefähr 80- bis 320-fach größer gewesen als die Wirkstoffmengen, die den Versuchsteilnehmern verabreicht wurden.

Bei gesunden Probanden habe es insgesamt 18 Nebenwirkungen gegeben, von denen elf kardiovaskulär gewesen seien, ansonsten habe es sich um leichte Schwindelanfälle oder Kopfschmerzen gehandelt. Allerdings habe es auch bei zwei Probanden, die über zehn Tage hinweg 10 Milligramm BIA 10-2474 bekamen, jeweils zwei Episoden mit Sehtrübungen und Doppeltsehen gegeben. Der Prüfarzt und das Überwachungskomitee hätten diese Symptome nicht als relevant eingestuft.

Warum beantwortet Bial nicht die entscheidenden Fragen?

Entscheidende Fragen zur Wirkweise von BIA 10-2474 wird nur Bial beantworten können. Und so liest sich der Bericht auch als mahnende Aufgabenliste an den portugiesischen Hersteller: Da die Experten wohl auf direktem Wege nicht weiterkamen, wollen sie anscheinend den Druck der Öffentlichkeit nutzen. Neben der dringenden Aufklärung der pharmakokinetischen Details wollen sie von Bial beispielweise wissen, warum nicht nur – wie bei neurologischen Wirkstoffen üblich – Experimente an Ratten und Primaten durchgeführt wurden, sondern an gleich vier Spezies. Außerdem fordern sie Aufklärung über die Obduktionen der Tiere ein, die während der Versuche getötet wurden.

Fraglich bleibt, ob angesichts der weiterhin großen Unklarheit tatsächlich bis Ende des Monats mit einem Ergebnis der Untersuchungen zu rechnen ist. Für die betroffenen Probanden und ihre Angehörigen und die Hinterbliebenen ist die Lage mehr als unbefriedigend. Die Familie des verstorbenen Probanden will sich nach Informationen von DAZ.online in Kürze an die Medien wenden, um eine Reihe von Fragen an den französischen Staat und die Justiz zu richten. Bisher habe sie noch keine Informationen zu den Umständen des tragischen Tods erhalten. 


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