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AMK-Vorsitzender Martin Schulz
Eine Katastrophe für Forschung und Patientenversorgung
In den letzten Wochen gab es zwei Hiobsbotschaften für die evidenzbasierte Medizin: Das DIMDI will seine Literaturdatenbanken abschaffen und die Zentralbibliothek Medizin könnte komplett abgeschafft werden. Laut Martin Schulz, Vorsitzender der AMK der Deutschen Apotheker, hätte dies große Auswirkungen – auch für die Offizin.
DAZ.online: Derzeit ist unklar, inwiefern die Zentralbibliothek Medizin (ZB MED) und Literaturdatenbanken des DIMDI eine Zukunft haben: Die ZB MED soll laut einem Aufsichtsgremium ihrer Dachorganisation geschlossen werden, während das DIMDI sein Literaturdatenbankangebot weitgehend einstellen und eigentlich an die ZB MED abgeben wollte. Inwiefern sind beide beispielweise für den Offizinapotheker wichtig, Herr Schulz?
Martin Schulz: Offizin- wie auch Krankenhaus-Apotheker sind darauf angewiesen, Informationen aufbereitet zu bekommen. Alle, die beispielsweise Übersichtsartikel verfassen, müssen – beziehungsweise sollten – viel informierter sein als die Leser: Was sie recherchieren, sollte den gesamten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse umfassen. Für eine Evidenz-basierte Beratung in der Selbstmedikation, aber auch bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist es essenziell, dass die gesamte Literatur einbezogen wird. Insofern ist es enorm wichtig, dass Multiplikatoren Zugang zum gesamten Wissen und der gesamten Literatur haben. Beim DIMDI gibt es den großen Vorteil, dass man zu vertretbaren Kosten parallel in mehreren Datenbanken recherchieren kann. Zukünftig wird dies nicht nur enorm aufwändig sondern auch teuer. Es ist zu befürchten, dass nicht wenige nur noch auf frei zugängliche Informationen zurückgreifen und dadurch viele Quellen weglassen. Das würde aber dem eingangs genannten Auftrag nicht mehr gerecht werden.
DAZ.online: Das DIMDI will sich zukünftig auf „seine gesetzlichen Aufgaben“ konzentrieren und – unter dem Schlagwort „Fakten statt Literatur“ – zukünftig nur noch auf Fakten-basierte Datenbanken setzen. Klingt dies für Sie plausibel?
Schulz: Diese Begründung kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Bisher war das DIMDI die zentrale Stelle, um umfassend medizinisch-pharmazeutische Literatur zu recherchieren. Die zusätzlichen Aufgaben, die das Institut in den letzten Jahren bekommen hat, sollten ja auch mit mehr Personal einhergegangen sein – ich kann mir nicht vorstellen, dass das der zentrale Punkt für die Entscheidung ist. Unabhängige Forscher müssen sich umfassend selbst informieren können und beurteilen können, ob die Inhalte von Fakten-basierten Datenbanken vollständig und korrekt sind. Fakten-basierte Informationen sind wichtig – doch die ABDA-Datenbank, die auch beim DIMDI angeboten wird, hat sowieso bereits jede Apotheke. Wichtig ist eine umfassende Recherche in der Primär-Literatur, auch in Literaturdatenbanken wie EMBASE, IPA oder PsycINFO, die sonst nur für enorm viel Geld angeboten werden. Dort einzusparen, wo es mit vertretbarem Kostenaufwand die Möglichkeit gibt, in zehn oder zwanzig Datenbanken umfassend zu recherchieren, ist nicht nur für die Forschung sondern auch für die Generierung, Aufbereitung und Weitergabe von Informationen und damit für die Patientenversorgung eine Katastrophe.
DAZ.online: Gibt es keine Alternativen?
Schulz: Die derzeitigen umfassenden Angebote des DIMDI werden meines Wissens nirgendwo anders zu vertretbaren Kosten abgedeckt, die gehen völlig in kommerzielle Hände. Das müsste eigentlich dazu führen, dass Wissenschaftler in jedem Forschungsantrag erheblich höhere Kosten für die Literaturrecherche und Literaturgenerierung aufnehmen. Das halte ich insgesamt für keine gute Entwicklung. Dass es keinen riesengroßen Aufschrei geben wird, liegt vermutlich daran, dass jeder denkt, irgendwie klarzukommen. Diejenigen, die die Literatur aufbereiten und eine Multiplikator-Funktion haben, merken das erst viel später.
DAZ.online: Der DIMDI-Sprecher räumte ein, die Recherchen könnten zukünftig etwas teurer werden.
Schulz: Etwas teurer ist gut: Ein 30-Tage-Pass für eine Recherche für eine systematische Übersichtsarbeit oder Metaanalyse kostet zum Beispiel bei Ovid schlappe 1200 Euro. Für Übersichtsarbeiten zu beispielsweise Erkältungskrankheiten oder Antirheumatika müssen mehrere Datenbank-Quellen berücksichtigt werden. Aus welchem Topf soll das bezahlt werden? Dazu muss man sich ja noch die Primärliteratur besorgen. Wenn man sich diese nicht über einen riesengroßen Universitäts-Zugang besorgen kann, ist man darauf angewiesen, sich die Artikel einzeln bei den Zeitschriften zu kaufen. Da kann ein einzelner Artikel mal schnell 35 Euro kosten. Wenn jetzt sowohl die DIMDI-Datenbanken wegfallen als auch – vielleicht noch schlimmer – die ZB MED geschlossen wird, hat das enorme Auswirkungen für diejenigen, die die Daten recherchieren und beispielsweise Apothekern aufbereitet zur Verfügung stellen.
DAZ.online: Können Sie die Empfehlung des Leibniz-Senats nachvollziehen, die ZB MED abzuwickeln, da dort nicht genug geforscht würde?
Schulz: Ich halte eine Institution, die Literatur zentral zur Verfügung stellt, für sehr sinnvoll – das muss gefördert werden. Das hat nichts mit Forschung zu tun, sondern ist eine Dienstleistung. Zudem gab es Verzögerungen bei der Berufung von Professoren. Dass zentrale Institutionen regelmäßig Probleme haben mit dem Forschungsanteil, gilt beispielweise auch für das BfArM. Forschung ist sicher auch zu unterstützen, aber bei der Informationsflut von mehr als 25.000 Publikationen zu randomisierten Studien pro Jahr oder etwa 75 RCTs und mehr als 10 Übersichtsarbeiten pro Tag kann auch die größte Uni sich das nicht mehr alles leisten. Deshalb ist es vernünftig, dass es von zentralen Institutionen zur Verfügung gestellt wird. Auch der Trend, sich vorrangig und manchmal ausschließlich mit frei zugänglicher Literatur zu beschäftigen, die via PubMed Central auch als Volltext heruntergeladen werden kann, ist kritisch zu sehen – dieser dürfte sich weiter verstärken.
DAZ.online: Aber ist derzeit nicht vieles ohnehin kostenlos verfügbar?
Schulz: Die amerikanische Regierung hat sich vor längerer Zeit dazu entschlossen, alle Inhalte von Medline (PubMed) für jeden Menschen frei im Internet zur Verfügung zu stellen. Doch nicht alle Zeitschriften sind in PubMed indiziert, vor allem nicht-englischsprachige. So geht alles, was nicht durch Pubmed abgedeckt ist, verloren. Es ist kontraproduktiv, dass alle denken, PubMed reicht aus – denn der Ansatzpunkt der evidenzbasierten Medizin und Pharmazie ist, dass wirklich alles erfasst wird. Auch Zeitschriftenbeiträge, die nicht in PubMed verfügbar sind, wie beispielsweise jene, die in ihrer Heimatsprache veröffentlicht sind. So sind unter anderem die Deutsche Apotheker Zeitung, die Pharmazeutische Zeitung, die Krankenhauspharmazie, Arzneimitteltherapie, arznei-telegramm oder die deutsche Ausgabe der Ärztezeitung nicht in PubMed indiziert. Dadurch werden vielleicht Untersuchungen oder Studien wiederholt, die schon lange gemacht sind, was vor allem aufgrund der Patientengefährdung unethisch ist. Es ist dann so, als ob diese Studien scheinbar nicht stattgefunden haben, weil es sich jeder einfach macht. Es wäre sinnvoll, diesen Trend nicht noch zu verstärken, sondern ihm entgegenzuwirken.
DAZ.online: Wie soll es mit ZB MED und den DIMDI-Datenbanken aus Ihrer Sicht nun weitergehen?
Schulz: Ich wünsche mir, dass die Entscheidungen nicht umgesetzt sondern rückgängig gemacht werden. Ansonsten wären dies sehr düstere Aussichten für die Forschung und Patientenversorgung. Derzeit kann sich jeder auch an einer Petition zum Erhalt der ZB MED beteiligen.
Eigentlich müsste man fordern, einen zentralen freien Zugang zu Literaturdatenbanken für alle einzurichten. Hierbei sind der Titel, Autoren und Abstract aber nicht genug: Man müsste auch die Artikel selber zugänglich machen. Wir leben in einer globalen Welt und müssen auch die Forschungsergebnisse aus Korea, China, Brasilien oder Australien heranziehen. Die Schweiz hat gerade einen Zugang für alle Menschen zur Cochrane-Datenbank eröffnet – das wäre gleichfalls in Deutschland möglich und wünschenswert, auch für andere Datenbanken. Ich denke, beim DIMDI bestehen die technischen Möglichkeiten hierfür. Man müsste nur bereit sein und auch etwas Geld in die Hand nehmen, da es ohne Frage mit einigen Kosten verbunden ist. Aber es ist günstiger, die Zugänge zentral zu betreiben, als wenn jedes Bundesland oder jede Uni selber das Geld hineinstecken muss.
DAZ.online: Sehen sie einen entsprechenden politischen Willen?
Schulz: Nein, derzeit kann ich den nicht erkennen. Cochrane Deutschland
versucht seit Jahren, die Zugangsmöglichkeiten zu den Cochrane-Datenbanken zu
vergrößern. Das Bundesforschungsministerium wäre sicherlich der richtige
Ansprechpartner, dort sollte genügend Geld vorhanden sein. Was die Bundesländer
für Abos und Zeitschriften-Zugänge der Universitäten bezahlen, ist enorm. Wenn
man das zusammentragen würde und Bund und Länder sich abstimmen würden, könnte
das sicher einen großen Beitrag leisten, um bundesweite Zugänge kostenlos oder
zumindest kostengünstig anzubieten.
Der Apotheker Prof. Dr. Martin Schulz ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK). Außerdem ist er bei der ABDA Geschäftsführer für den Geschäftsbereich Arzneimittel sowie Geschäftsführer Pharmazie des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts e.V. (DAPI). Außerdem lehrt er als Honorarprofessor am Biozentrum der Goethe-Universität Frankfurt.
1 Kommentar
Wer ist dafür verantwortlich .......
von Gunnar Müller, Detmold am 22.04.2016 um 10:06 Uhr
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