Diskussion um Smartphones

Mehr Fluch als Segen für die seelische Gesundheit?

Homburg / Zürich / Ulm - 12.08.2016, 09:10 Uhr

Was ist noch hilfreich - und was zu viel? Smartphones sind umstritten. (Foto: Studio Porto Sabbia / Fotolia)

Was ist noch hilfreich - und was zu viel? Smartphones sind umstritten. (Foto: Studio Porto Sabbia / Fotolia)


Können Menschen süchtig nach ihrem Smartphone werden? Viele Forscher glauben, dass die Verwendung dieser Mobiltelefone problematisch sein kann. Ob man aber tatsächlich von einer Sucht sprechen kann, darüber sind die Meinungen geteilt.

Am Ende sah Herr B. nur noch einen Ausweg aus der Krise: Er suchte ärztliche Hilfe in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum des Saarlands in Homburg. Sein Problem: Mit seinem Smartphone nutzte er exzessiv Chat-Apps. Schon früher hatte der 38-Jährige eine Tendenz zu depressiven Symptomen, dann nutzte er die Apps ständig, um seine Freundin zu kontrollieren. Nun gehe es ihm schlechter, er leide unter gedrückter Stimmung, Unruhe und Konzentrationsstörungen, berichteten die beiden Psychiater Nadine Wolf und Christian Wolf kürzlich in der Zeitschrift „Nervenheilkunde“. „Er sei grundsätzlich ein ‚eher eifersüchtiger Typ‘ und befürchte, dass seine Partnerin mit anderen Männern ‚anbandeln‘ könne“, beschreiben sie seine Selbsteinschätzung.

Zwar nutzte B. auch früher schon die Chat-Funktionen seines Handys, doch die Kurzbotschaften nahmen inzwischen sehr viel Zeit in Anspruch. „Er sei mindestens vier Stunden täglich damit beschäftigt, Nachrichten an seine Lebensgefährtin zu versenden, schon alleine um überprüfen zu können, ‚was sie gerade so macht‘. Er könne ja sehen, ob sie gerade online sei oder nicht.“ Seine Versuche, die Chat-App-Nutzung auf eigene Faust zu beenden, scheiterten. Die Partnerin fühlte sich zunehmend bedrängt und bat schließlich um räumliche Trennung. Die Angst davor, die Beziehung könne zerbrechen, trieb den Mann schließlich in die Uniklinik.

Kein Einzelfall

Es handele sich um einen Einzelfall, betont Ko-Autorin Nadine Wolf. „Dieser Patient hat unsere Aufmerksamkeit erregt, weil er den Aspekt auf das Smartphone und Chat-Apps gelenkt hat.“ Dennoch: Generell stießen die Auswirkungen der Smartphone-Nutzung zunehmend auf wissenschaftliches Interesse. Zwar könnten Chat-Apps nützlich sein, etwa bei der palliativen Versorgung in der häuslichen Umgebung oder bei der Datenübermittlung in der Telemedizin, schreiben die Autoren. Aber: „Für die seelische Gesundheit hingegen, so legen es zumindest aktuelle Publikationen in medizinischen und psychologischen Fachzeitschriften nahe, könnte das Smartphone samt Apps vielleicht mehr Fluch als Segen sein.“ Das bei B. beschriebene Phänomen werde aller Voraussicht nach kein Einzelfall bleiben. Zudem, so heißt es weiter, gälten alle von dem Patienten angegebenen Symptome als Merkmale von Suchtverhalten.

Smartphones machen süchtig

Eine Smartphone-Sucht also? Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, hält den Begriff für durchaus gerechtfertigt. „Sucht ist ein Verhalten, das man nicht mehr unterlassen kann, weil sonst Unruhe und Angst entstehen“, sagt der Autor des Buches „Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert“. „Man tut es nicht, weil man es gut findet, sondern um sein Unwohlsein zu bekämpfen.“

Zwar gebe es Smartphone-Sucht noch nicht als offizielles Krankheitsbild, räumt Spitzer ein. Aber: „Der Einfluss der Smartphones ist in den vergangenen Jahren gestiegen.“ Auch die wissenschaftliche Datenlage sei besser geworden. Der Psychiater sieht eine neurobiologische Parallele zur Spielsucht, der einzigen bislang offiziell anerkannten Verhaltenssucht - also nicht auf Substanzen bezogenen Abhängigkeit. Untersuche man das Gehirn von Smartphone-Nutzern per Magnetresonanztomografie (MRT) und zeige ihnen einschlägige Symbole – etwa das „f“-Symbol des sozialen Netzwerks Facebook, so würden die gleichen Hirnareale aktiv, die auch für anderes Suchtverhalten typisch seien.

Jeder Dritte betroffen?

Eine Vorreiterrolle bei der Erforschung des Phänomens spielt laut Spitzer Südkorea, wo die Internet-Infrastruktur besser ausgebaut sei als andernorts. „Dort verbringen junge Leute täglich durchschnittlich 5,4 Stunden mit den Geräten“, betont er. Seit 2011 ermittle die Regierung des Landes Daten zur Smartphone-Sucht. „Anfangs waren in der Altersgruppe von 10 bis 19 Jahren noch zehn Prozent betroffen, inzwischen sind es über 30 Prozent.“

Wie verbreitet eine mögliche Smartphone-Sucht bei jungen Menschen in Mitteleuropa sein könnte, untersuchte kürzlich eine Studie in der Schweiz. Das Team um Severin Haug von der Universität Zürich befragte dazu gut 1500 Schüler von 127 Berufsschulen. Bei 256 von ihnen (17 Prozent) waren die Kriterien für eine Smartphone-Sucht erfüllt. Fast ein Viertel der Befragten griff nach eigenen Angaben mehr als 50 Mal pro Tag zum Handy, soziale Netzwerke waren der bei weitem häufigste Grund dafür.

Schüler greifen nach dem Aufwachen zum Handy

Die vermeintliche Smartphone-Sucht hing allerdings nicht nur davon ab, wie oft jemand sein Handy nutzte, sondern vor allem auch wann. Fast jeder zweite Schüler (40 Prozent) schaute in den ersten fünf Minuten nach dem Aufwachen aufs Display. Unter jenen, die als Smartphone-abhängig eingestuft wurden, taten dies sogar zwei Drittel (65 Prozent).

Von einer Sucht mag Studienleiter Haug dennoch nicht reden. „Der Begriff ist provokant und überzogen. Man weiß noch viel zu wenig“, sagt der Forscher. „Es gibt zwar eine suchtartige Komponente, aber ob es sich tatsächlich um eine Sucht handelt, ist die große Frage.“ Dafür gebe es bislang noch keine Diagnose-Kriterien. Auch seine eigene Studie kommentiert Haug zurückhaltend. Die Einstufung beruhe auf einer in Südkorea validierten Skala. Ob die aber ebenfalls für Europa gelte, sei fraglich.

Gefahren für die Augen

Auch viele Medien warnen schon vor übermäßigem Smartphone-Gebrauch, weisen auf gesundheitliche Gefahren hin oder geben Tipps, wie man eine etwaige Abhängigkeit überwinden kann. Ganz abwegig scheint der Gedanke auch für Haug und Nadine Wolf nicht zu sein. Bei aller Zurückhaltung: Beide verweisen auf das Phänomen, das wohl den meisten Menschen schon aufgefallen ist – etwa an Haltestellen, in der Bahn oder vor der Kneipe, wo Menschen mit starrem Blick und eifrigen Fingern ständig ihr Mobiltelefon bearbeiten.

Sucht oder nicht: Dass es einen problematischen Gebrauch von Smartphones gibt, sieht Neurowissenschaftler Spitzer als erwiesen an – gerade bei jüngeren Menschen. Dies könne der Gesundheit schaden, mahnt er: Mit dem Einsatz von Smartphones steige eindeutig die Kurzsichtigkeit. In China seien bereits knapp 80 Prozent der Jugendlichen kurzsichtig, in Südkorea sogar mehr als 90 Prozent. 

Einschlafprobleme beeinträchtigen die Volkswirtschaft

Zudem verwenden laut Spitzer mehr als 90 Prozent der jungen Menschen das Smartphone vor dem Schlafengehen. Das Blaulicht hemme die nächtliche Melatonin-Ausschüttung und damit auch den Schlaf – zumal viele Menschen das Handy griffbereit in Bettnähe halten und bei eintreffenden Nachrichten aus dem Schlaf geschreckt werden. „Die Menschen erarbeiten sich am Smartphone ein Schlafdefizit, das ist ein volkswirtschaftliches Problem“, sagt Spitzer.

Wieder Freude mit der Freundin

Darüber hinaus gebe es Hinweise aus den USA, dass Smartphone-Gebrauch mit höherem Blutdruck einhergehe. „Wenn sich das festigt, haben wir ein massives Gesamtproblem“, sagt Spitzer. „Wenn Sie das alles addieren, kommt sehr viel zusammen. Die Menge macht das Gift.“

„Es ist ein Thema, das man angehen muss“, sagt auch Nadine Wolf. „Da verändert sich etwas.“ Eine Therapie sei allerdings nur dann ratsam, wenn jemand seelisch stark leide, betont sie. Dem 38 Jahre alten B. halfen demnach eine vierwöchige Verhaltenstherapie in einer Tagesklinik und ein Antidepressivum. Die Behandlung sorgte dafür, dass der Mann frühere Hobbys wiederentdeckte. Die Beziehung zu seiner Freundin besserte sich, die App-Nutzung sank auf eine Stunde pro Tag – zumindest vorerst. „Eine Totalabstinenz wäre nicht sinnvoll gewesen“, sagt Wolf, „das hätte der Patient wohl auch nicht mitgemacht.“



Walter Willems, dpa
redaktion@daz.online


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