IQWiG-Vize zu schnellen Zulassungen

EMA darf Zulassungs-Konsens nicht aufkündigen

Stuttgart - 05.09.2016, 09:00 Uhr

Wie schnell dürfen Arzneimittel am Patienten angewendet werden? IQWiG-Vize Stefan Lange spricht sich gegen Absenkung der Standards aus. (Foto: Wolfilser / Fotolia)

Wie schnell dürfen Arzneimittel am Patienten angewendet werden? IQWiG-Vize Stefan Lange spricht sich gegen Absenkung der Standards aus. (Foto: Wolfilser / Fotolia)


Wenn die Arzneimittelbehörden mit Konzepten wie „Adaptive Pathways“ schnelle Zulassungen zum Regelfall machen wollen, gefährden sie die Sicherheit: IQWiG-Vize Stefan Lange kritisiert im Interview mit DAZ.online die Pläne der EMA scharf. Die Standards, die nach dem Contergan-Skandal aufgestellt wurden, dürften nur aufgrund eines politischen Prozesses geändert werden.

In einer Pressemitteilung kritisierte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die Pläne der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zum Konzept der „Adaptive Pathways“ – wie auch ein vertrauliches Pilotprojekt der Behörde. Der Europäische Verbraucherverband BEUC sieht erhebliche Gefahren, auch „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ nahm sich kürzlich dem Thema an. Gegenüber DAZ.online sprach sich der stellvertretende Leiter des IQWiG, Stefan Lange, gegen eine Absenkung der Standards aus.

DAZ.online: Was steckt hinter dem Begriff „Adaptive Pathways“, Herr Lange?

Stefan Lange: Es gibt schon länger Bemühungen, Zulassungen zu beschleunigen oder zu vereinfachen, wie zum Beispiel bedingte Zulassungen – hier werden Auflagen vorgegeben, bestimmte Daten nachzureichen. Das Konzept der „Adaptive Pathways“ soll das jetzt offenbar als Regelfall einführen: Arzneimittel werden zuerst an einer bestimmten Patientengruppe getestet und dann sollen die Firmen weitere Daten und Erfahrungen in der Versorgung generieren, um die Zulassung zu erweitern. Ursprünglich lief das unter dem Stichwort „Adaptive Licensing“, der Begriff kam wohl nicht so gut an. Jetzt wird es auch „Adaptive Pathways to Patients“ genannt, das klingt vermutlich besser. Es wird immer wieder behauptet, dass Patientinnen und Patienten das verlangen – wissenschaftlich untersucht und belegt ist das bislang aber unseres Wissens nach nicht.

(Foto: IQWiG)
Der stellvertretende Leiter des IQWiG, Stefan Lange

DAZ.online: Haben Patienten nicht immer ein großes Interesse an wirksamen, neuen Arzneimitteln?

Lange: Genau – aber nur, wenn sie mehr nutzen als schaden, bei der Zulassung wird von einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis gesprochen. Das ist das Problem: Zukünftig sollen mit weniger Daten und weniger Patienten Arzneimittel auf den Markt kommen. Ich glaube, dass Patienten keine unsicheren Medikamente nehmen und hinter die Standards zurückfallen möchten, die wir nach dem Contergan-Skandal erarbeitet haben. Wenn sich diese Einstellung in der Gesellschaft geändert hat und die Mehrheit jetzt sagt, „lass uns die Pillen nehmen wie sie kommen“, dann kann man das machen. Aber zuerst müssten wir sicherstellen, dass es diesen neuen gesellschaftlichen Konsens tatsächlich gibt.

DAZ.online: Der aktuelle Fall des Heilpraktikers aus Brüggen-Bracht zeigt ja, dass beispielsweise Krebspatienten auch abseits der evidenzbasierten Medizin nach Hilfe suchen.

Lange: Es gibt Situationen, in denen Menschen nach dem letzten Strohhalm greifen. Aber dann muss man wenigstens so fair sein, sie über die Risiken aufzuklären. Menschen mit einer schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebs wird alles mögliche an nutzlosen Dingen verkauft und damit Geld verdient, während sie manchmal nützliche Behandlungen nicht erhalten. 

Hoch verzerrte Ergebnisse

DAZ.online: Was genau kritisieren Sie am Konzept der „Adaptive Pathways“? Hier sollen ja Arzneimittel zuerst an einzelnen Probandengruppen durchgeführt werden – und dann über „Real World Data“, also Daten aus „dem echten Leben“, die zugelassenen Indikationen erweitert werden.

Lange: Den Begriff halte ich für einen Euphemismus. Unter Real World Data“ werden zumeist Ergebnisse von Beobachtungsstudien, also von Studien in der Routine-Versorgung verstanden, die außerhalb der streng kontrollierten Bedingungen der Zulassungsstudien durchgeführt werden. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat kürzlich eine Definition vorgelegt, die sogar an die viel kritisierten Anwendungsbeobachtungen erinnert. Häufig werden Real World Data und „Big Data“ auch synonym verwendet. Die Daten werden aber nicht durch die schiere Menge besser. Wenn eine Studie bereits überzeugende Ergebnisse zu einer kleinen Patientengruppe vorweist, dann ist es sehr schwierig, Patienten mit einer anderen Indikation für eine kontrollierte Studie zu gewinnen, bei der sie riskieren, per Zufallsprinzip der Kontrollgruppe zugeteilt zu werden, wo sie den neuen Wirkstoff nicht bekommen.

Man muss davon ausgehen, dass „Real World Data“ für die Frage nach einem Nutzen potenziell hoch verzerrt Ergebnisse liefern, diese also kaum mehr interpretiert werden können – das ist völlig klar. Im Versorgungsalltag richtet sich die Wahl der Therapie typischerweise danach, welche Prognose die Patienten haben. Den neuen Wirkstoff bekommen dann diejenigen Patienten, die eine besonders schlechte oder besonders gute Prognose haben. Die Verzerrung, die dadurch entsteht, lässt sich mit statistischen Methoden nachträglich aber kaum noch korrigieren.

DAZ.online: Aber hilft es nicht doch, wenn für eine spezielle Indikation gute Ergebnisse erzielt werden?

Lange: Die „schönen Effekte“ bei der Zulassung werden oft nur bei sehr speziellen Patientengruppen gesehen. Hier werden zum Beispiel häufig Patienten mit Begleiterkrankungen ausgeschlossen. Wenn ernste Zweifel bestehen, dass der Nutzen einer Therapie in der breiten Anwendung, also auch bei solchen, in den Zulassungsstudien ausgeschlossenen, Patienten besteht, muss man eine entsprechende aussagekräftige Studie machen.

Für Deutschland wissen wir auch, dass wir keine Handhabe haben, einen Off-label-Use bei einem zugelassenen Arzneimittel tatsächlich zu verhindern. Alle Erfahrungen zeigen außerdem, dass das Generieren von belastbaren Daten nach der ersten, eigentlich eingeschränkten Zulassung kaum noch stattfindet: Wenn Arzneimittel erst einmal in der Versorgung sind, ist es sehr schwer, vernünftige Studien für die noch offenen Fragen zu machen. Adaptive Pathways ist insofern der Versuch der Quadratur des Kreises.

Eine Folge des Konzepts wäre es auch, dass man sich zukünftig mehr auf Surrogat-Parameter verlassen würde. Dabei haben wir gerade eine jahrzehntelange Diskussion hinter uns, an deren Ende wir erkennen mussten, dass uns solche Surrogate oft getäuscht haben.

Weder Firmen noch Behörden erfüllen ihre Aufgaben

DAZ.online: Eigentlich verpflichten sich ja die Hersteller, anhand weiterer Studien die Evidenz für beschränkt zugelassene Arzneimittel zu erweitern.

Lange: Auch bei den bedingten Zulassungen haben wir gesehen, dass es sich nur um Versprechen handelt: Was vor der ersten Zulassung nicht gemacht wird, wird auch danach nicht gemacht. Veröffentlichte Untersuchungen haben gezeigt, dass Firmen die von den Zulassungsbehörden verlangten Studien häufig nicht oder sehr spät durchführen. Aber auch wenn die Fristen überschritten wurden, kam es meines Wissens nach nie zu einem Entzug der Zulassung. Im schlimmsten Fall gibt es vielleicht eine Strafe von fünf Millionen Euro, aber das verdienen die Firmen ja schnell. Aus wirtschaftlicher Sicht wäre es zumeist unvernünftig, zusätzliche Studien zu machen. Denn die bergen immer das Risiko, ein schlechteres Ergebnis zu haben als die erste Studie, die zur bedingten Zulassung geführt hat.

So wird es für uns auch immer schwieriger, den Zusatznutzen zu bewerten: Wenn „Adaptive Pathways“ eingeführt wird, fehlt die Datengrundlage hierfür. Das AMNOG ist eine richtige Erfolgsgeschichte – gar nicht wegen der Einsparungen, sondern allein wegen der wertvollen Informationen, die dadurch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden.

DAZ.online: Wie sieht die Methodik zur späteren Generierung der Daten bei „Adaptive Pathways“ denn aus, die von den Befürwortern vorgeschlagen wird?

Lange: Eine Idee ist es, Daten über Register zu erheben – doch ist uns gegenwärtig weder ein funktionierendes Register bekannt, noch dass adäquate Daten, die man für die Risikoabwägung braucht, aus Registern generiert werden konnten. Man sieht aktuell ja auch, wie schwierig es ist, beispielsweise die klinischen Krebsregister umzusetzen. Im Grunde ist das ein Wolkenkuckucksheim.

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hat in einem Pilotprojekt Firmen aufgefordert, Ideen vorzuschlagen zur Gewinnung und Nutzung von „Real World Data“ – aber da kam nichts, weil es vermutlich nicht geht. Offensichtlich hat die EMA selber keine Ideen. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass das Konzept nicht realisierbar ist.

DAZ.online: Aber ist es nicht sinnvoller, Arzneimittel für schwere Erkrankungen schneller als bisher zum Patienten zu bringen?

Lange: Dafür haben wir bereits Wege, aber wir haben die Sorge, dass das Adaptive-Pathways-Konzept dies als Regelfall einführen soll. Da fragt man sich, warum. Wir haben in jüngster Zeit viele erfolgreiche Zulassungen von Krebsmedikamenten, die Firmen mit durchaus überschaubaren Studien mit wenigen hundert Patientinnen und Patienten entwickelt haben. Der Aufwand ist schon deutlich geringer geworden. Warum soll man das erfolgreiche Verfahren ändern?

Es gibt also eigentlich gar keinen Grund – außer, dass zu Gunsten der Industrie die Standards aufgeweicht werden sollen. Aber ich fürchte, die EMA wird das Konzept trotzdem weiterhin verfolgen.

DAZ.online: Ist es nicht das gute Recht der Arzneimittelbehörde, neue Strategien umzusetzen?

Lange: Ich würde nicht sagen, dass das ihr gutes Recht ist. Mit dem Arzneimittelgesetz und der EU-Verordnung haben wir ja eine gesellschaftliche beziehungsweise politische Übereinkunft, dass wir bei Arzneimitteln aus guten Gründen unverhältnismäßige Risiken vermeiden wollen. Wenn man diesen Konsens aufkündigen will – und das steht genau in manchen Verlautbarungen im Zusammenhang mit dem Konzept der „Adaptive Pathways“ – braucht es meiner Meinung nach eine politische Diskussion. Das kann nicht einfach eine Behörde entscheiden.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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