Festpreis-Vereinbarung in der Kritik

Streit um Grippeimpfstoff-Versorgung im Nordosten

Berlin - 05.03.2018, 11:10 Uhr

Die Industrie hat ein Problem mit den Impfstoffvereinbarungen der Apotheker mit der AOK Nordost. (Foto: カシス / stock.adobe.com)

Die Industrie hat ein Problem mit den Impfstoffvereinbarungen der Apotheker mit der AOK Nordost. (Foto: カシス / stock.adobe.com)


Die neue Grippeimpfstoff-Vereinbarung zwischen der AOK Nordost und den Apothekerverbänden der Region für die Saison 2018/2019 steht in der Kritik der Pharmaindustrie. Während die Apothekerverbände darauf verweisen, dass im Grunde alles so läuft, wie schon in den Vorjahren – nur jetzt mit einem Vierfachimpfstoff – erklärt die Industrie, das Patientenwohl sei gefährdet. Was steckt hinter den Vorwürfen?

Als Versorgungssteuerung „durch die Hintertür“ verurteilt der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) die jüngste Grippeimpfstoffvereinbarung der AOK Nordost mit den Apothekerverbänden von Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Dr. Norbert Gerbsch, stellvertretender BPI-Hauptgeschäftsführer erklärte: „Was die Krankenkassen als ‚Mittel einer effizienten Arzneimitteltherapie‘ bezeichnen, widerspricht dem politischen Willen. Die Kasse riskiert sehenden Auges Versorgungsengpässe für die Patienten. Folgen, für die sie die Verantwortung zu tragen haben wird.“

Was ist passiert? Kürzlich haben die Apothekerverbände und die AOK im Nordosten der Republik eine neue Vereinbarung zur Versorgung GKV-Versicherter mit Grippeimpfstoffen geschlossen. Das Neue daran ist: Sie hat quadrivalente Impfstoffe zum Gegenstand – nicht mehr trivalente. Der Hintergrund ist, dass die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI beschlossen hat, ihre Empfehlung zur Grippeimpfung hin zum Vierfach-Impfstoff zu ändern. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat hier das letzte Wort – es wird jedoch erwartet, dass er sich in Kürze der STIKO-Empfehlung anschließt.

Wie bereits in den vergangenen Jahren sieht die Vereinbarung zwischen Kassen und Apothekern im Nordosten vor, dass Ärzte Grippeimpfstoffe aller am Markt befindlichen Hersteller verordnen können. Sofern die Ärzte der Apotheke die Auswahl des Grippeimpfstoffs überlassen, also generisch verordnen, gilt jedoch ein zwischen den Vertragspartnern vereinbarter Festpreis pro Impfdosis – in der kommenden Saison sind es 10,95 Euro, die die Apotheke bekommt. Die Vertragspartner betonen, dass die Vertragsärzte in der Auswahl des Impfstoffes in keiner Weise eingeschränkt sind. Genauso wenig seien es die Apotheken bei der Auswahl ihrer Lieferanten. Grundsätzlich können sich die Apotheken aller am Markt befindlichen Vierfach-Impfstoffe bedienen: Das werden die Vakzine von GSK, Sanofi, Mylan und Asta Zeneca sein. Im März sind die Apotheker bereits gefordert: Die Vertragsärzte wurden gebeten, die im kommenden Herbst benötigten Impfdosen bis Mitte März 2018 in einer Apotheke ihrer Wahl zu bestellen. Die Apotheken sollten die Bestellungen dann ihrerseits bis Ende des Monats unter Dach und Fach haben. Es geht laut BPI um rund 1,7Millionen Impfdosen – so viele habe die AOK Nordost in der Grippe-Saison 2016/2017 abgerechnet.

Wirklich keine Einschränkung für Ärzte und Apotheker?

Wo ist nun der Haken? Tatsächlich werden voraussichtlich viele Apotheken den Ärzten, die sie beliefern, empfehlen, den Impfstoff Influvac Tetra von Mylan bestellen. Denn nur mit diesem Hersteller hat die D.S.C. Dienstleistungs-Service-Center GmbH – ein Tochterunternehmen des Berliner Apotheker-Vereins – eine Rahmenvereinbarung ausgehandelt, die Apothekern besonders gute Konditionen bietet. Bereits seit 2011 verhandelt die D.S.C. solche Rahmenbedingungen für Grippeimpfstoffe. Hier geht es nicht nur um den Preis – offenbar unterscheidet sich dieser nicht wesentlich von dem, den auch einzelne Apotheker aushandeln könnten. Es sind vielmehr weitere Klauseln, die es für Apotheker attraktiv machen, sich D.S.C. als Mittler für ihren Vertragsschluss zu bedienen: Es wird beispielsweise die Lieferung bestimmter Mengen zu einem bestimmten Termin zugesagt, zudem sind Vertragsstrafen bei Nicht-Lieferfähigkeit vorgesehen. In den vergangenen Jahren gab es solche Vereinbarungen der D.S.C. mit zwei Herstellern: Mylan und Seqirus. Nun ist es nur noch Mylan – denn Seqirus hat derzeit keinen Vierfach-Impfstoff im Angebot. Und mit den anderen Herstellern quadirivalenter Vakzine war eine Vereinbarung nicht möglich. „Wir bemühen uns immer um neue Partner“, erklärt D.S.C.-Geschäftsführer Frank Nebrich gegenüber DAZ.online. „Wir haben mit allen gesprochen, aber es uns nicht gelungen, sie für eine Kooperation zu gewinnen“.  

Das heißt allerdings nicht, dass andere Hersteller nun zwangsweise außen vor sind: Die Apotheken im Nordosten können natürlich auch die Impfstoffe von Sanofi, GSK oder AstraZeneca vorbestellen, wenn die Ärzte diese haben wollen. Entweder über den Großhandel oder direkt. Auch bei Mylan ist eine Direktbestellung übrigens möglich. Darauf weist nicht nur Nebrich hin, sondern auch die beteiligen Apothekerverbände in ihren Anschreiben an die Pharmazeuten. Doch die Mylan-Konkurrenten machen sich wohl kaum Hoffnung, dass es zu großen  Bestellungen bei ihnen kommen wird. Und die Konditionen von D.S.C. kommen für sie offenbar nicht in Betracht.

BPI: AOK Nordost umgeht bestehendes Recht

In der Kritik steht nun, dass die Situation de facto kaum anders ist als in Zeiten der Ausschreibungen: Es läuft darauf hinaus, dass in einer bestimmten Region nur ein Hersteller die Versorgung übernimmt. Der BPI ist erzürnt: „Mit der Apothekenvereinbarung umgeht die AOK Nordost bestehendes Recht“. Die AOK Nordost verweist hingegen darauf, dass sie lediglich Preisvereinbarungen mit den Apothekerverbänden abschließe: „Vereinbarungen mit pharmazeutischen Herstellern bestehen hingegen nicht. Die Inhalte der Absprachen zwischen Herstellern und der Apothekerseite sind uns dementsprechend auch nicht bekannt“, so ein Sprecher der Kasse.

Aus Sicht von GSK und Sanofi ist es aller gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bei dieser Vereinbarung nicht weit her mit der freien Impfstoffwahl. So weist auch GSK darauf hin, dass der Gesetzgeber mit der Streichung der Rabattverträge eine Gefährdung der Versorgungssicherheit für die Zukunft verhindern wollte. „Insofern widersprechen Festpreismodelle wie das von der AOK Nordost und dem Apothekerverband ausgehandelte ganz klar dieser Intention.“ Dr. Oliver Thomas, Medizinischer Direktor Sanofi Pasteur, erklärt: „Da die komplexe  Produktion von Grippeimpfungen einen zeitlichen Vorlauf von mindestens fünf bis sechs Monaten benötigt, können Grippeimpfstoffe nicht schnell nachproduziert werden. Um sicher zu sein, dass in einer Grippesaison ausreichend Grippeimpfstoff vorhanden ist, sollten Ärzte aus allen Grippeimpfstoffen unabhängig vom Hersteller auswählen können“.

Weitere Kritikpunkte der Industrie

Gerbschs Vorwürfe gehen aber noch weiter: „Da wird so weit gespart, als dass der Rabattvertrag an ein Unternehmen geht, dass noch gar keinen Impfstoff hat“. Dazu ist allerdings klarzustellen: Zum einen liegt hier kein Rabattvertrag vor, wie wir ihn bislang aus der Grippeimpfstoff-Welt kannten. Zum anderen: Zwar gibt es den Impfstoff von Mylan noch nicht – aber das liegt in der Natur der Sache und trifft auf die anderen Hersteller ebenso zu: Sie beginnen die Herstellung ihres Grippeimpfstoffs erst, wenn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die aktuelle Zusammensetzung festgelegt hat. Am 22. Februar ist dies für die kommende Grippesaison auf der Nordhalbkugel geschehen. Der BPI hat allerdings auch im Sinn, dass Mylan bislang keinen Vierfach-Impfstoff auf dem deutschen Markt hatte. Das stimmt zwar – allerdings besitzt das Unternehmen die Zulassung für die Vakzine – und in anderen Ländern war das Mylan-Produkt bereits im Einsatz. In Deutschland fristeten die Vierfach-Impfstoffe bislang jedoch ein Schattendasein; in erster Linie waren es Privatpatienten, die ihn bekamen. Da lohnte sich ein Markteintritt kaum.

Ein weiterer vom BPI beklagter Nachteil der Vereinbarung im Nordosten: Influvac Tetra von Mylan ist erst für Erwachsene ab 18 Jahren zugelassen. Die von Sanofi und GSK können schön ab einem Alter von sechs Monaten angewandt werden. Aus Sicht der Apothekervereine ist aber auch das kein Problem: Soll ein Kind geimpft werden, muss der Arzt eben namentlich verordnen. Dann läuft das Prozedere in der Apotheke wie bei jeden anderen Sprechstundenbedarf: Es wird ein Kostenvoranschlag erstellt und bei der AOK Nordost eingereicht.

Die Fronten sind offensichtlich verhärtet. Der Berliner Apotheker-Verein verteidigt die Vereinbarung mit der AOK Nordost jedenfalls auch nach den Vorwürfen aus der Industrie: Gerade weil keinerlei Beschränkungen für Apotheke und Ärzte bestünden und zugleich durch die frühzeitige Bestellung des Impfstoffes Planungssicherheit für alle Beteiligten – einschließlich der Hersteller – bestehe, trügen die Grippeimpfstoffvereinbarungen zwischen den Apothekerverbänden und der AOK Nordost erheblich dazu bei, Versorgungsengpässe zu vermeiden. „Anders als in anderen Regionen sind im Nordosten mit den seit Jahren weitgehend konstanten Grippeimpfstoffvereinbarungen keine Versorgungsengpässe aufgetreten“, betont der Verband.

Nun bleibt zu hoffen, dass sich dies auch künftig nicht ändert.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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