Interview

Was Apotheker ohne Grenzen auf ihren Einsätzen erleben

Berlin - 23.04.2018, 17:00 Uhr

Die Apotheke in dem Gesundheitszentrum eines Elendsviertels von Buenos Aires ist bescheidener ausgestattet, als eine deutsche Offizin. Apothekerin Dr. Carina Vetye ist seit 16 Jahren in Argentinien tätig und eng mit den Menschen vor Ort verbunden. (AoG)

Die Apotheke in dem Gesundheitszentrum eines Elendsviertels von Buenos Aires ist bescheidener ausgestattet, als eine deutsche Offizin. Apothekerin Dr. Carina Vetye ist seit 16 Jahren in Argentinien tätig und eng mit den Menschen vor Ort verbunden. (AoG)


Was motiviert Pharmazeuten, auf einen Katastropheneinsatz zu gehen und wie fühlen sie sich dabei? DAZ.online hat mehrere Einsatzkräfte der Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen nach ihren Erfahrungen befragt. Den Apothekern und der PTA, die in völlig verschiedene Hilfsprojekte eingebunden waren, ist eines gemeinsam: Sie sind entschlossen, ihr Fachwissen für einen guten Zweck einzusetzen.

Die Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen leistet pharmazeutische Hilfe auf der ganzen Welt. DAZ.online hat über einzelne Projekte in verschiedenen Ländern berichtet. Wer sind die Menschen, die hinter der Organisation stehen? Und was motiviert Apotheker und PTA, die saubere Offizin zu verlassen und bei einem Katastropheneinsatz mit anzupacken?

DAZ.online befragte unter anderem die PTA Simone Harries, die im Herbst des vergangenen Jahres auf ihrem ersten Auslandseinsatz auf den Inselstaat Dominica reiste, auf dem der Hurrikan „Maria“ große Verwüstungen hinterlassen hatte. Apothekerin Barbara Weinmüller, die schon auf mehreren Einsätzen war, hatte Harries auf Dominica begleitet. Apothekerin Dr. Carina Vetye ist schon seit 16 Jahren in Argentinien im Rahmen einer langfristigen Entwicklungszusammenarbeit aktiv und mit den Menschen vor Ort verbunden. Und Jochen Wenzel kennt beides: In Nepal hat der Apotheker akute Nothilfe sowie mehrjährige Entwicklungszusammenarbeit geleistet.

DAZ.online: Frau Harries, was hat Sie motiviert, für Apotheker ohne Grenzen in einen Auslandseinsatz zu gehen?

Simone Harries: Uns geht es in Deutschland sehr gut – auch was die Gesundheitsversorgung betrifft. Gerne möchte ich davon etwas an andere zurückgeben, denen es nicht so gut geht.

DAZ.online: Der Notfalleinsatz in Dominica war Ihr erster Einsatz. Wie empfanden Sie die Arbeit vor Ort?

Simone Harries: Bei der Partnerorganisation IMC (International Medical Corps) fühlten wir uns sofort als Teil des Teams. Wir waren an das lokale Gesundheitssystem und deren Arbeitszeiten gebunden und das Gesundheitspersonal vor Ort begegnete uns am Anfang eher mit Zurückhaltung. Das legte sich aber schnell und so verlief die Zusammenarbeit sehr gut.

AoG
PTA Simone Harries (stehend) und Apothekerin Barbara Weinmüller (sitzend) sichten Arzneimittelspenden auf Dominica.

DAZ.online: Was hat Sie bei Ihrer Arbeit in Dominica am meisten beeindruckt?

Simone Harries: Die positive Grundstimmung der Leute vor Ort. Obwohl in Dominica gerade eine schreckliche Katastrophe passiert ist, blicken die Menschen dort voller Zuversicht in die Zukunft.  Ich bin mir nicht sicher, ob das in Deutschland in solch einer Situation auch so wäre.

DAZ.online: Frau Weinmüller, bei einem Einsatz können Sie ja nicht allen Menschen in einem betroffenen Gebiet helfen sondern immer nur punktuell in einzelnen Regionen. Wie gehen Sie damit um?

Barbara Weinmüller: Bei meinen ersten Einsätzen fiel es mir sehr schwer, nicht allen helfen zu können. Aber man lernt schnell, dass es besser ist, einen Teil der Menschen richtig zu versorgen als sich zu verzetteln.

Argentinien: Patienten kämpfen um ihre Apotheke

DAZ.online: Frau Vetye, Sie arbeiten schon seit 16 Jahren in Buenos Aires und verbringen mittlerweile die Hälfte Ihrer Zeit in Argentinien. Was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?

Carina Vetye: Ich habe in Argentinien an einer staatlichen Universität kostenlos studieren und promovieren dürfen. Man darf nicht nur nehmen, sondern muss auch zurückgeben! Es ist mir wichtig als Apothekerin für die Argentinier da zu sein, vor allem für diejenigen, die nicht so viel mitbekommen haben wie ich.

DAZ.online: Im „Gesundheitszentrum Nr. 16“ in Villa Zagala, Buenos Aires, befindet sich auch eine Apotheke. Wie sieht dort der Apothekenalltag aus?

Carina Vetye: Die Apotheke ist 14 Quadratmeter groß und dort arbeiten zwischen fünf und sechs argentinische Kolleginnen ehrenamtlich mit. Wir haben 100 bis 120 Wirkstoffe und Darreichungsformen an Lager und versorgen unter anderem 65 bis 75 Prozent der Chroniker in unserem Einzugsgebiet (rund 25.000 Menschen). Patienten mit Krankengeschichte im Gesundheitszentrum erhalten die verschriebenen Medikamente kostenlos, müssen dafür aber die geforderten Kontrollen einhalten.

Der Apothekenalltag ist hart und sehr anders als in Deutschland! Manchmal fallen Wasser oder Strom aus, der Gestank von Müll und Abflüssen kann sehr störend sein, man arbeitet im Winter bei 5 Grad am offenen Ausgabefenster, es regnet manchmal rein und es besteht immer das Risiko überfallen zu werden – die Patienten passen aber auf uns auf, sie riskieren selber viel für uns und kämpfen wortwörtlich für ihr Gesundheitspersonal!

DAZ.online: Bei Ihrem Projekt über Zahnhygiene haben Sie intensiv mit den so genannten Community Health Workers, die vor Ort die Gesundheitsversorgung leisten, zusammengearbeitet. Zusätzlich haben Sie auch Erzieher, Eltern und Kindern aufgeklärt. Weshalb ist bei der Entwicklungszusammenarbeit dieser ganzheitliche Ansatz so wichtig?

Carina Vetye: Gesundheit kann nicht in Stückchen geliefert werden. Wenn ein Familienvater kaputte Zähne, die Chagas-Krankheit und Typ-2-Diabetes hat, muss man alles berücksichtigen. Schwangere mit Gesundheitsproblemen bedeuten für das Neugeborene einen schlechten Start in ein Leben, das ohnehin schwer sein wird. Schlecht ernährte Kinder, bei denen weder der Eisenmangel behandelt noch Seh- oder Hörtests durchgeführt wurden, haben geringe Chancen, in der Schule gut weiterzukommen. Zahnschmerzen und -abszesse aufgrund von Karies bedeuten für die Kinder Millionen an verlorenen Unterrichtsstunden. Junge Erwachsene mit Zahnlücken im Frontbereich erhalten keinen Job und können nicht normal essen. So kommt man nicht aus der Armut raus! Wir AoG-Apothekerinnen arbeiten intensiv mit Allgemeinärztinnen, Kinderärztin, Zahnärztin, Frauenärztin, Hebamme, Sozialarbeiterin und Community Health Workerinnen zusammen: Nur im Team und mit langem Atem lässt sich etwas zum Besseren verändern.

Ohne lokale Partner geht es nicht

DAZ.online: Herr Wenzel, auch Sie haben langjährige Erfahrung mit Entwicklungszusammenarbeit. Im Rahmen Ihrer Tätigkeit in Nepal hatten Sie mit mehreren lokalen Partnerorganisationen zusammengearbeitet. Weshalb ist die Kooperation so wichtig und wie haben Sie das Zusammenspiel wahrgenommen? 

Jochen Wenzel: Die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern ist extrem wichtig und auch Voraussetzung, um überhaupt die Genehmigungen zu bekommen, im Land Projekte zu realisieren. Es fängt schon bei der Sprache an. Keiner von uns spricht die Landessprache Nepali und ein Großteil der Menschen, mit denen wir in den Projekten zusammenarbeiten, spricht kaum Englisch. Natürlich kennen die lokalen Partner die Strukturen und Gebräuche in Nepal am allerbesten. Es bestehen doch sehr große kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Unterschiede zu uns Europäern. Das merkt man auch häufig in der Zusammenarbeit. Wenn wir beispielsweise einen Zeitplan entwerfen, sind wir es in Deutschland gewohnt, dass dieser exakt so eingehalten und umgesetzt wird. In Nepal ist solch ein Projektplan oft nur ein grober Anhaltspunkt.

DAZ.online: Seit knapp zwei Jahren wenden Sie in den nepalesischen Distrikten Baglung und Parbat ein so genanntes Standard Treatment Protocol (STP) an. Was versteht man darunter und welche Aufgaben übernehmen die Apotheker dabei? 

Jochen Wenzel: Das STP ist ein staatliches Programm, in dem es zu den häufigsten Erkrankungen eine exakte Beschreibung von der Diagnosestellung bis zur Behandlung gibt. Die Auswahl der Arzneimittel folgt der National Essential Drug List (NEDL), die sich an der Liste der WHO orientiert. Allerdings verfügt ein Gesundheitsposten, der die Patienten in den Distrikten in Nepal versorgt, meist nur etwa über 20 bis 30 verschiedene Wirkstoffe. Wir haben über unsere nepalesische Partnerorganisation Sankalpa, die aus jungen Apothekern besteht, Schulungen durchgeführt, wie die Arzneimittel der NEDL richtig anzuwenden sind. In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns zusammen mit unserem Projektpartner SWAN die verschriebene Medikation auf die Arzneimittelauswahl und -interaktionen überprüft. Wir haben das Projekt Ende 2017 abgeschlossen und konnten eine deutliche Verbesserung beobachten.

AoG
Apotheker Jochen Wenzel in einem neaplesischem Arzneimittellager

DAZ.online: Im Jahr 2015 gab es ein Erdbeben in Nepal. Welche Akutmaßnahmen hatten Sie getroffen? 

Jochen Wenzel: Wir haben damals gemeinsam mit der Partnerorganisation NAVIS e.V. einen Ort gesucht, an dem wir unser medizinisches Hilfscamp mit Wasseraufbereitung installieren können. Da in Nepal die Strukturen in der Verwaltung und im Gesundheitswesen komplex sind und der Informationsfluss nach dem Erdbeben sehr holprig war, brauchte es ein paar Tage, bis wir uns für einen Standort in der Nähe der Hauptstadt Kathmandu entschieden hatten. Dann ging alles sehr schnell und unser Camp war innerhalb weniger Tage startklar.

DAZ.online: Frau Weinmüller, eine letzte Frage noch: Viele Menschen kennen ärztliche Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“. Dass es auch „Apotheker ohne Grenzen“ gibt, wissen nur wenige. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Barbara Weinmüller: Zum einen ist unsere Organisation deutlich kleiner als „Ärzte ohne Grenzen“. Außerdem war es in der Katastrophenhilfe lange nicht bekannt, dass pharmazeutische Hilfe wichtig ist. Inzwischen haben internationale Hilfsorganisationen wie IMC oder NAVIS e.V. erkannt, was wir leisten und arbeiten eng mit uns zusammen. 



Dr. Bettina Jung, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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