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Neue Leitlinie
Ritalin jetzt auch schon bei mittelschwerer ADHS
Die neue S3-Leitlinie zur Behandlung von ADHS sieht im Gegensatz zur alten Version eine medikamentöse Therapie mit Stimulanzien bereits bei mittelschwerer Ausprägung vor, bisher sollten sie erst bei schweren Formen zum Einsatz kommen. Experten zufolge wird sich in der Praxis damit aber wenig ändern, weil viele Mediziner ohnehin schon die weniger stark Betroffenen medikamentös behandeln.
Diagnose und Behandlung von ADHS sind kompliziert, unter anderem weil unterschiedliche Symptome bei den Betroffen unterschiedlich stark auftreten und weil die Abgrenzung zwischen „was ist noch normal und was ist tatsächlich ADHS“ nicht ganz leicht ist. Nun haben Fachleute eine neue Leitlinie vorgestellt, die Ärzten aktualisierte Empfehlungen für die Betreuung von ADHS-Patienten an die Hand gibt. Eine der wesentlichen Neuerungen: Künftig sollen auch für Kinder mit einer mittelschweren ADHS früh im Therapieverlauf Arzneimittel wie Ritalin erwogen werden. Bisher wurde eine unmittelbare Behandlung mit Medikamenten vorrangig für Kinder mit einer starken Ausprägung der psychischen Störung empfohlen.
„Die Auswertung der aktuellen Datenlage hat gezeigt, dass die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie auf die Kernsymptome der ADHS nicht sicher belegt ist, in der Praxis die Symptomatik häufig nicht ausreichend gebessert wird», erläutert Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Stellvertretende Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hat die Erstellung der Leitlinie, an der Vertreter von mehr als 30 Fachgesellschaften und -verbänden beteiligt waren, koordiniert.
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Für Patienten ändert sich wohl wenig
Für ADHS-Patienten und ihre Familien wird sich mit der neuen Leitlinie wenig ändern, weil viele Mediziner ohnehin schon weniger stark Betroffene medikamentös behandeln. Die explizite Ausweitung der Pharmakotherapie bei ADHS dürfte dennoch manchen Kritiker auf den Plan rufen. Einige Fachleute fürchten, dass die Wirkstoffe zu häufig verordnet werden. Zumindest bei einem Teil der Kinder seien Überforderung und Stress oder andere Erkrankungen für bestehende Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich, teils seien sie im Rahmen der kindlichen Entwicklung normal.
Schaut man auf die Zahlen, hat zumindest in den vergangenen zehn Jahren die Verschreibung von Wirkstoffen gegen ADHS in Deutschland nicht generell zugenommen. Seit 2012 sind die verordneten Tagesdosen für Methylphenidat – dem mit Abstand am häufigsten verschriebenen Wirkstoff – rückläufig, wie Daten zu den von niedergelassenen Ärzten verordneten und über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechneten Arzneimittel zeigen.
„ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten ist ein Kunstfehler“
Viele behandelnde Ärzte und Therapeuten halten eine generelle Ablehnung einer medikamentösen Behandlung für falsch. „Ich würde es quasi als Kunstfehler ansehen, ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten“, sagt etwa Ralph Schliewenz, Diplom-Psychologe aus Soest und Mitglied im Vorstand der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Allerdings: „Keine Medikation ohne begleitende Psychotherapie“, betont Schliewenz. „Arzneimittel wirken immer nur so lange, wie man sie nimmt. Sie allein können die mit ADHS einhergehenden Probleme nicht beseitigen. Eine Verhaltenstherapie hilft dabei
Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie weist in einer Pressemitteilung darauf hin, dass die Psychoedukation essentieller Bestandteil jedes individuellen Behandlungsplans sein soll. Den Betroffenen und ihren Familien werde dort umfangreiches Wissen und Kompensationsstrategien zur ADHS vermittelt. Eine medikamentöse Behandlung bei moderaten Formen solle abhängig von den Rahmenbedingungen und den Präferenzen der Familie eingesetzt werden. Gegenüber anderen internationalen evidenzbasierten Leitlinien, wie z.B. den NICE-Guidelines aus Großbritannien, sei in der deutschen Leitlinie der Verhaltenstherapie ein höherer Stellenwert eingeräumt und wird für die pharmakologische Behandlung, für welche die beste Evidenz und der stärkste Effekt hinsichtlich der Wirksamkeit existiert, ein im internationalen Vergleich zurückhaltender Einsatz empfohlen, heißt es.
Was gibt es außer Methylphenidat?
In Deutschland sind derzeit neben Methylphenidat, Lisdexamfetamin Dexamphetamin, Atomoxetin und seit kurzem Guanfacin zugelassen. Letzteres ist ein zentral wirksamer adrenerger α2-Agonist. Es ist ebenso wie Atomoxetin nicht als Betäubungsmittel eingestuft und zählt nicht zu den Stimulanzien.
Thema: Psychiatrische Erkrankungen
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Das Nebenwirkungsprofil ist im Vergleich zu Methylphenidat etwas ungünstiger. Bei gewissen Konditionen oder Komorbiditäten kann Guanfacin eine Alternative zu Methylphenidat sein. So kann letzteres beispielweise Tic-Störungen, die gelegentlich als Komorbidität auftreten, verschlechtern. Bei Guanfacin ist das nicht der Fall. Die Stimulantien wirken zudem appetitmindernd – bei untergewichtigen Patienten ist das aber nicht erwünscht – auch die Blutdrucksteigerung ist nicht immer opportun. Allerdings muss man Patienten darauf hinweisen, dass die Wirkung zeitversetzt eintritt – erst nach ein, zwei bis drei Wochen. Das ist schneller als bei Atomoxetin, aber deutlich langsamer als bei Methylphenidat.
Welchen Stellenwert Guanfacin in der neuen Leitlinie hat, lässt sich derzeit noch nicht sagen, weil die vollständige Fassung noch nicht auf den Seiten der AMWF veröffentlicht ist.
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