Zehn-Jahre-Timeline

Warum handelte das BfArM bei Iberogast nicht früher?

Berlin - 19.09.2018, 13:30 Uhr

2008 erließ das BfArM seinen Bescheid zu schöllkrauthaltigen Arzneimitteln. Warum setzte das BfArM nicht damals schon neue Packungsbeilagen bei den Herstellern durch? (m / Foto: Imago)

2008 erließ das BfArM seinen Bescheid zu schöllkrauthaltigen Arzneimitteln. Warum setzte das BfArM nicht damals schon neue Packungsbeilagen bei den Herstellern durch? (m / Foto: Imago)


In diesen Wochen gehen in den Apotheken die letzten „alten“ Iberogast-Packungen über den HV-Tisch. Bald muss die Packungsbeilage die neuen Warnhinweise enthalten. Hinweise auf schwere Nebenwirkungen bei schöllkrauthaltigen Präparaten gab es schon 2005. Nach einem Stufenplanverfahren ordnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2008 die Warnhinweise an. Nun steht die Behörde in der Kritik: Warum hat sie nicht früher gehandelt? Doch das BfArM erklärt: Die Datenlage war damals nicht ausreichend, um einen Sofortvollzug anzuordnen. Eine Anordnung des BfArM hätte sich womöglich sogar negativ auswirken können. DAZ.online hat die vergangenen zehn Jahre rekonstruiert.

Seit Jahren schon wird über Nebenwirkungen, darunter schwere Leberschäden, des Magenmittels Iberogast® vom Pharmakonzern Bayer diskutiert. Nachdem sich der Konzern jahrelang weigerte, die neuen Warnhinweise in die Packungsbeilage aufzunehmen, nahm die Angelegenheit zuletzt an Fahrt auf: In der vergangenen Woche teilte das BfArM mit, dass Bayer sich bereit erklärt habe, die Warnhinweise innerhalb von vier Wochen aufzunehmen. Laut BfArM hätte sonst ein Sofortvollzug gedroht. Wie inzwischen bekannt ist, war im Juni 2018 eine Patientin nach einer Iberogast®-Einnahme verstorben. Bayer meint allerdings: Die Frau war vorerkrankt.

Im Zusammenhang mit der jetzt erfolgten Änderung steht aber auch das BfArM in der Kritik: Die Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche, die zuletzt auch politisch stark dafür geworben hatte, die gemeldeten Leberschädigungen ernst zu nehmen und die Packungsbeilage zu ändern, sagte zuletzt: „Auch das BfArM steht im schlechten Licht da. Seit dem Erlass eines Bescheides zur Aufnahme der Warnhinweise in 2008 konnte oder wollte die Behörde ihre eigenen Anordnungen gegenüber Bayer nicht durchsetzen.“ Die Grünen hatten aus diesem Grund einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem Hersteller gezwungen werden sollen, BfArM-Bescheide unverzüglich umzusetzen. Und auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände hatte in der vergangenen Woche erklärt, dass das „Agieren der Aufsicht“ in den Blick genommen werden müsste.

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Um das tun zu können, hilft es, den zehnjährigen Verlauf der Nebenwirkungsdebatte rund um Iberogast® nochmals aufzuzeichnen:

  • Mai 2005: Das BfArM leitet ein Stufenplanverfahren zu schöllkrauthaltigen Arzneimitteln zur innerlichen Anwendung ein.
  • April 2008: Das BfArM erteilt einen Stufenplanbescheid gegen die Hersteller schöllkrauthaltiger Arzneimittel. Darunter ist auch die Firma Steigerwald, die Iberogast® damals noch vermarktete. Für Arzneimittel mit einer Tagesdosierung von mehr als 2,5 mg Gesamtalkaloide wurde die Zulassung widerrufen. Für Arzneimittel mit einer Tagesdosierung von 2,5 µg bis höchstens 2,5 mg Gesamtalkaloide wurden umfangreiche Änderungen der Produktinformationen angeordnet. Der Hintergrund: Laut BfArM sollen 48 Einzelfallberichte über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen in der Organsystemklasse „Leber- und Galleerkrankungen“ vorgelegen haben. Diese Hinweise waren alle wirkstoff- und nicht produktbezogen. Heißt konkret: Die Hinweise bezogen sich ausschließlich auf die Einnahme von Schöllkraut und nicht auf die Einnahme von Iberogast®, das mehrere Pflanzenextrakte enthält.
  • Mai 2008: Steigerwald legt Widerspruch gegen den Stufenplanbescheid ein. Die Begründung des Herstellers: Iberogast® sei aufgrund seiner Zusammensetzung nicht mit anderen schöllkrauthaltigen Arzneimitteln vergleichbar.

Warum stand das Iberogast-Verfahren zehn Jahre lang still?

  • Dann folgt eine lange Pause. Rein theoretisch hätte das BfArM damals einen sogenannten Widerspruchsbescheid erlassen können, der dann zu einem Gerichtsverfahren hätte führen könne. Doch das BfArM verzichtete.
  • September 2016: Das BfArM erfährt von einem neuen Nebenwirkungsbericht über Iberogast® aus Spanien. Die Behörde bewertete die Gesamtevidenz eigenen Angaben zufolge daraufhin neu. Konkret lagen dem BfArM „vier gut dokumentierte Fallberichte zu Iberogast“ vor. Jetzt ging es also nicht mehr nur um den Wirkstoff Schöllkraut, sondern auch um das Produkt Iberogast®.
  • Juni 2017: Neun Jahre nach den ersten Hinweisen hat das BfArM nun genug Evidenz in der Hand und erlässt einen Widerspruchsbescheid.
  • Ebenfalls Juni 2017: Bayer erhebt Klage gegen diesen Bescheid, das Verwaltungsgericht hat darüber noch nicht entschieden.
  • Juni 2018: Nochmals erhält das BfArM eigenen Angaben zufolge neu bekannt gewordene Nebenwirkungsmeldungen von Leberschädigungen „im Zusammenhang mit der Anwendung von Iberogast“, darunter auch der Todessfall, bei dem die Patientin eine neue Leber erhielt, nach der Transplantation aber verstarb.
  • September 2018: Bayer erklärt sich bereit, die Packungsbeilage zu ändern.

Iberogast-Verfahren stand 2008 auf wackeligen juristischen Beinen

Angesichts dieser Timeline stellt sich die Frage: Warum handelte das BfArM nicht schon früher? Schließlich lagen 2008 immerhin Hinweise auf die Lebertoxizität von Schöllkraut vor. Doch ein Sprecher der Behörde stellt klar: Die Beweislage war damals zu dünn – und eben nicht auf das Produkt Iberogast® bezogen. Wörtlich erklärte der BfArM-Sprecher: „In einem differenzierten Abwägungsprozess mit Blick auf die Patientensicherheit und Aspekte der rechtlichen Durchsetzbarkeit, kam das BfArM zu der Einschätzung, dass die seinerzeit vorliegenden Fallberichte, die sämtlich nicht im Zusammenhang mit der Anwendung von Iberogast berichtet wurden, als Grundlage für eine Durchsetzung der Maßnahmen in Bezug auf Iberogast nicht ausreichend waren.“

Was die Arzneimittelaufsicht damit indirekt ausdrückt, ist klar: Hätte man schon damals auf Basis der wirkstoffbezogenen Nebenwirkungsmeldungen ein Gerichtsverfahren provoziert, hätte man wahrscheinlich verloren. Steigerwald hätte einen „Freispruch“ davon getragen. Womöglich hätte sich das darauf folgende Verfahren somit sehr viel schwieriger führen lassen.



Benjamin Rohrer, Chefredakteur DAZ.online
brohrer@daz.online


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