Revision

Verteidigung fordert neuen Prozess für Zyto-Apotheker Peter S.

Karlsruhe - 22.01.2019, 07:00 Uhr

Die Verteidiger des verurteilten Zyto-Apothekers Peter S. fordern, dass ihr Mandant einen neuen Prozess bekommt. (c / Foto: dpa)

Die Verteidiger des verurteilten Zyto-Apothekers Peter S. fordern, dass ihr Mandant einen neuen Prozess bekommt. (c / Foto: dpa)


Der Bundesgerichtshof soll das Urteil gegen den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. aus erster Instanz aufheben: In ihrer Revision greift die Verteidigung des Pharmazeuten den Prozess vom Landgericht Essen in vielerlei Richtung an. Die Richter hätten etwa bei der Besetzung von Schöffen willkürlich gehandelt – und das Verfahren zu schnell beendet. DAZ.online hat sich die Argumente der Verteidigung angeschaut.

Die zwölfjährige Haftstrafe des Landgerichts Essen für den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. könnte nicht lange Bestand haben: Sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft und dutzende Nebenkläger haben Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt. Die bislang vier Anwälte von S. hatten schon im Verfahren vor dem Landgericht einen Prozessneustart beantragt, da offenbar ein Journalist eine geheime Strafakte im Internet veröffentlicht hatte. Damit kamen sie jedoch ebenso wenig durch wie mit ihrer Forderung nach einem Freispruch: Die Verteidiger hatten argumentiert, Fehlmengen zwischen eingekaufter und verkaufter Zytostatika seien auf verschiedene Weise zu erklären, doch das Gericht verurteilte S. wegen Unterdosierung von rund 14.500 Krebsmitteln und Betrugs in Höhe von 17 Millionen Euro.

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In der DAZ.online vorliegenden Begründung für die Revision beim BGH argumentiert nun der Strafrechtsprofessor Ralf Neuhaus als Verteidiger von S., das Urteil sei schon aus verfahrenstechnischen Gründen „aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Strafkammer eines anderen Landgerichts zurückzuverweisen“. 

„Rechtsfehlerhaft in objektiv willkürlicher Weise“

So liege ein absoluter Revisionsgrund schon deshalb vor, da das Gericht einen Schöffen unrichtig besetzt und einen Einwand der Verteidigung hierzu „rechtsfehlerhaft in objektiv willkürlicher Weise“ zurückgewiesen habe. Denn: Eine Hauptschöffin hatte gegenüber dem Gericht erklärt, an einem der angesetzten Hauptverhandlungstage aufgrund einer Augen-Operation nicht erscheinen zu können. Eine Verlegung der Operation könne ihr nicht zugemutet werden, hatten die Richter damals argumentiert. Schon ein geplanter Urlaub rechtfertige die Entbindung eines Schöffen – dies müsse erst recht für eine Operation gelten, „der man sich üblicherweise nicht zum Vergnügen unterzieht“. Die Staatsanwaltschaft hatte den Antrag abgewiesen, die Entbindung sei nicht willkürlich erfolgt.

Doch nach Ansicht der Verteidiger ist die Entbindung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr vertretbar und nicht zu rechtfertigen. So sei eine bevorstehende Augenoperation ohne weitere Erläuterungen nicht unbedingt ein unabwendbares Ereignis. So sei nicht klar, ob eine Krankheit vorgelegen habe – oder ob es sich um eine Schönheitsoperation gehandelt hat. Außerdem kritisiert die Verteidigung die ihrer Ansicht nach mangelhafte Dokumentation der Entbindung, bei der die Minimalanforderungen unterschritten seien. Es sei „von einer grob fehlerhaften Entscheidung des Herrn Vorsitzenden auszugehen, mithin von einem relevanten ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf den gesetzlichen Richter“. Der Richter habe von seinem Ermessen nicht Gebrauch gemacht – und dies sei „ausnahmslos willkürlich“.

Vorwurf: Richter habe das Verfahren unzulässig abgekürzt

Nach Ansicht der Verteidigung hat es sich bei dem Prozess gegen S. auch um ein zu schnelles Verfahren gehandelt, bei dem nicht alle entlastenden Punkte auf den Tisch gekommen sind. Ursprünglich waren für den am 13. November 2017 gestarteten Prozess 14 Verhandlungstage angesetzt, doch schon bald danach wurden weitere eingeplant. Am 1. Februar 2018 erklärte der Vorsitzende Richter, die Kammer wolle bald ein Urteil sprechen und bat um Vorbereitung der Schlussplädoyers. Auch da die Verteidigung eine Hirnverletzung von S. als entlastenden Aspekt vorbrachte, sprachen die Richter nach mehr als 40 Verhandlungstagen im Juli 2018 ihr Urteil. Vorher hatten sie eine knappe Frist gesetzt, bis wann Beweisanträge – etwa zur Ladung von Zeugen – gestellt werden können. Dies sei unzulässig gewesen, sagt die Verteidigung: Die Frist sei bereits bestimmt worden, als die von Amts wegen vorgesehene Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen war, auch hätten die Richter die Befristung nicht angekündigt. Auch sei sie insgesamt „dysfunktional“ gewesen – und zu kurz.

Von Anfang an sei klar gewesen, dass bei rund 50 Nebenklägern, ungefähr 62.000 angeklagten Taten und schwierigen naturwissenschaftlich-technischen Fragen 14 Hauptverhandlungstagen nicht ausreichen würden. Der Verteidigung ist ihrer Ansicht nach also insgesamt die Möglichkeit genommen worden, weitere entlastende Beweise vorzulegen oder Zeugen zu laden.

Falsch qualifizierter Gutachter?

Auch kritisieren die Anwälte des Apothekers das Gutachten des Psychologen Boris Schiffer, der die Abteilung für forensische Psychiatrie des Uniklinikums Bochum leitet. Er hatte S. trotz einer früheren schweren Hirnverletzung als schuldfähig angesehen – das Gericht folgte seiner Einschätzung und nicht dem Gutachten eines von der Verteidigung beauftragten Psychiaters. Es sei auch von der Verteidigung zunächst übersehen worden, dass Schiffer kein Arzt ist: Deshalb sei er zur Erstattung eines Gutachtens zu den in Rede stehenden Fragen „ungeeignet“. Auch habe Schiffer zwar das Zyto-Labor einer Klinik besucht, um sich mit der Arbeitssituation des Angeklagten vertraut zu machen, doch sei dies mit der Arbeit in dessen niedergelassenen Apotheke „in entscheidenden Punkten nicht vergleichbar“. Schiffer habe völlig außer Acht gelassen, dass S. „in kürzester Zeit eine große Zahl von Arzneimitteln zubereitet, also eine Vielzahl von Arbeitsvorgängen parallel abgeleistet“ habe.

Der Psychologe habe außerdem über die Aussagen einer langjährigen Schulfreundin von S. in Kenntnis gesetzt werden müssen, die erklärt hat, nach der Kopfverletzung sei der Apotheker sehr fahrig gewesen ist und „hektisch getrieben“. Der Apotheker habe die Schwere der Auswirkungen auf seine kognitiven Fähigkeiten nicht erkannt. Auch habe sich niemand getraut, ihn darauf anzusprechen.

Betroffenen-Anwalt stimmt Verteidigung teils zu

Nach Ansicht der Verteidigung habe sie die Rohdaten von behördlichen Analysen nicht ausreichend begutachten können, die in sichergestellten Infusionsbeuteln teils deutlich unterdosierte oder falsche Wirkstoffe gefunden hatten: Die Laborleiterin des Nürnberger Pharmazeuten Fritz Sörgel hatte die rund zwei Dutzend Aktenordner im Gericht durchsehen müssen, Kopien konnten kaum angefertigt werden. „Die Arbeitsbedingungen waren – diese Vokabel sei gestattet – geradezu zum Erbarmen“, heißt es in der Revisionsbegründung: Eine „Waffengleichheit“ sähe anders aus.

Die Verteidigung kündigte ferner eine weitere Stellungnahme für die Revision an, die sich um Sachfragen drehen soll. Auch der Berliner Nebenklagevertreter Andreas Schulz, der mehrere von dem Skandal Betroffene vertritt und eine strengere Strafe für S. fordert, sagt, dass das Urteil aus mehreren Gründen angreifbar sei. Bei derart komplexen Verfahren räume die Rechtsprechung der Verteidigung einen angemessenen Spielraum ein, seiner Ansicht nach habe die Verteidigung keine unzulässige Hinhaltetaktik verfolgt. „Ohne vorherige prozessuale Abmahnung durch das Gericht – und die ist hier nicht erfolgt – kann man nicht sagen, dass die Verteidigung das Verfahren verschleppt hat“, sagt er gegenüber DAZ.online.

Der Vorsitzende Richter habe alles „schnell, schnell“ erledigen wollen. „Dies rächt sich und wird zur Urteilsaufhebung führen“, sagt Schulz. Für die Richter sei dies der „Super-Gau“: Allein schon wegen der Kosten, die auf das Land NRW zukommen. Und nicht zuletzt, da eine neue Hauptverhandlung anstünde, die mindestens doppelt so lange dauern würde wie die bisherige.

In einem zweiten Artikel zur Revision zum BGH werden wir die Seiten der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger beleuchten.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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