Neue Leitlinien-Vorgaben in den Niederlanden

Wer profitiert von klinischen Medikations-Reviews?

Remagen - 10.10.2019, 14:00 Uhr

Der Nutzen von Medikation-Reviews wird jetzt am größten für Patienten ab 75 Jahren eingeschätzt, die zehn oder mehr Medikamente einnehmen. (m / Foto: Artur / stock.adobe.com)

Der Nutzen von Medikation-Reviews wird jetzt am größten für Patienten ab 75 Jahren eingeschätzt, die zehn oder mehr Medikamente einnehmen. (m / Foto: Artur / stock.adobe.com)


Ein Fachexpertenkreis unter Beteiligung der Apothekerschaft hat die niederländischen Leitlinien zur Durchführung klinischer Medikations-Reviews revidiert. Diese sollen nun nicht mehr wie bisher für Patienten ab 65 Jahren empfohlen werden, die fünf oder mehr Arzneimittel einnehmen, sondern erst für Patienten ab 75 Jahren mit „Hyperpolypharmazie“.

Die Regeln für die proaktive Durchführung klinischer Medikations-Reviews (CMR) unter Beteiligung von Arzt, Apotheker und Patient sind in den Niederlanden in einem speziellen Modul der multidisziplinären Richtlinie für die Polypharmazie bei älteren Menschen aus dem Jahr 2012 niedergelegt. Die Vorgaben wurden im Jahr 2017 einem Aktualitätscheck unterzogen, mit dem Ergebnis, dass das Modul im Lichte der Praxiserfahrungen und neuerer Literatur überarbeitet werden sollte. Unter anderem sollen mehrere Studien nur eine begrenzte klinische Wirkung von Medikations-Reviews gezeigt haben

Größter Nutzen ab welchem Alter?

In der vorherigen Version der Leitlinie, die unter Beteiligung der Königlich-Niederländischen Apothekervereinigung (KNMP) erstellt wurde, waren CMR für Personen über 65 Jahre empfohlen worden, die fünf oder mehr Arzneimittel einnehmen und einen oder mehrere der folgenden Risikofaktoren haben: stark verringerte Nierenfunktion, verminderte Kognition, erhöhtes Sturzrisiko, möglicherweise verringerte Compliance, nicht selbständiges Leben und geplante Krankenhauseinweisung. Im Rahmen der Revision gelangte der hierfür zuständige Expertenkreis nun zu dem Schluss, dass die „alten“ Auswahlkriterien nicht wirksam sind. Stattdessen wird der Nutzen von Medikations-Reviews jetzt am größten für Patienten ab 75 Jahren eingeschätzt, die zehn oder mehr Medikamente einnehmen. Die Fachleute sprechen in solchen Fällen von „Hyperpolypharmazie“. 

In dieser Patientengruppe steht der erwartete Effekt eines CMR in einem angemessenen Verhältnis zu dem hohen Einsatz der Leistungserbringer und Ressourcen, die dafür notwendig sind, so das Urteil der Arbeitsgruppe, weil das Risiko für pharmakotherapiebezogene Probleme (FTPs) hier stark erhöht sei. Dies bedeute jedoch nicht, dass beispielsweise ein 68-jähriger Patient, der sechs Medikamente einnehme, nie für einen klinischen Medikations-Review in Frage kommen könne. Vielmehr sollten Allgemeinärzte und Apotheker gemeinsam entscheiden, bei wem dieser nützlich sein könne. 

Anlass für die Revision: die DREAMeR-Studie

Als Begründung für die Revision wird besonders auf die DREAMeR-Studie verwiesen, deren Ergebnisse im Mai dieses Jahres in PLOS Medicine publiziert wurden. Die randomisierte kontrollierte Studie wurde in 35 öffentlichen Apotheken und Allgemeinarztpraxen in den Niederlanden durchgeführt. Zwischen April 2016 und Februar 2017 wurden 629 ältere Menschen (70 Jahre und älter) mit Polypharmazie (7 oder mehr Langzeitmedikamente) einbezogen. In dieser höheren Altersgruppe erwarteten die Forscher wegen der komplexeren Erkrankungen und intensiveren Pharmakotherapien eine höhere Aussagekraft hinsichtlich des CMR (klinischer Medikations-Review). Außerdem gingen sie von der Annahme aus, dass bei klinischen Medikations-Reviews den Vorlieben und Bedürfnissen der Patienten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt würde. Sie untersuchten deshalb speziell die Wirkung von patientenzentrierten CMRs. 

Zwei etwa gleich große Gruppen erhielten dazu entweder die übliche Versorgung oder klinische Medikations-Reviews als zusätzliche Intervention. Die primären Zielparameter waren die gesundheitsbezogene Lebensqualität (HR-QoL) und die Anzahl der gesundheitlichen Probleme (wie Schmerzen oder Schwindel) nach drei und sechs Monaten.

Wie die gesundheitsbezogene Lebensqualität erfasst wird

Die HR-QoL wurde mit dem EuroQol [EQ]-5D-5L bewertet, einem weit verbreiteten Instrument zur präferenzbasierten Messung der Lebensqualität. Die Versuchspersonen füllen dabei einen Gesundheitsfragebogen aus. 

Im ersten, deskriptiven Teil wird die HR-QoL über die fünf Dimensionen 

  • Beweglichkeit/Mobilität, 
  • Für-sich-selbst-sorgen, 
  • allgemeine Tätigkeiten, 
  • Schmerzen/körperliche Beschwerden und 
  • Angst/Niedergeschlagenheit 

erfasst (5D). Es gibt jeweils fünf Antwortlevel pro Dimension (5L), von „keine Probleme“ bis „extreme Probleme“. Die Antworten auf die fünf Fragen werden anhand standardisierter bevölkerungsbasierter Berechnungsvorgaben in einen Indexwert umgerechnet, wobei Tod mit 0 und der bestmögliche Gesundheitszustand mit 1 bewertet wird.

Im zweiten Teil, dem EQ-VAS, schätzen die Patienten ihren momentanen Gesundheitszustand auf einer visuellen Analogskala (VAS) zwischen 0 und 100 Punkten ein. Die patientenindividuelle VAS-Einschätzung und der deskriptive Lebensqualitätsindex (EQ-5D) können zu unterschiedlichen Bewertungen der Lebensqualität führen. 

Die Gesundheitsprobleme der älteren Patienten wurden mit einem selbst entwickelten Fragebogen gemessen, und zwar als Gesamtzahl und Zahl der Gesundheitsprobleme mit mittleren oder schweren Auswirkungen auf das tägliche Leben. Insgesamt wurden zwölf Gesundheitsprobleme abgefragt, darunter auch gängige Arzneimittel-Nebenwirkungen

Für einen personalisierteren Ansatz in Medikations-Reviews bei älteren Menschen 

Innerhalb von sechs Monaten stieg die mit dem EQ-VAS gemessene HR-QoL in der Interventionsgruppe um 3,4 Punkte und die Zahl der gesundheitlichen Probleme mit Auswirkungen auf das tägliche Leben verringerte sich im Vergleich zur Kontrollgruppe um 12 Prozent. Gleichzeitig verringerte der CMR (klinische Medikations-Review) die Anzahl der Dauermedikationen. Demgegenüber ergab sich zwischen der Interventionsgruppe und der Kontrollgruppe kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der HR-QoL, wenn diese mit dem mit EQ-5D-5L gemessen wurde. Auch die Gesamtzahl der Gesundheitsprobleme unterschied sich nicht.

Mehr auf die Einschätzung der Patienten hören

Die Autoren schlussfolgern daraus, dass ein Medikations-Review, bei dem sich das Patienteninterview auf die Präferenzen und Ziele des Patienten konzentriert, die selbst berichtete Lebensqualität älterer Menschen (EQ-VAS) verbessern und gesundheitliche Probleme im Vergleich zur üblichen Versorgung reduzieren kann, auch wenn die mittels EQ-5D gemessene Lebensqualität sich nicht ändert. Sie halten den gemessenen – wenn auch geringen Effekt – trotzdem für klinisch relevant und sprechen sich deshalb für einen personalisierteren Ansatz in Medikations-Reviews bei älteren Menschen aus.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


Das könnte Sie auch interessieren

Pascoflair® überzeugt in Studie bei nervösen Unruhezuständen

In der Ruhe liegt die Kraft

Erfahrungen mit dem Athina-Konzept zu apothekenzentrierten Medikationsanalysen

Kontinuierlich die Medikation überprüfen

Cochrane-Review zeigt verbesserte Lebensqualität

Dreifachtherapie bei schwerer COPD

Cochrane-Review zeigt verbesserte Lebensqualität bei Zusatz eines inhalativen Glucocorticoids

Schwere COPD behandeln

Bewohner von Altenpflegeheimen ohne Benefit

Sport hilft nicht bei Depression

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.