Estland

Apothekenketten organisieren Generalstreik wegen Apothekenreform

Remagen - 19.12.2019, 17:45 Uhr

In vielen Apotheken Estlands, die zu Kettenkonzernen gehören, blieb am gestrigen Mittwoch die Tür geschlossen. Denn die Kettenbetreiber streiken wegen einer geplanten Apothekenreform. ( m / Foto: imago images / blickwinkel)

In vielen Apotheken Estlands, die zu Kettenkonzernen gehören, blieb am gestrigen Mittwoch die Tür geschlossen. Denn die Kettenbetreiber streiken wegen einer geplanten Apothekenreform. ( m / Foto: imago images / blickwinkel)


Im estnischen Apothekenmarkt spitzt sich die Lage immer mehr zu. Eigentlich sollte die Liberalisierung des Marktes mit der Dominanz der großhandelseigenen Ketten zurückgedreht werden, aber da hat die Politik wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Kettenbetreiber haben zum Generalstreik aufgerufen und ließen ihre Apotheken am gestrigen Mittwoch tagsüber geschlossen. Nun soll die Reform aber doch mit aller Macht durchgedrückt werden. So schnell gibt der Staat nicht nach.

Nach der derzeitigen Rechtslage, die mit der Reform aus dem Jahr 2015 geschaffen wurde, https://ravimiamet.ee/apteegireform dürfen in Estland nur noch Apotheken betrieben werden, deren Eigentumsanteile mehrheitlich in den Händen eines Apothekers liegen, der diese auch selbst leitet. Außerdem soll die Trennung der Apothekendienstleistungen von Pharmaherstellern und -großhändlern durchgesetzt werden (Verbot der vertikalen Integration). Weiterhin dürfen öffentlich Apotheken in Städten mit mehr als 4000 Einwohnern keine Filialapotheken mehr haben. Derzeit läuft noch eine Übergangsfrist für die Anpassung des Bestandsmarktes bis zum 1. April 2010.

Nun ist der fünfjährige Übergangszeitraum so gut wie abgelaufen, und von den knapp 500 Apotheken (darunter 150 Filialapotheken) sind ab dem Stichtag 300 von der Schließung bedroht, weil die Reform sich einfach nicht umsetzen lässt. Sie scheitert maßgeblich am Widerstand der marktbeherrschenden großhandelseigenen Ketten, deren Interessen der estnische Apothekenverband (EAÜ) vertritt. Die vier größten Ketten des Landes beschäftigen mehr als 1100 Apotheker und insgesamt fast 1500 Mitarbeiter. Sie liefen in den letzten Monaten mit allen Mitteln Sturm gegen die Reform und versuchten den Status quo mit einem politischen „Kompromissvorschlag“ durch die Hintertür zu erhalten.

Gesetzesvorlage abgeschmettert

Die Reaktion blieb nicht aus. Drei Koalitionsparteien legten dem estnischen Parlament schließlich einen Gesetzesvorschlag vor, der die Reform tatsächlich wieder zurückschrauben sollte. Geplant war, die vertikale Integration wieder zu erlauben und Filialen in Städten mit bis zu 20.000 Einwohnern wieder zuzulassen. Das Parlament schmetterte den Vorschlag jedoch bei seiner Sitzung am Dienstag dieser Woche ab. Wie DAZ.online vom estnischen Apothekerverband, der die unabhängigen Apotheker vertritt, erfahren hat, war die Entscheidung im Parlament denkbar knapp. Fünfzig Abgeordnete stimmten dagegen ab, 46 dafür. Das bedeutet, dass die Reform in Kraft bleibt und dass die Übergangsfrist am 1. April 2020 auslaufen wird.

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Überfallartiger Generalstreik ausgerufen

Die Kettenbesitzer bzw. die Großhandelsunternehmen geben damit aber noch lange nicht klein bei. Gestern riefen sie in ihren Apotheken völlig überraschend einen Generalstreik aus. Die Apotheken blieben bis auf die Notdienstapotheken von 14 Uhr bis in den Abend hinein geschlossen. Von dem Streik war mehr als die Hälfte aller Apotheken in Estland betroffen. Nach eigenem Bekunden wollten die Kettenapotheken dem Staat damit vorführen, welche Situation entsteht, wenn die Reform wirklich durchgedrückt wird. Sie schieben dem Staat den schwarzen Peter zu. „Da die Politiker beschlossen haben, dass 200 Apotheken in Estland ausreichen und 300 Apotheken geschlossen werden können, übernehmen sie nun die Verantwortung“, erklärte Timo Danilov, Chef des Verbandes der Kettenapotheken. Die unabhängigen Apotheker sehen das völlig anders: „Das ist eine klare Machtdemonstration und eine Erpressung”, heißt es in einer Mitteilung an DAZ.online. Die Verwirrung sei komplett gewesen, die Patienten seien vorab nicht über den Streik informiert worden und hätten nicht gewusst, wo sie in der Nähe auf die Schnelle eine offene Apotheke finden könnten. Auch die in den Ketten angestellten Apotheker seien erst wenige Minuten von der Streikaktion informiert und angewiesen worden, die Apotheke zu schließen.

„Keine Wärme, sondern reine Geschäftstüchtigkeit“

Die estnische Tagespresse überschlägt sich förmlich mit Kritik an diesem neuerlichen Winkelzug. Die Zeitung „Eesti Päevaleht“ (EPL) schreibt, es sei kaum zu glauben, dass eine repräsentative Körperschaft wie das Riigikogu (Parlament) als Erfüllungsgehilfe für Großunternehmen angesehen werde. „Diese Art der energischen Demonstration von Geschäftsleuten ist eine böse, arrogante Erpressung, die nur den Kampf schwächt, aber hoffentlich die Augen derer öffnet, die noch nicht herausgefunden haben, welches Spiel da gespielt wird", heißt es dort. Die Tageszeitung „Õhtuleht“ stellt fest, dass die Maßnahme der Schließung von Apotheken im ganzen Land deutlich machte, was Apothekenketten bzw. deren Eigentümer wirklich von ihren Kunden halten. „Es gibt dort keine Wärme oder Kundenfreundlichkeit, sondern reine Geschäftstüchtigkeit, wenn auch hoffentlich nicht über jedermanns Leiche", pointiert die Tageszeitung.

Wasser auf die Mühlen der Politik

Ein Leitartikel in „Postimees“ äußert sich vorsichtiger und behauptet, die öffentliche Meinung zur Schließung von Apotheken sei nicht einheitlich. Dennoch räumt die Zeitung ein, dass das Verhalten der Ketten dem Engagement des Staates für die Trennung der Segmente Arzneimittelgroßhandel und Apotheken paradoxerweise nur noch mehr Nachdruck verleihe. Die drei großen Akteure im Apothekenmarkt vereinten eben eine sehr große Macht auf sich und der Missbrauch dieser Macht habe erhebliche Auswirkungen, was am Beispiel des Streiks deutlich geworden sei. Die „Geiselnahme des Apothekendienstes“ unterstreiche weiter, dass die Berufsethik des Apothekers ein wesentlicher Bestandteil des Apothekengeschäfts sei.

„Noch nie so etwas Zynisches gesehen“

Sozialminister Tanel Kiik sagte in einer Pressekonferenz, dass er in seiner gesamten politischen Laufbahn noch nie etwas so Zynisches gesehen habe. Es sei ein „sehr bedauerlicher Tag“. Für den Minister ist ein möglicher Rückgang der Apothekenzahl kein Argument gegen die Reform. „Heute haben wir 500 Apotheken“, rechnet Kiik vor. Wenn wir 1000 hätten, wäre der Markt dann doppelt so gut? Und wenn wir 4000 hätten acht Mal so gut?“ Er hält die Apothekenzahl für sich allein betrachtet nicht für einen ausreichenden Indikator, anhand dessen die ausreichende Verfügbarkeit von Arzneimitteln ermessen ließe. Sein Ministerium schätze, dass der tatsächliche Bedarf für die Größe Estlands bei 300 bis 400 Apotheken liege.

Der Sozialminister hat eigene Ideen

Kiik hat dem Vorsitzenden des Sozialausschusses des Parlaments seinerseits Vorschläge zur Verbesserung der Apothekenreform unterbreitet. Um die drohende Versorgungskrise zu abzuwenden, könnte er sich eine schrittweise Umsetzung der Reformteile im ganzen Land vorstellen. Hiernach könnten zunächst in den größeren Städten Estlands Tallinn, Tartu, Pärnu, Rakvere und Jõhvi ab April nächsten Jahres alle nicht konformen Filialapotheken geschlossen werden. Dort soll es ohnehin ein Überangebot an Apotheken gaben. Das Ministerium empfiehlt außerdem, die Besitzverpflichtung so zu ändern, dass ein Apothekeneigentum auf mehrere Apotheker aufgeteilt werden kann, wobei die Apotheker einen Anteil von mindestens achtzig Prozent halten müssen.

Wie sich der nächste Akt im estnischen „Apothekendrama“ gestalten wird, bleibt offen.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Ein echtes Lehrbeispiel

von ratatosk am 19.12.2019 um 18:32 Uhr

Hier kann man live erleben, was nach Übernahme der Macht durch das Großkapital passiert. Nicht daß deutsche Politiker und Kassen das interessieren wird, die sind schon die gefügigen Erfüllungsgehilfen, aber im restlichen Europa könnte diese Exempel noch was nützen.

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Streik in Estland

von Roland Mückschel am 19.12.2019 um 18:01 Uhr

Und jetzt sitzen die teilnehmenden Apotheker
alle im Kerker?
Kuckuck und Hallo liebe deutsche Kollegen.

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