Thesenpapier 2.0 zur Corona-Pandemie

Glaeske et al. fordern Zielgruppen-spezifische Präventionsmaßnahmen

Berlin - 04.05.2020, 14:44 Uhr

Professor Gerd Glaeske gehört zu dem sechsköpfigen Autorenteam des Thesenpapiers zur SARS-CoV-2-/COVID-19-Pandemie. (b/Foto: Raphael Hünerfauth)

Professor Gerd Glaeske gehört zu dem sechsköpfigen Autorenteam des Thesenpapiers zur SARS-CoV-2-/COVID-19-Pandemie. (b/Foto: Raphael Hünerfauth)


Kurz vor Ostern machte ein Thesenpapier renommierter Experten im Gesundheitsbereich – darunter Professor Gerd Glaeske – zur SARS-CoV-2-Pandemie die Runde. Unter dem Titel „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ nahmen sie die derzeitigen politischen Entscheidungen aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch unter die Lupe. Nun haben sie die Version 2.0 ihres Papiers vorgelegt – mit einer aktualisierten Bestandsaufnahme und einem möglichen Ausblick.

Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat uns alle vor völlig neue Herausforderungen gestellt – auch die Regierungen. Es gibt schlicht keine Erfahrung, wie in einer solchen Situation richtig zu handeln ist. Ratschläge kommen von vielen Seiten – doch entscheiden muss in der Demokratie der Gesetzgeber. Und der entschied sich auch hierzulande bekanntlich für tiefgreifende Maßnahmen im Wirtschaftsleben sowie im persönlichen Bereich, die nun nach und nach bedacht wieder gelockert werden müssen.

Sechs im Gesundheitswesen nicht unbekannte Experten haben es sich bereits vor einigen Wochen zur Aufgabe gemacht, in einem Thesenpapier die epidemiologische Problemlage zu klären und Vorschläge zur Prävention zu machen. Mit Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske zählen zwei ehemalige Mitglieder des Gesundheitssachverständigenrats zu dieser Autorengruppe; zudem Hedwig François-Kettner, ehemalige Pflegedirektorin der Charité und bis vergangenes Jahr Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Professor Holger Pfaff, ehemaliger Vorsitzende des Expertenbeirats des Innovationsfonds, Dr. Matthias Gruhl, Arzt und Staatsrat der Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz und Franz Knieps, Jurist und Vorsitzender des BKK-Dachverbandes.

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„Uns kam es vor allem darauf an, die problematischen Aspekte der aktuellen Entscheidungen  aus Sicht der Epidemiologie, der Prävention und der Bürgerrechte darzustellen und dadurch zum Nachdenken und Überdenken der aktuellen Situation anzuregen“, erklärte seinerzeit Co-Autor Glaeske gegenüber DAZ.online.

Konkret stellten die Autoren in ihrem ersten Papier drei Thesen auf. Zum ersten die, dass es keine hinreichende epidemiologische Datenlage gebe – somit könnten die zur Verfügung stehenden Daten auch nur eingeschränkt der Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen. Zum zweiten seien auch die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z. B. social distancing) theoretisch schlecht abgesichert; ihre Wirksamkeit sei beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“) und hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen Epidemien (z. B. HIV) müssten sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen. Zum dritten stellten die Autoren die These auf, dass die angewandte allgemeine Präventionsstrategie (partieller shutdown) anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein möge – sie berge aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden.

Das Problem mit den Zahlen

Nachdem sich rund um SARS-CoV-2 alles dynamisch entwickelt, sahen sich die Autoren veranlasst, ihr Thesenpapier zu aktualisieren. Die Fassung 2.0 enthält nunmehr 23 Thesen und ist von 29 auf 77 Seiten angewachsen, inklusive einer zehnseitigen Zusammenfassung. Grundsätzlich bleibt es aber bei der Dreiteilung Epidemiologie, Prävention und gesellschaftliche Implikationen. Laut dem neuen Papier, habe besonders die Problematisierung der sozialen und politischen Konsequenzen „zahlreiche positive Reaktionen“ hervorgerufen. Bestärkt sehen sich die Wissenschaftler auch darin, dass die Art der Kommunikation wichtig ist: „Nach den Prinzipien der Risikokommunikation ist in einer solchen Situation ein sachlicher und gelassener Austausch von Argumenten geboten, der nichts beschönigt, aber auch nichts unnötig dramatisiert“.

Ein guter Ausgangspunkt einer solchen nüchternen Herangehensweise könnte den Autoren zufolge die Erkenntnis sein, dass SARS-CoV-2/Covid-19 „eine typische Infektionskrankheit darstellt, die bestimmte Eigenschaften und – natürlich – enorme Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und auf die sozialen Systeme haben kann“. Allerdings stelle sie keinen Anlass dafür dar, „in quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen“, heißt es im Papier. Dies gelte insbesondere für den Umgang mit den „vulnerablen Gruppen“. Hier wünschen sich die Experten „phantasievollere“ Lösungen für die Prävention als einen Reflex zu „Kontaktsperren“ oder „soziale Isolation“.

Welche Daten sind wirklich aussagekräftig?

Grundsätzlich beklagen die Autoren nach wie vor die mäßige Datenlage sowie die Kommunikation der vorhandenen Zahlen. So stehe noch immer die kumulative Häufigkeit der gemeldeten Infektionen im Mittelpunkt, was zu einer überzeichneten Wahrnehmung führe. Besser wäre es aus ihrer Sicht, den Blick auf die Zahl der täglich neuen Fälle zu lenken, die derzeit deutlich abnehme. Schwierig ist ihrer Ansicht nach auch, dass die Testhäufigkeit vom Bundesgesundheitsminister, dem Robert Koch-Institut und der Arbeitsgemeinschaft Akkreditierte Labore in der Medizin für unterschiedliche Zeiträume und mit unterschiedlichen Positivraten angegeben werde. Dies verwirre, obwohl diese Rate im Wochenvergleich wohl abnehme. Um ein aussagekräftiges Bild zu haben, so die Autoren, müsste die Zahl der täglichen Neuinfektionen ergänzt werden um die Zahl der im gleichen Zeitraum getesteten Personen. Zudem bemängeln die Experten, dass die Zahl der asymptomatisch Infizierten unter den Getesteten nicht ausgewiesen ist. Auch die berichtete Zahl der Genesenen sei irreführend, ebenso die der Sterbefälle, da der Bezug hier fehle. Problematisiert werden im Papier zudem die Testinstrumente – da von den Testungen eingreifende Konsequenzen abgeleitet werden, sei ihre Aussagekraft zu hinterfragen und zu kommunizieren.

Wie könnten Präventionsansätze für Risikogruppen aussehen? 

Was das Kapitel der Prävention betrifft, so sind die Autoren überzeugt, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, die bisherige Strategie des Lockdowns grundlegend zu überdenken. Dessen positive Auswirkungen seien schwer abzuschätzen. Dafür gebe es unerwünschte Nebeneffekte: So sei infolge der Umorganisation von Krankenhäusern und Praxen die Versorgung von Krankheiten zurückgedrängt worden, die nicht im Zusammenhang mit COVID-19 standen. Nicht zu unterschätzen seien zudem die psychosozialen Folgen der eingeschränkten Freizügigkeit, die über zunehmende häusliche Gewalt bis hin zu Erkrankungen und Tod führen könnten.

Eine recht klare Meinung haben die Autoren zu Kindern: Sie würden seltener krank (Letalität nahe null) und gäben die Infektion seltener weiter, sodass der Öffnung von Kindergärten und Schulen „unter entsprechender wissenschaftlicher Begleitung nichts im Wege stehen sollte“. Sie empfehlen daher in diesem Bereich eine Rückkehr zu einer „möglichst weitgehenden Normalisierung“. Einen wichtigen Schwerpunkt bei den Präventionsmaßnahmen sollte man hingegen auf Gesundheits-, Pflege- und Betreuungseinrichtungen legen, da sich SARS-CoV-2 dort nosokomial und herdförmig ausbreite.

Risiko-Score und die richtige Konnotation

Recht ausführlich setzt sich die Autorengruppe mit Zielgruppen-spezifischen Präventionsansätzen auseinander. Kriterien sind hier hohes Alter, vor allem verbunden mit Komorbidität, nosokomialer Kontakt und Cluster-Zugehörigkeit. Ausdrücklich betont sie, „dass es um den besonderen Schutz der Risikogruppen und keinesfalls um deren Ausschluss aus dem öffentlichen Leben geht“. Wichtig sei, Kriterien für die „vulnerablen Gruppen“ zu entwickeln – ein einziges wie zum Beispiel ein Alter von über 60 Jahren könne hier nicht ausreichen, sagen die Autoren die bei einem solch holzschnittartigen Verfahren allesamt selbst erfasst wären. Sie schlagen vielmehr einen Risiko-Score vor, bei dem für verschiedene Kriterien in unterschiedlichen Abstufungen (beim Alter, der Zahl der Erkrankungen) maximal drei Punkte gegeben werden. So kämen etwa Pflegeheimbewohner über 80 Jahren mit drei Begleiterkrankungen auf den höchsten Punktwert. Sie müssten in ihrer Einrichtung optimal versorgt werden. Ein etwas niedrigerer Score (z.B. Alter 70-80 Jahre, zwei Komorbiditäten in Eigenversorgung) sollte Unterstützung bei Einkäufen und Arztbesuchen bekommen; Geschäfte könnten für sie aber auch einen Zeit-Slot einrichten, in dem sie risikolos einkaufen könnten. Der Besuch von Enkelkindern könnte durch einen kostenlosen Zugang zu Schnelltests ermöglicht werden. Personen über 60 Jahren mit keiner oder einer Vorerkrankung könnten sich hingegen frei bewegen. Im Papier heißt es: „Die Autorengruppe ist sich klar darüber, dass diese Vorschläge ungewohnt und fremdartig erscheinen. Wichtig ist, dass sie auf Förderung und nicht auf Einschränkung abzielen“. Sie wünschen eine positive Konnotation, die nicht den Verzicht herausstellt und Sanktionen assoziiert, sondern auf Förderung, Autonomie und Würde der Person ausgerichtet ist.

Auch mit den sogenannten Corona-Apps setzen sich die Autoren auseinander. Sie raten allerdings von monodimensionalen Konzepten ab. Sie gäben nicht den Stand der Praxis und Wissenschaft wider, wo sich komplexe Mehrfachinterventionen als weitaus wirksamer erwiesen hätten.

Verhältnismäßigkeit der Grundrechtsbeschränkungen im Blick behalten! 

Die abschließenden Thesen befassen sich mit einer angemessenen, transparenten und positiven Kommunikation von Verantwortungsträgern sowie den derzeit stark beanspruchten Grundrechten. Was letztere betrifft, so erinnern die Autoren daran, dass Eingriffe stets einer legitimen Rechtfertigung und eines transparenten Abwägungsprozesses zwischen konkurrierenden Grundrechten sowie zwischen Grundrechten und Schutzpflichten des Staates bedürfen. „Je länger Beschränkungen andauern, desto stärker ist der Zwang zu kontinuierlicher Evaluation speziell in Bezug auf die Beachtung der Verhältnismäßigkeit ausgeprägt“.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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3 Kommentare

Vielen Dank...

von J.H. am 10.05.2020 um 20:44 Uhr

... für diesen Artikel - ich freue mich über diesen konstruktiven und sachlichen Beitrag zum Umgang mit Corona sehr!

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Herr Glaeske und die Zielgruppen

von pille62 am 05.05.2020 um 9:42 Uhr

Warum liebe Redaktion zitieren sie immer noch den alten Mann, der mittlerweile seinen Zenit doch längst überschritten hat.
Bei nächster Gelegenheit wird er seine im Corona Zeitalter veralteten Ansichten und Hasstriaden gegen die Apotheker wieder vortragen.
Ignorieren, die Bühne entziehen wäre angezeigt.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Herr Glaeske und die Zielgruppen

von Frag_mich am 20.05.2020 um 14:42 Uhr

...na ein Glück, dass Sie da so wertungsfrei und faktenbasiert gegenhatlen!

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