Umfassende immunologische Analyse

Das Rätsel um die „Blackbox“ der Immunabwehr gegen SARS-CoV-2 lüften

Remagen - 09.07.2020, 07:00 Uhr

Was genau tut das Immunsystem bei SARS-CoV-2-Infektionen? (Foto: peterschreiber.media / stock.adobe.com)

Was genau tut das Immunsystem bei SARS-CoV-2-Infektionen? (Foto: peterschreiber.media / stock.adobe.com)


Die scheinbar unberechenbare Reaktion des Immunsystems gehört zu den tückischsten Komplikationen einer Infektion mit SARS-CoV-2. Die Gemengelage ist unübersichtlich. Wissenschaftler von der Universitätsmedizin in Halle haben mit einer umfassenden immunologischen Analyse versucht, etwas Licht in die „Blackbox“ der Immunabwehr gegen das neuartige Coronavirus zu bringen. Ihre Daten geben grundlegende Einblicke in die adaptive Immunität gegenüber SARS-CoV-2. 

Einige Infizierte erleben eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus sozusagen gar nicht, während andere in eine lebensbedrohliche Lage schlittern. Nach bisherigen Erfahrungen liegt das nicht nur am Virus selbst, sondern auch daran, wie der Körper versucht, es abzuschmettern. In frühen Krankheitsstadien kommt es auf eine funktionierende adaptive Immunreaktion an, in fortgeschrittenen Stadien darauf, diese im Zaum zu halten. Derzeit gibt es nur unvollständige Kenntnisse über die Art der durch SARS-CoV-2 induzierten T- und B-Zell-Immunantworten und die Faktoren, die die Reaktionen und ihre Dauer regulieren.

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Diese Lücke wollte ein Wissenschaftlerteam aus Halle an der Saale mit einer umfassenden immunologischen Analyse versuchen zu schließen. Die Forscher stellten zwei Kohorten zusammen, eine mit hospitalisierten Patienten und aktivem, schwerem COVID-19 und eine mit leichterer oder mittelschwerer Ausprägung, die sich ohne medizinische Behandlung davon erholt hatte, und entnahmen ihnen Blutproben. Als Vergleichsgruppe diente eine altersangepasste Kohorte, die negativ auf COVID-19-Antikörper getestet wurde. Die Ergebnisse hat die Gruppe im Fachmagazin „Immunity“ publiziert.

Wie die Immunabwehr auf SARS-CoV-2 reagiert

Die Forscher konnten zeigen, dass fast alle Personen mit COVID-19 oder einer durchgemachten Infektion IgA und IgG-Antikörper gegen SARS-CoV-2 entwickelten. Patienten mit einer aktiven Erkrankung zeigten im Allgemeinen höhere Maximalwerte, mit einem relativem IgG von 6,3 gegenüber 2,1 (gemessen mit semiquantitativem ELISA) in einer Zeitspanne von 30 bis 45 Tagen nach den ersten Symptomen. Viele Patienten mit aktivem und meist schwerem COVID-19 wiesen eine Leukozytose auf, einige davon mit Granulozytose und ausgeprägter T-Zell-Lymphopenie, während die B-Lymphozytenzahl bei der Mehrheit der Patienten normal oder sogar erhöht war. Das Verhältnis der CD4+/CD8+ T-Zellen wurde in Richtung CD4+ T-Zellen verschoben, und bei einigen Patienten waren die regulatorischen T-Zellen vermehrt. Darüber hinaus bestätigt die Studie bereits veröffentlichte Daten zur Dysregulation von Zytokinen wie IL-6, IL-8, IL-10, IP-10, TNF-α, sCD25 (IL-2Ra) und IFN-γ.

Noch lange auffällige Laborwerte nach milden Verläufen

Als „erstaunlich“ heben die Autoren hervor, dass viele junge Patienten mit milden Verläufen und schneller Erholung auch noch Wochen nach der Ausheilung auffällige Laborwerte zeigten. „Neben überschießenden regenerierenden Immunzellen finden sich pathologische Muster kardiovaskulärer Risikofaktoren und bei Interferonen, die in der viralen Abwehr eine Rolle spielen, aber auch mit der Proliferation von Bindegewebsfasern und Vernarbung in bestimmten Geweben wie der Lunge einhergehen können“, berichtet Mascha Binder, Professorin für Onkologie und Hämatologie sowie Direktorin der Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin IV der Universitätsmedizin Halle. Ob dies in der Patientengruppe mit einem erhöhten Risiko für Folgeerkrankungen assoziiert sei, müsse aber mit weiteren Langzeitbeobachtungsstudien geklärt werden.

Offene Datenbank für TCR- und BCR-Blutsequenzen

Für den wichtigsten Teil ihrer Studie halten die Forscher die Untersuchung von über 14 Millionen TCR(T-Zell-Rezeptor)- und BCR(B-Zell-Rezeptor)-Blutsequenzen von COVID-19-Patienten und insbesondere deren Clusterbildung, weil daraus COVID-19 relevante TCR- oder BCR-Signaturen abgeleitet werden können. Das COVID-19 BCR- und TCR-Sequenz-Repository soll auch für andere Forscher zur Verfügung gestellt und kontinuierlich mit neuen Sequenzdaten gespeist werden. Die Daten können damit nach dem Willen der Hallenser Forscher von der wissenschaftlichen Gemeinschaft genutzt und zum Beispiel für diagnostische Anwendungen, aber auch zur Entwicklung einer passiven Immuntherapie mit neutralisierenden Antikörpern weiterentwickelt werden. Zum Zeitpunkt der Publikation enthält die Datenbank mehr als 6,2 Millionen BCR- und über 8,3 Millionen TCR-Sequenzen von 37 Patienten zu 69 Zeitpunkten.

Was sagen die Daten bereits jetzt und was sagen sie nicht?

„Das Projekt zeigt Charakteristika von Immunantworten gegen SARS-CoV-2 bei milden und schweren Krankheitsverläufen auf“, erklärt Mascha Binder. „Die Unterschiede in den Immunantworten legen nahe, dass das Erreichen einer frühen schützenden Immunität oder auch das Verhältnis von schützenden und nicht-schützenden Anteilen in der Immunantwort darüber entscheiden kann, ob eine schnelle Viruseliminierung und Abheilung gelingt und sich ein pathologischer Entzündungszustand und damit schwerer Erkrankungsverlauf vermeiden lässt.“

Die Wissenschaftler stellten fest, dass das T-Zell-Repertoire von Patienten mit einem milden klinischen Verlauf, die sich bereits von COVID-19 erholt hatten, sehr vielfältig war. Ihrer Meinung nach fehlt es auch noch an ausreichenden Blutproben von COVID-19-Patienten mit leichten Verläufen während der symptomatischen Phase ihrer Erkrankung sowie an Frühproben von Patienten mit schwereren Verläufen. Dieses Material sei schwer zu bekommen, schreiben sie, da Patienten in frühen Stadien oder mit leichten Symptomen oft zu Hause isoliert seien. Die Proben würden aber dringend gebraucht, um die Bedeutung der Cluster, die sie gefunden haben, für die Diagnose in der Frühphase der Erkrankung validieren zu können. Außerdem müssten die schützenden versus die schädlichen adaptiven Immunantworten noch besser definiert werden, um die prognostische Bedeutung ihrer Cluster adäquat ausschöpfen zu können.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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