Infektionsursachen lange unklar
Trotz der weitverbreiteten Begeisterung für die wirksame Methode blieb die Ursache der Infektionskrankheiten vorerst im Unklaren. Dass die Seuchen durch bakterielle oder virale Erreger ausgelöst werden, war den Zeitgenossen ebenso unbekannt wie der Umstand, dass eine Impfung zur Ausbildung einer Immunkompetenz gegen den jeweiligen Erreger führt, ohne die Infektionskrankheit durchgemacht zu haben. Dies begann sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu ändern. Die bahnbrechenden Forschungen von Louis Pasteur und Robert Koch brachten den endgültigen Beweis für die Existenz mikrobiologischer Krankheitserreger, etwa des Milzbrandes (1876) oder der Tuberkulose (1882). Damit war ein Ansatz gegeben, die Impfstoffentwicklung weiterzutreiben. Pasteur gelang 1881 die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Milzbrand, 1885 folgte einer gegen die Tollwut. Kurze Zeit später wurde mit der passiven Impfung unter Leitung von Emil von Behring eine weitere Immunisierungsstrategie entwickelt, bei den die Antikörper nicht im Körper selbst hergestellt, sondern von außen zugeführt werden. Die ersten wirksamen Passivimpfstoffe wurden 1890 eingeführt: gegen Diphtherie und Tetanus.
Pocken-Impfzwang schon im 19. Jahrhundert
Die Standardisierung des Impfwesens begünstigte wie kaum ein anderer medizinischer Bereich die Herausbildung einer systematischen staatlichen Gesundheitspolitik. Im Fokus standen dabei zunächst die Pocken. Als erster deutscher Staat führte das Großherzogtum Hessen 1807 einen entsprechenden Impfzwang ein, der bald auch von anderen Staaten übernommen wurde. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden Impfprogramme dann auch auf nationaler Ebene eingeführt: im Deutschen Reich 1874 mit der allgemeinen gesetzlichen Pflicht zur Pockenschutzimpfung. Dieser Schritt bedeutete zugleich den Beginn der Impfgegnerschaft, die in der Pflichtimpfung einen unzulässigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen erkannte.
Als erster deutscher Staat führte das Großherzogtum Hessen 1807 einen Impfzwang ein."
Da das Impfen grundsätzlich auf eine Immunisierung nicht nur des Individuums, sondern auch der Gemeinschaft zielt, war es stets mit hochumstrittenen sozialmoralischen und -medizinischen Ordnungsvorstellungen verbunden: Verhandelt wurde hier etwa das prinzipielle Verhältnis zwischen individuellen Grund- und staatlichen Eingriffsrechten. Besonders brisant war diese Problematik wegen der gravierenden, teils tödlichen Komplikationen, die mit der Pockenschutzimpfung in Einzelfällen einhergingen. Aber auch andere Vorfälle – etwa das Lübecker Impfunglück von 1931, bei dem 77 Säuglinge durch einen verunreinigten Tuberkulose-Impfstoff zu Tode kamen – machten das Impfen zu einer durchaus umstrittenen Sache.
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