Schmerzmittel-Missbrauch bei Jugendlichen

Tilidin als Droge

Stuttgart - 29.09.2020, 07:00 Uhr

„Opioide bringen ein warmes und geborgenes Gefühl, das man zu Hause vielleicht nie hatte und nie gespürt hat“, sagt Maurice Cabanis, Leitender Oberarzt der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart über jugendliche Schmerzmittelabhängigkeit. (Foto: FollowTheFlow / stock.adobe.com)

„Opioide bringen ein warmes und geborgenes Gefühl, das man zu Hause vielleicht nie hatte und nie gespürt hat“, sagt Maurice Cabanis, Leitender Oberarzt der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart über jugendliche Schmerzmittelabhängigkeit. (Foto: FollowTheFlow / stock.adobe.com)


Rapper thematisieren es vielfach in ihren Songs, und ein Geständnis des Musikers Capital Bra zu seiner Medikamentenabhängigkeit machte kürzlich medial die Runde: Der Konsum des verschreibungspflichtigen Schmerzmittels Tilidin erlebt seit geraumer Zeit eine Art Revival bei Jugendlichen – als euphorisierende Droge, die beruhigt und Kummer vertreibt. Experten sorgen sich.

„Gerade in der Hip-Hop-Szene – unter anderem auch durch Bekanntwerden von prominenten Betroffenen – verbreitet sich die Substanz zurzeit“, warnt Maurice Cabanis, Leitender Oberarzt der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart. Die Deutsche Presse-Agentur hat ihn zum Tilidin-Missbrauch unter Jugendlichen befragt. „Zudem sind Schmerzmittel derzeit zu einer Lifestyle-Droge geworden, die zunehmend von Jugendlichen und jungen Erwachsen konsumiert wird.“ Die Gefahren beim Missbrauch von Schmerzmitteln als Droge würden unterschätzt.

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Zur Hochrisikogruppe gehören seinen Erfahrungen zufolge vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, die aus prekären Lebenssituationen kommen. Etwa, wenn sie vernachlässigt oder misshandelt wurden oder sexuelle Gewalt erleben mussten und traumatisiert sind. „Opioide bringen ein warmes und geborgenes Gefühl, das man zu Hause vielleicht nie hatte und nie gespürt hat“, sagt Cabanis. Wenn Tilidin dann in der Szene oder in Songs als Superdroge verherrlicht werde, sei dies fatal. Denn Tilidin könne süchtig machen; der Entzug sei je nach Konsummenge quälend, verbunden etwa mit starken Muskelschmerzen, Erbrechen, Unwohlsein, Zittern und Schwitzen.

Tilidin ist in bestimmten Szenen schon lange bekannt

Von den in seiner Abteilung stationär aufgenommenen Patienten, die Tilidin nehmen, sei das Schmerzmedikament irgendwann zur beherrschenden Droge geworden, sagt Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Auch er verweist auf den Einfluss der Rapszene: „Jugendliche neigen zur Identifikation mit ihren Idolen, imitieren das Verhalten. Das ist aus suchtpräventiver Sicht hochproblematisch.“ 

Tilidin als Droge ist dabei kein neues Phänomen. „Es ist, ebenso wie Codein, eine Substanz, die in der US-amerikanischen Rapszene schon seit Jahrzehnten präsent ist und seit wenigen Jahren auch von Deutschrapkünstlern populär gemacht wird in Texten und den Videos“, erklärt Philipp Weber, Dienststellenleiter der Stuttgarter Suchtberatungsstelle Release U21 für junge Menschen unter 21 Jahren. Auch jenseits der Musik sei Tilidin in bestimmten Szenen schon lange bekannt: etwa bei Sportarten wie Fußball, wo körperliche Auseinandersetzungen eine große Rolle spielen - „weil das Medikament angstfrei macht, man risikobereiter wird und auch nicht so schnell Schmerzen verspürt“, erklärt Weber.

Sollte auch retardiertes Tilidin ein BtM sein?

Die Datenlage zum Tilidinkonsum von Jugendlichen ist schwierig. Zwar gebe es gute Hinweise beispielsweise aus dem Arzneiverordnungsreport von 2016, sagt Thomasius. „Darin ist für die Zeit von 2006 bis 2015 eine Zunahme von 30 Prozent der definierten Tagesdosen an Opioid-Analgetika, zu denen Tilidin gehört, beschrieben.“ Das Problem sei aber nicht ausreichend wissenschaftlich erfasst. „Wir klammern das Problem des Medikamentenmissbrauchs bei Jugendlichen bisher aus.“ Das Reportageformat STRG_F (NDR/funk) hatte kürzlich eigenen Angaben zufolge Daten der gesetzlichen Krankenkassen abgefragt: Demnach wurden 2017 noch 100.000 definierte Tagesdosen Tilidin für 15- bis 20-Jährige verschrieben, 2019 dann mehr als drei Millionen – eine Steigerung um das 30-Fache. „Das wäre erschreckend“, sagt Thomasius. Diese Daten lassen sich jedoch nach Worten einer Sprecherin des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV) so nicht nachvollziehen. Auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) kann sie nicht bestätigen, ebenso wenig wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). „Besorgniserregend ist die Entwicklung rund um Tilidin auf jeden Fall“, sagt Thomasius. Auch insgesamt steigt nach Worten von Cabanis der Konsum von Opiaten und Opioiden in Deutschland rasant an.

Aber wie kommen Jugendliche an das rezeptpflichtige Medikament? „Ich vermute, dass sie es sich auf dem Schwarzmarkt besorgen“, erklärt ABDA-Sprecherin Ursula Sellerberg. Das bestätigt auch Cabanis. Zudem ließen sich die Präparate insbesondere über das Internet relativ einfach bestellen. Auf dem Schwarzmarkt ist Tilidin nach Einschätzung von Thomasius deutlich teurer als Cannabis. Aus seiner Sicht sollten auch (retardierte) Tilidintabletten in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen werden. (Anmerkung der Redaktion: Tilidin unterliegt schon dem Betäubungsmittelgesetz, ist in Anlage III aufgeführt und in der BtMVV nur in der retardierten Form von den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften ausgenommen.) „Die Suchtmittelkommission im Bundesgesundheitsministerium muss sich mit diesem Thema dringend auseinandersetzen.“ Dafür ist die Datenlage jedoch noch nicht eindeutig genug, erklärt ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Auch Faktoren wie Hinweise auf möglicherweise vermehrten illegalen Handel, Rezeptfälschungen oder mögliche Änderungen der Leitlinien zur Therapie mit Tilidin müssten in die Bewertung mit einfließen. Man versuche derzeit, weitere Erkenntnisse zu gewinnen. 

Cabanis fordert mit Blick auf Medikamentenabhängigkeit bei Jugendlichen ein deutliches Umdenken und neue Präventionsstrategien. Am Klinikum Stuttgart solle ein Schwerpunkt für Frühintervention etabliert werden, um Jugendliche viel früher zu erreichen, sagt er. „Man muss erkennen, dass man da eine große Gruppe vernachlässigt.“



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