Der Blick über die Grenze

COVID-19 überlastet Europas Gesundheitssysteme

Düsseldorf - 19.10.2020, 17:50 Uhr

Corona: Frankreich hat den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen und bereits harte Maßnahmen ergriffen. Wie sieht es in anderen uns umgebenden Nachbarländern aus? (c / Foto: imago images / Hans Lucas)

Corona: Frankreich hat den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen und bereits harte Maßnahmen ergriffen. Wie sieht es in anderen uns umgebenden Nachbarländern aus? (c / Foto: imago images / Hans Lucas)


Während in Deutschland noch zäh zwischen Bund und Ländern über neue Maßnahmen gegen die Pandemie gerungen wird, eskaliert die Lage in vielen Ländern Europas bereits. Die WHO zeigt sich besorgt und Europaparlamentarier mahnen, Corona nicht zu verharmlosen.

„Ich bin wirklich wütend über diejenigen, die immer noch behaupten, Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe und die die Gefahr einer zweiten Welle herunterspielen. Ich bin schockiert über die dramatische Entwicklung der Zahlen in Deutschland und unseren Nachbarländern“, sagt der Mediziner und CDU-Europaabgeordnete Dr. med. Peter Liese. Besorgt ist der Politiker, wenn er über die Grenze blickt und dort etwa in Belgien, Spanien, Frankreich und Tschechien die Gesundheitssysteme bereits am Limit sieht.

WHO-Europa-Chef ist besorgt

Auch WHO-Europa-Regionaldirektor Dr. Hans Henri P. Kluge zeigt sich in einem Statement vom 15. Oktober besorgt über die Lage in Europa. COVID-19 sei nun die fünfthäufigste Todesursache und die Zahl von Tausend Toten pro Tag überschritten. Aktuell zähle man doppelt bis dreifach so viele Neuinfektionen wie zum Höhepunkt der ersten Welle im April. „Die Pandemie wird nicht von allein abebben“, sagt der WHO-Europa-Chef. Dass viele europäische Länder nun die Maßnahmen verschärften, sei gut und genau richtig – das sei „notwendig und angemessen“. 

Mit Stand zum 16. Oktober 2020 gab es in gesamt Europa einen Zuwachs um 156.702 Neuinfektionen, in den vorangegangenen sieben Tagen waren es insgesamt 841.896 Neuinfektionen. Eine tagesaktuelle Übersichtskarte bietet etwa die Berliner Morgenpost hier.  

Spitzenreiter bei den täglichen Zuwachszahlen ist Deutschlands Nachbarland Frankreich. Mit zuletzt 30.621 Neuinfektionen (Stand 16. Oktober) und einer Inzidenz von 205,8 Fällen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen ist das Infektionsgeschehen dort am dynamischsten.

Intensivbettenauslastung Ende Oktober – bis zu 90 Prozent in Paris

Frankreich hat daher den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen und bereits harte Maßnahmen ergriffen. So gilt etwa im Großraum Paris und Aix-en-Provence/Marseille sowie den Städten Grenoble, Lille, Lyon, Montpellier, Rouen, St. Étienne und Toulouse ein nächtliches Ausgangsverbot. Mit den steigenden Zahlen gilt auch eine erweiterte Maskenpflicht auf Straßen und Plätzen. Laut Spiegel Online erklärte der Generaldirektor der 39 Pariser Kliniken, Martin Hirsch, dass bis Ende Oktober bis zu Tausend COVID-19-Patienten in den Intensivstationen der französischen Hauptstadt liegen könnten, was einer Auslastung von über 90 Prozent entspräche.

Britische Mediziner sind in Sorge

Auch in Großbritannien stellt sich die Lage schlimmer dar als derzeit (noch) in Deutschland. 18.978 Infektionen kamen dort innerhalb von 24 Stunden mit Stand vom 16. Oktober 2020 hinzu. Die 7-Tage-Inzidenz beträgt 168,3. Regionen wie Liverpool verzeichnen sogar 600 neu Infizierte pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Mit einem Drei-Stufen-System, so berichtet die Tagesschau, will das Land die Epidemie im Land eindämmen, ohne in einen Lockdown treten zu müssen. Demnach unterscheidet man in „mittlere Gefahr“, „hohe Gefahr“ und „sehr große Gefahr“. 

  • Bei Stufe 1 gilt eine 22-Uhr-Sperrstunde und maximal sechs Personen bei privaten Treffen.
  • Bei Stufe 2 dürfen sich Mitglieder verschiedener Haushalte nicht mehr in geschlossenen Räumen treffen.
  • Ab der dritten Stufe sollen Pubs und Bars geschlossen werden.

Während die Mediziner davon ausgehen, dass das Virus „außer Kontrolle“ sei, und in Sorge sind, weil sich die Intensivstationen bereits wieder füllen, würden sich in der Bevölkerung nicht viele um die Regeln scheren, so berichtet es Andreas Schramm, Auslandskorrespondent des ZDF in einem Beitrag. Es gebe einen „großen Unwillen, die Regeln zu befolgen“.

Ausgangssperren in Spanien, Tschechien im Notstand

Spanien verzeichnete 13.318 Neuinfektionen binnen 24 Stunden zum Stand 
16. Oktober und eine 7-Tage-Inzidenz von 155,1. In der Region Katalonien sind derzeit ein Fünftel alle Intensivbetten mit COVID-19-Patienten belegt, alle Restaurants und Gastronomien sind für zwei Wochen geschlossen worden, berichtet die Tagesschau. In weiten Teilen des Landes gelten Lockdowns und Ausgangssperren, einige Regionen sind komplett abgeriegelt. Wie für Frankreich, Großbritannien und etliche weitere Länder auch, ist Spanien als Risikogebiet eingestuft, das Auswärtige Amt warnt vor „nicht notwendigen touristischen Reisen“.

Tschechien: 433,4 als 7-Tages-Inzidenz

Tschechien meldet 9.424 neue Infektionen (Stand 16. Oktober) – gemessen an der Einwohnerzahl ergibt sich daraus aber ein besonders hoher 7-Tage-Inzidenz-Wert von 433,4. Derzeit ist ein Notstand ausgerufen: Neben allgemeiner Maskenpflicht sind Gastronomien geschlossen, kulturelle Veranstaltungen ausgesetzt, Schulen und Kindergärten geschlossen, und unter anderem in Krankenhäusern gilt Besuchsverbot. Die Grenzen sind noch geöffnet, ein erster Landkreis in Bayern, Cham, hat nun aber eine Testpflicht für tschechische Berufspendler eingeführt.

Laut einem Bericht des MDR rechnet man bis Ende der Kalenderwoche 43 mit einem Kollaps des Gesundheitssystems infolge der steigenden Patientenzahlen und der ausfallenden Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs.

Italien fürchtet stärkeren Anstieg als im Frühjahr

Italien meldet mit einer Inzidenz von 71,7 bei 8.803 Neuinfektionen (Stand 
16. Oktober) ebenfalls einen deutlichen Anstieg der Zahlen. Noch gelten nur Kampanien und Ligurien als Risikogebiete, doch aus Sorge vor einer ähnlichen Situation wie im Frühjahr, als das Land in Europa besonders schlimm betroffen war, gelten bereits umfangreiche Anti-Corona-Maßnahmen. So gelte eine erweiterte Maskenpflicht, private Partys drinnen oder draußen seien nicht mehr gestattet, wie die Tagesthemen vom 14. Oktober berichten.

In den Niederlanden schlossen bereits Notaufnahmen zeitweilig

Belgien und die Niederlande berichten mit 7-Tages-Inzidenzen von 378,7 und 275,8 rasant ansteigende Infektionszahlen. Dort steckten sich binnen 24 Stunden (Stand 16. Oktober) 8.271 beziehungsweise 7.791 Menschen neu an. In den Niederlanden haben Berichten zufolge die Gesundheitsämter die Nachverfolgung von Infektionsketten eingestellt. Erste Notaufnahmen mussten zeitweise schließen. Die Zahl der Patienten in Krankenhäusern und Intensivstationen steige stetig an, berichtet die Tagesschau. Das Land hat einen teilweisen Lockdown für Restaurants und Bars erlassen sowie eine allgemeine Maskenpflicht. 

„Die Niederlande haben sogar schon angefragt, ob sie erneut Patienten nach Deutschland schicken können“, sagt Europaparlamentarier Liese. Belgien hat ebenfalls bereits die Gastronomien geschlossen, und man schließe „eine landesweite Quarantäne“ nicht aus, so ein Bericht von Euronews.

Jodeln als Superspreading-Event in der Schweiz

Auch das Nachbarland Polen meldet mit 8.099 Fällen und mit einer Inzidenz von 99,8 einen deutlichen Anstieg. Laut dem ORF wurden 140 Regionen des Landes zu Risikozonen erklärt, mit scharfen Maßnahmen wie Schließungen von Gastronomien, Fitness-Studios und kulturellen Einrichtungen.

Eine trotz des Ernsts der Lage fast kuriose Meldung kommt aus der Schweiz, wo die Fallzahlen ebenfalls ansteigen. Dort führte ein Jodelmusical im Kanton Schwyz dazu, dass die Region mit über 1.230 Infektionen derzeit einen Hotspot bildet, berichtet n-tv. Laut dem Bericht hat bei der Veranstaltung mit 600 Besuchern an zwei Tagen keine Maskenpflicht gegolten – die Infektion habe sich anscheinend von der Bühne aus verbreitet. Das Krankenhaus des Kantons ist bereits überlastet.

„Jetzt gemeinsam aufpassen“

Angesichts der zum Teil dramatischen Situation in den europäischen Nachbarländern appelliert Liese an die Vernunft der Menschen. Deutschland ist derzeit mit zwar einer Rekordzahl von 7.388 Neuinfektionen (Stand 16. Oktober), aber einer Inzidenz von noch nur 40,9 erst wenig betroffen. Das kann sich aber schnell ändern. (Stand: 19.10.2020, 00:00 Uhr, 7-Tage-Inzi­denz: 45,4.) „Wer jetzt immer noch meint, feiern sei wichtiger, als sich und andere zu schützen und die Maske sei ein unzumutbarer Eingriff, der hat einfach nicht verstanden, was passiert. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam aufpassen, wird die zweite Welle schlimmer als die erste“, sagt Liese.

Er fürchtet, dass die jüngst zwischen Bund und Ländern getroffenen Vereinbarungen zu Maßnahmen gegen die Pandemie in den kommenden Wochen noch verschärft werden müssen. „Wir werden jetzt leider einen sehr harten Herbst und Winter haben, ich bin aber nach wie vor davon überzeugt, dass sich das Geschehen im Frühjahr beruhigt. Ich rechne damit, dass zum Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres ein oder mehrere Impfstoffe zugelassen werden, und gemeinsam mit anderen Effekten können wir dann von einer Entspannung der Lage ausgehen“, sagt der Mediziner und Politiker.



Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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