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Coronavirus in Deutschland
Wissenschaftler fordern Augenmaß bei der Pandemiebekämpfung
In einer Stellungnahme warnt eine Gruppe von Autoren vor „besorgniserregenden Fehlentwicklungen“ im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie. Anlass ihrer Kritik ist das Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder in der vergangenen Woche.
„Eine Epidemie ist eine ernsthafte Sache, der Schutz der Verletzlichen sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, und in einer Krisensituation hat man dort anzusetzen, wo der dringendste Handlungsbedarf besteht. In jedem Fall gilt: die Risikovorsorge durch gezielte Prävention vulnerabler Gruppen und Institutionen ist die Alternative zur Drohung mit einem zweiten Lockdown“ – zu diesem Schluss kommt eine Autorengruppe, die seit März bereits vier Thesenpapiere zur Bekämpfung der Pandemie veröffentlicht hat.
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Ein fünftes Papier ist den Informationen zufolge in Arbeit. Allerdings hat die Konferenz von Kanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder die Autoren veranlasst, sich noch vor der Veröffentlichung des fünften Thesenpapiers zu äußern. In einer vierseitigen „ad-hoc-Stellungnahme“ kritisieren sie den Umgang mit der Pandemie und mahnen, bei den Maßnahmen zur Eindämmung von Corona Augenmaß zu halten.
Zu den Autoren gehört auch Professor Gerd Glaeske, Apotheker und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit. Sie werfen den politisch Verantwortlichen vor, „auf immer gleichen Vorgehensweisen zu beharren und Maßnahmen sogar noch zu verstärken, an deren Wirksamkeit und Akzeptanz es aus wissenschaftlicher Sicht größte Zweifel geben muss“.
Kritik an Drohkulisse
In den Beschlüssen der Konferenz sei „keine Fortentwicklung des Verständnisses für die Eigenheiten dieser Epidemie und für die Anforderungen an Steuerungsparameter sowie die Kommunikation deren Ergebnisse zu erkennen“. Es führe in einer langandauernden Krise wie der jetzigen zu Ermüdung, Abwendung und Flucht in falsche Heilslehren, wenn die Verantwortlichkeit des Einzelnen als alternativlos dargestellt wird. Dies gelte vor allem im Zusammenhang „mit einer Drohkulisse, die aus den impliziten Versatzstücken ,langdauernder Winter‘, ,Weihnachten im Lockdown‘ und ,es könnte für Sie kein Intensivbett mehr frei sein‘ zusammengesetzt ist.“
Keine Daten zu Grenzwerten
Die Wissenschaftler kritisieren unter anderem die Verschärfung des Grenzwerts auf 35 positiv Getestete pro 100.000 Einwohner, den die Konferenz beschlossen hat. Denn es gebe keine Daten, die aussagen, „dass mit einem Grenzwert von x/100.000 Einwohner ein positiver Verlauf der Epidemie oder eine erfolgreiche Intervention verbunden ist“.
Zwar könne man mit solchen Zahlen arbeiten, „vielleicht muss man sie unter dem Druck der Ereignisse sogar einfach setzen – aber was auf keinen Fall zu tolerieren ist, ist eine schlechte Reliabilität, also eine mangelnde Stabilität gegenüber Mess- und Erhebungsfehlern. Diese Mängel in der Zuverlässigkeit der Erhebung (Reliabilität) geben Anlass zu größten Bedenken, vor allem wenn man sich die Konsequenzen vor Augen führt, die mit einem Überschreiten der Grenzwerte verbunden sind.“ Die verwendeten Grenzwerte seien deshalb Makulatur. „Wir gewinnen vielleicht Anhaltspunkte, aber keine verlässlichen Werte, die eine sinnvolle Steuerung erlauben.“
Herdenausbrüche befürchtet
In den bisherigen Thesenpapieren sei bereits herausgearbeitet worden, dass die SARS-CoV-2-Epidemie durch asymptomatische Träger weiterverbreitet wird und nicht durch lineare Konzepte zu erfassen ist. Deswegen sei die Epidemie nicht zu eradizieren, sondern breite sich bei Ermangelung von Impfung und Therapie in der Bevölkerung homogen aus, wobei es zusätzlich zu Herdausbrüchen kommt. Eine weitere Botschaft der Autoren war, dass Häufigkeitsangaben auf Grundlage anlassbezogener Stichproben mit äußerster Vorsicht zu verwenden seien und es die vordringliche Aufgabe sein müsse, mit Kohortenstudien zu verlässlichen, repräsentativen Daten zu kommen und klinische Daten zur Beurteilung heranzuziehen – etwa die Mortalität der hospitalisierten Patienten oder die Nutzung von Intensivkapazitäten.
Testverfahren validieren
Zudem mahnten sie, Testverfahren müssten vor allem hinsichtlich der Infektiosität validiert werden. Und: allgemeine Präventionsmaßnahmen und Nachverfolgung von Infektionen spielten zwar eine wichtige Rolle. Letztlich könne der Erfolg der Prävention aber nur durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen erreicht werden. Dies bedeute, vor allem verletzliche Personengruppen zu schützen. „Die Präventionsmaßnahmen dürfen nicht auf Kosten von Humanität und Würde der Person gehen, die Einschränkungen der Grundrechte müssen jederzeit hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit begründbar sein.“
Das sind die Autoren
Zu den Autoren der Stellungnahme und der Thesenpapiere gehören Professor Matthias Schrappe, ehemaliger Vizevorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit, Hedwig François-Kettner, ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Dr. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Professor Dieter Hart vom Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht an der Universität Bremen, Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbands, Professor Philip Manow vom SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen, Professor Holger Pfaff vom Zentrum für Versorgungsforschung an der Universität Köln, Prof. Klaus Püschel vom Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und der Apotheker Professor Gerd Glaeske, Gesundheitsökonom aus Bremen und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit.
Die vollständige Stellungnahme finden Sie hier.
1 Kommentar
Wow, ein Expertengremium
von Herr Schmidt am 21.10.2020 um 11:42 Uhr
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