Kritik an Corona-Politik

„Zero Covid“ medizinisch nicht erreichbar

Stuttgart - 15.01.2021, 16:00 Uhr

Der Virologe Hendrik Streek: „Trotz Impfstoff werden wir mit dem Virus leben müssen. Und wir können sogar damit leben.“  (Foto: imago images / teutopress)

Der Virologe Hendrik Streek: „Trotz Impfstoff werden wir mit dem Virus leben müssen. Und wir können sogar damit leben.“  (Foto: imago images / teutopress)


Trotz hartem Lockdown bleiben die Zahlen der Neuinfektionen und Todesfälle im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie auf hohem Niveau. Doch statt die Effektivität ihrer bisherigen Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, wollen die politisch Verantwortlichen die Einschränkungen sogar noch verschärfen. Ist das die richtige Strategie? Der Virologe Hendrik Streeck und der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof sehen das äußert kritisch und fordern einen Kurswechsel.

Mehr als zwei Millionen COVID-19-Fälle hat das Robert Koch-Institut seit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland gezählt, knapp 45.000 Menschen sollen im Zusammenhang mit dem Virus gestorben sein. Mit dieser Zwischenbilanz wurde der virtuelle Landeskongress Gesundheit Baden-Württemberg am heutigen Freitag eröffnet. Anfang Februar 2020, als die Veranstaltung noch in den Messehallen in Stuttgart stattfinden konnte, äußerte sich Corona in bundesweit erst 13 Fällen und ein Thema war die Pandemie nicht – obwohl SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach anwesend war, der sich in der Folgezeit als viel gefragter Experte profilierte.

Ein Virus – gekommen, um zu bleiben?

In diesem Jahr waren es der Virologe Hendrik Streeck sowie der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof, die sich im Rahmen ihrer Keynote-Vorträge ausführlich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie befassten. Streeck und Kirchhof waren sich fast ausnahmslos einig: Die aktuellen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie seien unverhältnismäßig drastisch, beinhalteten unrealistische Zieldefinitionen und böten keine langfristige Perspektive auf ein Leben mit dem Virus. 

Streeck betonte direkt zu Anfang seines Statements, dass man gerade den letzten Punkt unbedingt akzeptieren müsse: „Trotz Impfstoff werden wir mit diesem Virus leben müssen. Und wir können sogar damit leben.“ SARS-CoV-2 und seine Mutationen würden sich bei uns als saisonale Erreger von Atemwegserkrankung einreihen und damit endemisch sowie für die meisten Menschen ungefährlich werden. Viel kritischer sieht Streeck dagegen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Versäumt hätte man seit rund einem Jahr systematisch zu erforschen, wie sich das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung verhält. Statt mit dem Lockdown zu experimentieren, solle man Wissen generieren und dieses gezielt einsetzen, um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollateralschäden so klein wie möglich zu halten. „Wir müssen dazu übergehen, mit einem Skalpell statt mit dem Hammer zu arbeiten“, so Streeck.

Erst den Erfolg definieren und dann messen

Und selbst die Auswirkungen des Lockdowns werden nach Streecks Ansicht nur unzureichend erforscht. Niemand könne die Kollateralschäden genau beziffern. Überprüft werde auch nicht, unter welchen Voraussetzungen Inzidenzzahlen von weniger als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner erreichbar sind. „Im Winter jedenfalls nicht“, verriet der Virologe beiläufig. Die täglich gemeldeten Neuinfektionen seien zudem keine repräsentative Stichprobe, sondern beeinflussbar in Abhängigkeit davon, wie streng oder weniger streng im Zeitraum zuvor getestet wurde. Streecks Meinung nach sollten die politischen Entscheider ihre Corona-Maßnahmen nicht auf Grundlage dieser Zahlen beschließen, sondern vielmehr realistisch definieren, was erreicht werden soll, und daraufhin den Erfolg messen. 

Schließlich räumte Streeck noch mit der in seinen Augen falschen Vorstellung auf, dass man die Pandemie auf null Infektionen herunterdrücken könne, wie es derzeit die #ZeroCovid-Bewegung verfolge. Es sei zu keinem Zeitpunkt möglich, alle zwischenmenschlichen Kontakte absolut zu minimieren. Allein im familiären und medizinischen Bereich sei es selbst bei einem europaweiten Lockdown unvermeidbar und notwendig, dass Infizierte auf Nicht-Infizierte treffen würden.

Was ist das übergeordnete Ziel? 

Auch Verfassungsrechtler Ferdinand Kirchhof äußerte sich besorgt über den Aktionismus in der Corona-Krise. Doch zu Beginn seines Keynote-Vortrages zeigte er zunächst Verständnis für die aktuelle politische Situation. Die Pandemie sei etwas völlig Neuartiges für Staat und Gesellschaft und man hätte die Gefahr und Chancen ihrer Bekämpfung sehr schnell erkannt. Damit bestehe seit vergangenem Jahr das Gefühl, alles steuern zu können. Gleichzeitig würde es vonseiten der Bevölkerung eine immense Erwartungshaltung geben. Dadurch seien die Regierungen von Bund und Ländern in einer Situation, die sich jederzeit in Panik umkehren würde, wenn etwas nicht so funktioniere, wie geplant. 

Dabei sei auf Grundlage der staatlichen Gewaltenteilung bisher nicht viel falsch gelaufen, erläuterte Kirchhof: Die Exekutive habe die Gefahr erkannt und sorge dafür, dass Infektionsschutzmaßnahmen umgesetzt und eingehalten werden. Die Gerichte prüften die Verhältnismäßigkeit und die Parlamente beschlössen Regelungen, die eine bestmögliche Bewältigung der Pandemie in Aussicht stellen. Exemplarisch erwähnte Kirchhof dabei die neuen Verordnungen zur Arzneimittelversorgung durch die Apotheken.

Die Pandemie ist kein Ausnahmezustand mehr

Doch für Kirchhof stehen diese positiven Aspekte mittlerweile im Schatten des langanhaltenden Ausnahmezustands, in dem sich die Gesellschaft befindet. Die politischen Entscheider fühlten sich zunehmend hilflos und gedrängt. Man wolle unbedingt und gerade hinsichtlich der in diesem Jahr anstehenden Bundestags- und Landtagswahlen Erfolge zeigen – diese blieben aber gemessen an den täglich berichteten Zahlen bisher aus. Statt einer Kursumkehr halte man an den Dingen fest und verschärfe sie zum Teil noch. Als Beispiel nannte Kirchhof die Corona-Warn-App, die sich bei der Bekämpfung der Pandemie bisher als wenig erfolgreich erwiesen hat. Vielmehr müssten Maßnahmen zielgerichteter sein und nicht auf Grundlage unsicherer Statistiken entschieden werden. Darüber hinaus sollten Corona-Infektionen zuverlässiger und schneller gemeldet werden können.

Interview mit dem Vize-Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts

Die Selbstverwaltung hat sich historisch bewährt

Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts stellte zur Frage, was überhaupt das übergeordnete Ziel sei: Strebe man eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung an, sei der Lockdown kontraproduktiv. Wolle man dagegen bestimmte Risikogruppen vor einer Infektion schützen, müsse man die Maßnahmen wesentlich konkreter an der Lebenswirklichkeit dieser Menschen festmachen. Mit Blick auf die derzeitigen Machtverhältnisse in Deutschland rief Kirchhof nachdrücklich dazu auf, dass vor allem die Parlamente wieder die Entscheidungen in Form von Rechtsnormen treffen sollten und nicht einzelne Exekutivorgane.

Die am nächsten Dienstag anstehenden Bund-Länder-Beratungen über Verschärfungen der Corona-Maßnahmen kommentierte Kirchhof mit einem Zitat aus Mark Twains „Huckleberry Finn“: „Als wir unser Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“



Dr. Armin Edalat, Apotheker, Chefredakteur DAZ
redaktion@deutsche-apotheker-zeitung.de


Diesen Artikel teilen:


14 Kommentare

Cover 19

von Berti am 10.02.2021 um 20:55 Uhr

Immer weiter so.Perspektivlos,Planlos,Sinnlos.Das ist unsere Regierung,gelenkt von RKI.Inzidenz 50 war das Ziel,fast erreicht,neues Ziel 35.Kommt Jetzt noch eine Mutante bleibt bis zum Sommer alles zu und im Herbst geht die Scheiße wieder von vorne los.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Dank

von Jürgen am 22.01.2021 um 23:27 Uhr

Einen herzlichen Dank an Herrn Kirchhof für das herrliche Zitat.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Medikamentenforschung hat keine realistische Chance bekommen!

von T.M. am 19.01.2021 um 11:03 Uhr

Ein harter lock-down ist mit einer (unrealistischen) Null-Fälle-Strategie natürlich gut zu rechtfertigen. Warum eigentlich hat die Politik der Medikamentenforschung keine realistische Chance gegeben!? Hätte man ausgewählte Unternehmen mit mehreren hundert mio EUR unterstützt (wie man es bei der Impfforschung getan hat), hätten wir heute evtl. Medikamente, mit welchen wir die Sterblichkeit u. die Aufenthaltsdauer auf den Intensivstationen verkürzen könnten! Die reine Impfstrategie hilft uns in dieser zweiten Welle dramatisch wenig, was sich an den Todesfällen ablesen lässt. Die Politik hat hier wohl aufs falsche Pferd gesetzt...!

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Medikamentenforschung hat keine

von Thomas Klatt am 20.01.2021 um 0:11 Uhr

Diese Medikamente gibt es bereits, um die Wirksamkeit zu verbessern wären Forschungsgelder notwendig, die allerdings in nur zu einem kleinen Bruchteil gegenüber den Geldern für Impfstoffe zur Verfügung gestellt wurden...

CORONA

von Günter Poersch am 18.01.2021 um 7:23 Uhr

Hallo.
Meine Meinung ist, die Leute die vorsätzlich keine Maske tragen und andere Mitmenschen mit den Coronavirus anästecken, muss Die Behandlung selber zahlen. Anschließend eine Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung bekommen. Zum Beispiel 4 Wochen Sozialdienst ableisten.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: CORONA

von Gabriele am 19.01.2021 um 16:35 Uhr

Dann sperren Sie sich zu Hause ein und kommen Sie nicht mehr raus sonst werden sie vielleicht angesteckt!!!! Was geht bloß in Ihrem Kopf vor

...und in Vietnam gibt es wieder Paraden und Konzerte

von Arguments 4 Future am 17.01.2021 um 16:13 Uhr

Ich frage mich wie man so einen Artikel schreiben kann bei der gewaltigen Masse an wissenschaftlichen Untersuchungen die besagen, dass ein kurzer harter Lockdown um den Virus loszuwerden für die größten Teile der Gesellschaft und Wirtschaft besser ist als noch viele Monate Lang diesen "hart gegen privat aber Finger weg von der Arbeit" Kurs durchzuziehen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 3 Antworten

AW: Big Pharma lässt grüßen :)

von paul am 18.01.2021 um 10:04 Uhr

Alle Menschen die sterben werden mit einem positiven PCR-Test als Covid-Totoe gezählt! Die Mortalität liegt überdem Alterdirchschnitt von 81 bei 84 Jahren!! Wir müssen lernen mit dem Virus zu leben! Auchen auf!

AW: ...und in Vietnam gibt es wieder Paraden

von Hexe am 18.01.2021 um 13:07 Uhr

Lesen hilft. Herr Streeck hat doch Recht. Garnichts wird erforscht in diese Richtung. Das sagen auch noch andere, ebenfalls renommierte Fachleute. Auf die will man aber nicht hören. Die Politik ist viel zu einseitig. Und ja Paul. Selbst Menschen mit mehreren negativen Testen, will man zu den Coronatote zählen.

AW: Ernsthaft?

von Jan Uvia am 18.01.2021 um 13:19 Uhr

Eine gewaltige Masse an wissenschaftlichen Untersuchungen? Nennen Sie mal nur eine einzige peer reviewte Studie. Ich habe nichts gefunden.
Im Gegenteil, harte Lockdowns bringen nichts, hier die Quelle:
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/eci.13484

streek, ein lobbyist?

von uniquename am 17.01.2021 um 12:10 Uhr

und was macht herrn streek da zur autorität gegenüber anderen wissenschaftlern, die das gegenteil vertreten?

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Lobbyist

von Pavel Bartosz am 16.01.2021 um 11:06 Uhr

Wessen Lobbyist ist Herr Strecker eigentlich? Mittlerweile steht er ziemlich allein da mit seiner Meinung

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Lobbyist

von Paul am 17.01.2021 um 10:09 Uhr

Streck ist wohl der einzige OHNE Lobby!!!
Droßten hat sich BigPharma ja schon zur „Schweinegrippe“ usw bewiesen und seinen Chefposten daraufhin bekommen! Dort sollte sie mal nachforschen!!

Es lebe der Verstand

von Tom Sawyer am 16.01.2021 um 9:21 Uhr

"Wer als Werkzeug nur einen Hammer besitzt, für den ist jedes Problem ein Nagel". Mark Twain muß ein Genie gewesensein. Aber wehe, wenn der Hammerbesitzer zwei linke oder (politisch korrekt) zwei rechte Hände besitzt. Von den Einarmigen ganz zu schweigen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.