Studie zum Zyto-Skandal

Bottroper Krebspatienten erhielten durchschnittlich deutlich mehr Infusionen

Berlin - 14.04.2021, 09:15 Uhr

Im Mittel traten Rezidive bei den Brustkrebspatientinnen, die von der Bottroper „Alten Apotheke“ versorgt wurden, rund 2,5 Monate früher auf als in der Vergleichsgruppe. (Foto: Chanintorn.v / stock.adobe.com)

Im Mittel traten Rezidive bei den Brustkrebspatientinnen, die von der Bottroper „Alten Apotheke“ versorgt wurden, rund 2,5 Monate früher auf als in der Vergleichsgruppe. (Foto: Chanintorn.v / stock.adobe.com)


Eine langjährige Vergleichsstudie hat ergeben, dass von der „Alten Apotheke“ mit Krebsmitteln versorgte Brustkrebspatientinnen zwar nicht häufiger, aber früher ein Rezidiv hatten als vergleichbare Patientinnen. Auffällig ist, dass die Patienten rund ein Drittel länger behandelt wurden. Laut NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann zeigt die Studie, dass sie schwer geschädigt wurden.

Ist der Verlauf der Krebserkrankung von Patient:innen auffällig, die von der früheren „Alten Apotheke“ in Bottrop mit Krebsmitteln beliefert wurden – da diese teils stark unterdosiert waren? Eine erste grobe Auswertung der AOK Rheinland/Hamburg hatte im Jahr 2018 Hinweise hierauf ergeben, weshalb das NRW-Gesundheitsministerium eine größere Vergleichsstudie in Auftrag gab. Diese zeigt nun, dass Patient:innen der Bottroper Apotheke signifikant mehr Infusionen erhalten haben und dass bei Brustkrebspatientinnen mit Rezidiv dieses deutlich früher aufgetreten ist, wie das Ministerium am gestrigen Dienstag bekanntgab.

„Ob dies mittelfristig auch mit einer höheren Sterberate einhergeht, kann derzeit nicht beurteilt werden“, erklärt das Ministerium. Die vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) durchgeführte Kohortenstudie ergab, dass Brustkrebspatientinnen der „Alten Apotheke“ zwar früher, aber nicht signifikant häufiger ein Rezidiv hatten als Vergleichspatientinnen. Ähnlich ist es für Patienten und Patientinnen einer zweiten untersuchten Gruppe, die Blut- oder Lymphdrüsenkrebs hatten: Diese verstarben nicht häufiger als Vergleichspatienten. Doch auch sie erhielten deutlich mehr Therapien. 

Erschüttertes Vertrauen in ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung

„Bei dem Fall des Bottroper Apothekers handelt es sich um ein unfassbares Verbrechen, dass mich zutiefst erschüttert hat“, erklärt Gesundheitsminister Laumann – auch habe der Fall das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung schwer beschädigt. „Ich hoffe, die Studienergebnisse tragen zur Aufklärung der Auswirkungen dieser nicht ordnungsgemäßen medikamentösen Versorgung bei.“ Laumann stellte die Ergebnisse zusammen mit der Studienleiterin Ulrike Haug vom BIPS in einer Videokonferenz Bottroper Patient:innen vor. Die Ergebnisse seien ein Beweis, dass sie schwer geschädigt worden sind, erklärte der Minister laut Teilnehmern. 

Für die Studie hatten die Epidemiologin Haug und ihr Team 255 Brustkrebspatientinnen sowie 149 Personen mit nicht-soliden Tumoren mit Patient:innen verglichen, die bis zum Therapiebeginn eine ähnliche Erkrankung hatten und ungefähr gleich alt waren. Andere Risikofaktoren, zu denen die Forscher:innen Daten von fünf Krankenkassen auswerten konnten, wurden in der Analyse mit berücksichtigt. Brustkrebspatientinnen der Bottroper Apotheke erhielten im Mittel an 15 Tagen individuell hergestellte Therapien, Vergleichspatientinnen an elf Tagen, ergab die Studie. Bei Patient:innen mit nicht-soliden Tumoren waren es 16 Tage, wenn sie von der „Alten Apotheke“ versorgt wurden, die anderweitig versorgten erhielten an zwölf Tagen Therapien. Im Mittel traten Rezidive bei den Brustkrebspatientinnen rund 2,5 Monate früher auf als in der Vergleichsgruppe.

Längere Therapie, höhere Chance auf richtigen Wirkstoffgehalt?

„Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier um die Ergebnisse des Gruppenvergleichs handelt“, erklärt Haug: Es könne nicht geschlossen werden, dass die unterdosierten Zubereitungen aus der „Alten Apotheke“ bei keinem der betroffenen Patienten zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf geführt haben. „Man sollte aber auch bedenken, dass die längerfristigen Auswirkungen noch nicht abschließend beurteilt werden konnten. Dazu wäre eine noch längere Beobachtungszeit interessant.“ Laut Teilnehmern der Videokonferenz erwägt Laumann, weitere Untersuchungen zu finanzieren. 

Haug sieht einen möglichen Erklärungsansatz darin, dass bei den klinischen Verlaufskontrollen bei den von der „Alten Apotheke“ versorgen Patient:innen häufiger ein noch nicht ausreichender Therapieeffekt beobachtet wurde und deshalb länger therapiert wurde. Bei einer Razzia wies mehr als jede zweite sichergestellte Krebstherapie eine Unterdosierung auf, teils enthielten in der Apotheke hergestellte Infusionsbeutel nur Kochsalzlösung oder einen falschen Wirkstoff.

„Wenn es der Apotheker bei der Unterdosierung nicht gezielt auf bestimmte Patientinnen oder Patienten abgesehen hatte, wovon derzeit auszugehen ist, wäre es ein gewisser Zufallsprozess gewesen, welche Person wie oft eine Zubereitung erhielt, die nicht den ärztlich verschriebenen Wirkstoffgehalt aufwies“, heißt es in einer Zusammenfassung der Studie. Dementsprechend hätte sich bei einer Verlängerung der Therapie die Chance erhöht, dass die Person Zubereitungen mit normalem Wirkstoffgehalt erhielt. Dies könne erklären, warum die Häufigkeit des Auftretens von Rezidiven bei Brustkrebspatientinnen beziehungsweise des Versterbens bei Patienten mit nicht-soliden Tumoren nicht höher war als in der Kontrollgruppe. 

Patientinnen wie die Bottroperin Heike Benedetti, die auch in Demos vielfach eine gründliche Aufklärung des Skandals gefordert hatte, begrüßen die Studie: Auch da diese Schäden an Patienten und Patientinnen in den Vordergrund rückte, während es im Gerichtsprozess eher um Fragen des Abrechnungsbetrugs und von Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz ging. 

Whistleblower Porwoll: eindeutige Ergebnisse

„Die Ergebnisse, insbesondere für die Diagnose Brustkrebs, sind eindeutig“, sagt Martin Porwoll gegenüber DAZ.online: Er war kaufmännischer Leiter der Apotheke und hatte als Whistleblower den Fall mit aufgedeckt. Die Schlussfolgerungen aus der Studie legten nahe, dass die Therapien gestreckt wurden – sofern es da überhaupt noch Zweifel gegeben hat. Allerdings sollte die Rolle der Ärzte nun neu beleuchtet werden, sagt Porwoll. 

Das Landgericht Essen hatte den Bottroper Apotheker Peter Stadtmann im Juli 2018 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt und ein lebenslanges Berufsverbot verhängt, beides wurde zwischenzeitlich vom Bundesgerichtshof bestätigt. Stadtmann hat hiergegen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, welches in der Sache noch nicht entschieden hat. Außerdem hat Stadtmann beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage gegen den Widerruf seiner Approbation eingelegt, auch dieses Verfahren ist noch anhängig. 

Außerdem versuchen Betroffene, Schadensersatz einzuklagen. Doch die Chancen stehen schlecht, es läuft ein Insolvenzverfahren gegen den Apotheker. Die nordrhein-westfälische Landesregierung will neue staatliche Entschädigungsleistungen für Opfer von Verbrechen und Gewalt einführen, die greifen sollen, wenn Entschädigungen nach dem Opferentschädigungsgesetz des Bundes nicht möglich sind – wie im Bottroper Fall, in dem sich individuelle Schädigungen praktisch nicht nachweisen lassen, da unbekannt ist, welche Patienten unterdosierte Krebsmittel erhalten haben. Laut Teilnehmern der gestrigen Videokonferenz hat Minister Laumann sich dafür ausgesprochen, dass bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode im Mai 2022 ein entsprechender Fonds eingerichtet wird. 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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