Die aktualisierte Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen“

Empfehlungen zum Umgang mit Alkoholproblemen

Stuttgart - 16.04.2021, 09:15 Uhr

Es könnten nach Modellrechnungen knapp 2.000 Leben jährlich gerettet werden, wenn die entsprechenden psycho- und pharmakotherapeutischen Angebote anstatt derzeit rund 10% etwa 40% der Betroffenen erreichen würden. (Foto: Vadym / stock.adobe.com)

Es könnten nach Modellrechnungen knapp 2.000 Leben jährlich gerettet werden, wenn die entsprechenden psycho- und pharmakotherapeutischen Angebote anstatt derzeit rund 10% etwa 40% der Betroffenen erreichen würden. (Foto: Vadym / stock.adobe.com)


Spezifische Pharmaka zum Alkoholentzug

Clomethiazol (Distraneurin®) verstärkt den inhibitorischen Effekt von GABA (γ-Aminobuttersäure) und Glycin und wirkt so sedierend, hypnotisch und antikonvulsiv gegen die verschiedenen Entzugssymptome. Es ist als Kapsel oder hochkonzentrierte Mixtur im Handel. Bei der Anwendung der Mixtur ist darauf zu achten, dass die Verdünnung nicht in einem kunststoffhaltigen Behälter erfolgt, da dieser den Wirkstoff adsorbieren kann. Aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials und der stark variierenden Bioverfügbarkeit sollte der Wirkstoff langsam auftitriert werden. Besonders bei Personen japanischer Herkunft hat sich bei intravenöser Gabe eine um 30 % reduzierte Clearance gezeigt. 

Daneben werden Naltrexon (Adepend®), Acamprosat (Campral®) und Nalmefen (Selincro®) begleitend zu einer psychotherapeutischen Betreuung in der Postakutphase eingesetzt. Genauso wie Acamprosat dient Naltrexon zur Aufrechterhaltung der Abstinenz und soll den „Craving-Effekt“, d. h. das unstillbare Verlangen nach Alkohol unterbinden. Naltrexon bindet kompetitiv an Opioid-Rezeptoren und verhindert so, dass Opioide binden können. Es wird vermutet, dass auch beim Alkoholkonsum das endogene Opioidsystem stimuliert wird. Dagegen ähnelt die Struktur von Acamprosat der Struktur von Taurin und GABA. Als NMDA-Rezeptor-Antagonist reduziert es den Calcium-Einstrom in das Neuron. 

Anders als Naltrexon und Acamprosat, die nach einem festen Dosierschema angewandt werden, wird der Opioidmodulator Nalmefen nur bei Bedarf angewendet. Der Betroffene sollte dabei etwa ein bis zwei Stunden bevor er sich gefährdet fühlt, Alkohol zu trinken, eine Tablette einnehmen. Erste Behandlungsergebnisse sind in der Regel nach vier Wochen sichtbar.

Zur Behandlung von alkoholassoziierten peripheren Neuropathien können bei nachgewiesenem Mangel entsprechende B-Vitamine substituiert werden. Sind Analgetika erforderlich, sollten Wirkstoffe mit eigenem Suchtpotenzial möglichst vermieden werden. 

Bei komorbiden psychischen Störungen soll eine leitliniengerechte Therapie der psychischen Störung in Kombination mit der Suchttherapie durchgeführt werden. Dafür sollten Wirkstoffe mit möglichst wenig anticholinergen und extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen ausgewählt werden. Bei Patienten mit bipolaren Störungen kann zusätzlich zur Lithiumtherapie Valproat eingesetzt werden, um Abstinenzchancen zur verbessern. Liegt neben der alkoholbezogenen Störung eine ADHS-Diagnose vor, sollten eher langwirksame Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder Guanfacin gewählt werden. Hier sollte aufgrund möglicher Nebenwirkungen besonders auf kardiale Vorerkrankungen oder familiäre Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen geachtet werden.

Dieser Artikel erschien in der Deutschen Apotheker Zeitung – Ausgabe 14 / 2021, Seite 28 

Postakutbehandlung

Nach der Akutbehandlung sollte möglichst nahtlos die Postakutbehandlung folgen. Diese zielt darauf ab, die Funktions-, Leistungs- und Erwerbsfähigkeit der Betroffenen zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen und die Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft zu fördern. Sie kann in Form einer medizinischen Rehabilitation, einer medikamentösen Rückfallprophylaxe (vorzugsweise mit Naltrexon oder Acamprosat, alternativ Nalmefen, s. Kasten) oder in anderen Formen (z. B. als ambulante Psychotherapie) erfolgen. Primäres Therapieziel ist dabei die Abstinenz. Kann dieses Ziel nicht erreicht werden, sollte zumindest eine Reduktion des Konsums angestrebt werden, um weitere Schäden zu minimieren.

 

Literatur 
Fachinformation Adepend®, Stand: August 2018 Fachinformation Campral®, Stand: November 2019 
Fachinformation Distraneurin®, Stand: August 2020 
Fachinformation Selincro®, Stand: Februar 2019 
Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). AWMF-Register Nr. 076-001, Stand: Januar.2021



Sarah Rafehi, Apothekerin
redaktion@daz.online


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