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Arzneimittelrückstände in der Umwelt: Das Stockholmer Konzept

Dießen am Ammersee - 10.05.2021, 06:59 Uhr

Bei der Umweltbewertung der Medikamente werden die Arzneimittelkommissionen in Schweden durch eine frei verfügbare Arzneimittel- und Umweltdatenbank unterstützt. Diese webbasierte Entscheidungshilfe wurde von der Region Stockholm entwickelt und 2016 (in englischer Sprache) eingeführt. (Foto: Panumas / AdobeStock)

Bei der Umweltbewertung der Medikamente werden die Arzneimittelkommissionen in Schweden durch eine frei verfügbare Arzneimittel- und Umweltdatenbank unterstützt. Diese webbasierte Entscheidungshilfe wurde von der Region Stockholm entwickelt und 2016 (in englischer Sprache) eingeführt. (Foto: Panumas / AdobeStock)


Eine sogenannte „Weise Liste“ empfiehlt Ärzt:innen in Stockholm Medikamente zur Behandlung von häufigen Krankheiten. In die Bewertung fließen seit 16 Jahren auch Umweltaspekte mit ein. Ziel der Stockholmer Gesundheitsversorgung ist es, damit die Umweltauswirkungen von Arzneimitteln zu verringern. Da sich die Ärzt:innen zu rund 90 Prozent an die Anweisungen halten, ist die Wirkung positiv.

Die nach Schweden ausgewanderte deutsche Apothekerin Roswita Abelin arbeitet in der Health Care Administration, also im Gesundheitswesen des Kreises Stockholm. Mit ihrer Kollegin Helena Ramström berichtete sie im Rahmen des Symposiums „Verminderung von Arzneimittelrückständen im Abwasser“ der Firma Able Dresden am 16. April über das Stockholmer Konzept. „Arzneimittel können in konventionellen Kläranlagen nicht vollständig abgebaut werden“, erklärt die Fachfrau. Nur rund ein Viertel der Arzneistoffe könne vollständig in Kläranlagen eliminiert werden, 25 Prozent nur teilweise, weitere 25 Prozent werden gar nicht erst erfasst. 25 Prozent der Arzneimittel nähmen sogar an Schädlichkeit zu, da sie im Abwasser durch verschiedene Einflüsse wieder in ihren ursprünglichen aktiven Zustand umgewandelt werden und damit als Wirkstoff zu 100 Prozent in Natur landeten.

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Ein altbekanntes Beispiel sei Diclofenac, laut Referentin „ein richtiges Problemarzneimittel“, das sich in Tieren anreichert und zum Beispiel in den 90er Jahren zum Massensterben von Geiern in Indien und Pakistan führte. Dies werde nämlich nur zu elf Prozent in Kläranlagen abgebaut. 

An 18 Standorten im wasserreichen Schweden seien die zulässigen Grenzwerte von Diclofenac bereits überschritten, bedrohlich erhöhte Werte seien an weiteren 109 Standorten gegeben. In Schweden ist das Medikament inzwischen als Tabletten nicht mehr rezeptfrei erhältlich – allerdings nicht aus Umweltschutzgründen. „Auch bei uns geht nicht immer alles so, wie wir das gerne hätten“, gesteht Abelin. Dann verweist sie darauf, dass das ähnlich einsetzbare Paracetamol zu 90 Prozent und Ibuprofen immerhin noch zu 85 Prozent abgebaut werden. So mache es, laut den beiden Gesundheitsexpertinnen aus Schweden Sinn, schon an der Quelle den Eintrag von Medikamenten zu vermindern. Dies bedeutet, möglichst umweltfreundliche Medikamente zu verschreiben und möglichst wenige (sinnvoll) einzusetzen.

Im schwedischen Gesetz ist verankert, dass regionale Arzneimittelkommissionen Medikamente zur Behandlung von häufigen Krankheiten empfehlen. In einer „Kloka listan“ erfassen die Kommissionen rund um Stockholm, wo etwa ein Viertel der schwedischen Bevölkerung lebt, jährlich Medikamente nach bestimmten Aspekten. Diese basieren auf Wirksamkeit und Sicherheit, pharmazeutischer Zweckmäßigkeit, Kosteneffizienz – und seit 2005 auch auf Umweltaspekten. 

Die Kriterien

Die Kommission wird bei der Bewertung von Medikamenten dazu aufgerufen, Umweltrisiken und Umweltgefährdungen in ihrer Region Stockholm zu berücksichtigen. Möglichst sollten auch Informationen, wie 

  • Reinigungsgrad in Kläranlagen, 
  • Verbreitung in Gewässern und Fischen, 
  • Risiko von Auswirkungen auf Wasserorganismen und das Risiko der Resistenzentwicklung 

in die Bewertung des Medikamentes einfließen. Weitere Fakten, die berücksichtigt werden müssen, sind die 

  • Umweltauswirkungen in der Herstellungsphase und 
  • umweltfreundliche Verpackungen.

Natürlich hätten medizinische Wirksamkeit und geringe Nebenwirkungen laut Abelin immer Vorrang. Aber stünden verschiedene Medikamente zur Auswahl, dann werden auch die Kosten und die Auswirkungen auf die Umwelt mitberücksichtigt. Die Liste erleichtert den schwedischen Ärzt:innen die Auswahl des unter diesen Gesichtspunkten besten Medikaments. Und die Ärzt:innen würden das Angebot gut annehmen. Bis zu 95 Prozent richteten sie sich nach diesen Empfehlungen. 

Eine öffentliche Datenbank informiert zu Medikamenten mit Umweltrisiken

Bei der Umweltbewertung der Medikamente werden die Arzneimittelkommissionen durch eine frei verfügbare Arzneimittel- und Umweltdatenbank (Pharmaceuticals and Environment - Janusinfo.se) unterstützt. Diese webbasierte Entscheidungshilfe, die zusammengestellte Umweltinformationen für pharmazeutische Substanzen präsentiert, wurde von der Region Stockholm entwickelt und 2016 in schwedischer sowie in englischer Sprache eingeführt. 

In der Datenbank werden öffentlich zugängliche Informationen über Umweltgefahren und -risiken von Medikamenten gesammelt. Einige der Bewertungen wurden von der Region Stockholm oder von akademischen Expert:innen erstellt. Die primären Datenquellen sind die Umweltinformationen, die auf fass.se, einer schwedischen Informationsdatenbank der pharmazeutischen Industrie, und auf der EMA-Website (European Medicines Agendcy) präsentiert werden. Die Daten werden von der Beratungsfirma des schwedischen Umweltforschungsinstituts geprüft. Die Datenbank enthält auch neue Studien zum Vergleich verschiedener Wirkstoffe, die für eine Behandlung in Frage kommen – wenn ein Stoff dem anderen vorzuziehen ist.

Die „Weise Liste“ enthalte zudem Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil, welche die Ärzt:innen an ihre Patient:innen weitergeben sollten, erklärt die ausgewanderte deutsche Apothekerin das Stockholmer Konzepts weiter. Auch würden sie aufgefordert, zunächst kleine Verpackungseinheiten zu Beginn einer neuen Langzeittherapie zu verschreiben, um Wirkung und mögliche Unverträglichkeiten abzuwarten. Die Medikamentengabe sollte vom Arzt gut überwacht werden. Medikamente sollten nach Therapieerfolg abgesetzt werden und in regelmäßigen Abständen eine Bewertung für die Gesamtverschreibung aller Medikamente erfolgen. 

Schwedische Ärzt:innen würden zudem angehalten, Antibiotika so restriktiv wie möglich zu verschreiben. Es sollen Bakterienkulturen angelegt werden, um eine zielgenaue Antibiotikagabe mit guter Wirkung und möglichst engem Spektrum zu ermöglichen. Zudem sollten Patient:innen von ihren Ärzt:innen aufgefordert werden, übrig gebliebene Arzneimittel einschließlich gebrauchter Arzneimittelpflaster etc. in der Apotheke zu einer sachgemäßen Vernichtung abzugeben. „Die Apotheker führen die Medikamente einem Sondermüll zur Verbrennung zu“, ergänzt Helena Ramström.

Jährliche Release-Party

Die „Weise Liste“ würde in Schweden gut angenommen, so die Referentinnen. Um Endverbraucher:innen, verschreibenden Ärzt:innen und Apotheker:innen mit den Botschaften zu erreichen findet jährlich eine Release-Party statt. Zudem gibt es ausführliche Informationen im Internet, Vorträge, direkte Dialoge und Fachveranstaltungen, sowie eine Zeitung, die Arzneimittel- und Therapieempfehlungen gibt. Und eine Statistik lässt auch die schwedischen Gewässer und die Umwelt ein wenig aufatmen: Die DDDs, also die definierten Tagesdosen für umweltschädliche Arzneimittel, die nicht auf der „Kloka listan“ stehen sind in Schweden sehr deutlich zurückgegangen.



Mareike Spielhofen, Autorin, DAZ.online
daz-online@deutscher-apotheker-verlag.de


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1 Kommentar

Arzneimüll

von Kleiner Apotheker am 10.05.2021 um 8:08 Uhr

Tja, bei uns ist Arzneimüll = Siedlungsmüll und landet in der Tonne. Interessiert aber seit ca 10 Jahren niemanden, oder die Apotheke darf den Arzneimüll auf eigene Kosten entsorgen.

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