Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittel

Wie gefährlich ist orales Titandioxid?

Stuttgart - 12.05.2021, 09:15 Uhr

Die niederländische Behörde für Lebensmittel- und Konsumgütersicherheit soll 2019 bei Titandioxid auf die Bedeutung der Untersuchung immuntoxikologischer Wirkungen zusätzlich zu möglichen reproduktionstoxikologischen Wirkungen hingewiesen haben. (Foto: RHJ / AdobeStock)

Die niederländische Behörde für Lebensmittel- und Konsumgütersicherheit soll 2019 bei Titandioxid auf die Bedeutung der Untersuchung immuntoxikologischer Wirkungen zusätzlich zu möglichen reproduktionstoxikologischen Wirkungen hingewiesen haben. (Foto: RHJ / AdobeStock)


Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat mögliche gesundheitliche Risiken von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff neu bewertet und das Ergebnis am 6. Mai 2021 veröffentlicht. Das meldete das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) vergangene Woche. Insgesamt seien dabei fast 12.000 Publikationen berücksichtigt worden. Der Verdacht auf Genotoxizität bei oraler Aufnahme konnte damit jedoch nicht entkräftet werden. 

Das BfR meldet, dass die Expertinnen und Experten der EFSA vergangene Woche zu dem Schluss gekommen sind, dass die Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr länger als sicher angesehen werden kann. „Es wurde keine akzeptable tägliche Aufnahmemenge (ADI) abgeleitet“, heißt es.

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DAZ.online hatte bereits im September 2019 über die Diskussionen rund um Titandioxid berichtet. Damals ging es jedoch vor allem um dessen inhalative Aufnahme – und eher um den Bereich der Chemie-Industrie als den der Lebensmittel- und Pharmaindustrie. Doch zum Einsatz kommt Titandioxid nicht nur in Farben, Lacken, Putz und Mörtel, sondern Titandioxid ist auch ein weit verbreiteter Hilfsstoff in Tabletten und Sonnencremes. Schon damals kündigte Frankreich an, Titandioxid ab 2020 in Lebensmitteln nicht mehr in Form von Nanopartikeln zulassen zu wollen. In Deutschland forderte Foodwatch zum Rückruf eines Dr. Oetker Kuchen-Deko-Produkts auf, das zu 100 Prozent Titandioxid in Nanopartikel-Form enthalten sollte. Und es war bereits bekannt, dass auch auf EU-Ebene eine Debatte über Titandioxid in Lebensmitteln läuft. Dabei ging es nicht um die Gefahren durch Einatmen, sondern die mögliche Aufnahme von Titandioxid-Nanopartikeln im Körper.

„Im Oktober 2019 hat die EU-Kommission eine Einstufung und Kennzeichnung beschlossen, wonach Titandioxid [in Pulverform mit mindestens 1 Prozent Partikeln mit aerodynamischem Durchmesser ≤ 10 μm] beim Einatmen vermutlich krebserzeugend ist. Die betreffende Delegierte Verordnung (EU) Nr. 2020/217 wurde im Februar 2020 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Entsprechend wurde Titandioxid mit der 14. ATP (Anpassung an den Technischen Fortschritt), gültig ab 9. September 2021, in Anhang VI der CLP-Verordnung aufgenommen als Kanzerogen Kategorie 2 H351 (Einatmen).“

(Quelle: Aktualisierte Fragen und Antworten des BfR vom 6. Mai 2021

EFSA und BfR sahen hinsichtlich der oralen Aufnahme damals kein Risiko, allerdings Forschungsbedarf. Konkret ging es um eine kleine Zahl von Studien, die mögliche negative Auswirkungen auf das Fortpflanzungssystem nahegelegt hätten. Langfristig sollte eine akzeptable tägliche Aufnahmemenge des Lebensmittelzusatzes E171 (Titandioxid) bestimmt werden. Letzteres ist nun (noch) nicht geschehen, aber es gibt neue Daten – aus fast 12.000 Publikationen, wie das BfR aktuell schreibt. Davon wurden mehr als 200 Publikationen identifiziert und bewertet, in denen mögliche erbgutschädliche Effekte durch Titandioxid untersucht wurden. Eine Auswertung der Daten konnte demnach den Verdacht erbgutschädigender Wirkungen (Genotoxizität) von Titandioxid nicht entkräften. Allerdings basieren die Daten auf Tierexperimenten und mechanistischen Studien. Humanstudien und epidemiologische Untersuchungen lägen derzeit nicht vor. Auf dieser Basis komme das BfR nun in einer ersten Einschätzung zu vergleichbaren Schlussfolgerungen wie die EFSA. Das heißt:

  • Studien mit Titandioxid zur allgemeinen Toxizität und zur Organtoxizität liefern keine Hinweise auf schädliche Effekte 
  • keine unerwünschten Effekte auf die Fruchtbarkeit / Entwicklung der Nachkommen in Tierstudien 
  • zum krebserzeugenden Potenzial von Titandioxid-Nanopartikeln nach oraler Exposition sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine geeignete Tierstudie verfügbar 
  • Titandioxid werde nur in sehr geringem Umfang aus dem Magen-Darm-Trakt resorbiert, aber besitzt Potenzial, sich in Geweben anzureichern

Das klingt nicht unbedingt nach einer gefährlichen Substanz. Allerdings sollte ja der Verdacht der Genotoxizität entkräftet werden und das war offenbar nicht möglich. 

„Zahlreiche wissenschaftliche Unsicherheiten“

Es bestünden laut EFSA insbesondere Unsicherheiten beim molekularen Mechanismus. Welchen Einfluss Größe und Beschaffenheit der (Nano-)Partikel haben, sei unklar. Die Expertinnen und Experten der EFSA kamen also vor allem aufgrund „zahlreicher wissenschaftlicher Unsicherheiten“ zu dem Schluss, dass die Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr länger als sicher angesehen werden kann. Die niederländische Behörde für Lebensmittel- und Konsumgütersicherheit soll 2019 zudem auf die Bedeutung der Untersuchung immuntoxikologischer Wirkungen zusätzlich zu möglichen reproduktionstoxikologischen Wirkungen hingewiesen haben. 

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Grundsätzlich gibt das BfR zu bedenken, dass in vielen Lebensmitteln Inhaltsstoffe mit genotoxischem Potenzial enthalten sind – sehr häufig natürlichen Ursprungs und unvermeidbar in der täglichen Ernährung. Allerdings könnten speziell Zusatzstoffe von Verbraucherinnen und Verbrauchern auch bewusst gemieden werden, da die Verwendung von Zusatzstoffen kennzeichnungspflichtig ist.

Hier steckt Titandioxid drin

  • in Lebensmitteln als Farbpigment E 171 z. B. in Kaugummis, Dragees und Bonbons mit hellen glänzenden oder glatten Überzügen; auch in Schokolade, Keksen, Käse und hellen Saucen und Nahrungsergänzungsmitteln, wie Magnesium- oder Calciumtabletten
  • in Kosmetika als CI 77891 z. B. in Zahncremes und vielen Kosmetika; in Sonnenschutzmitteln als mineralischer Lichtschutzfilter
  • als Weißpigment PW6 in Ölfarben, Wandfarben, Lacken
  • außerdem in Kunststoffen, Textilien, Photokatalysatoren

(Quelle: DAZ 7/2020)

Die Original-Stellungnahme der EFSA kann hier eingesehen werden. Auch das BfR hat angekündigt, eine Stellungnahme zu veröffentlichen. 

Nanopartikel in Lebensmitteln

Während das BfR seine „Fragen und Antworten“ zu Titandioxid am 6. Mai aktualisiert hat, stammen die „Fragen und Antworten zur Nanotechnologie“ noch vom August 2012. Dort heißt es, dass berichtet werde, dass Nanomaterialien auch gezielt als Nahrungsergänzungsmittel verwendet werden. Berichtet würde vom Einsatz von anorganischen Materialien wie Siliziumdioxid, kolloidalem Silber, Calcium und Magnesium in Nanopartikel-Form. Ob diese Stoffe allerdings im Lebensmittel als Nanopartikel oder in einer zusammengeballten Form vorliegen, sei unklar. Die Lebensmittelindustrie entwickle zudem funktionelle Lebensmittel, in denen Vitamine, Omega-3-Fettsäuren, Phytosterole und Aromen in Nanokapseln aus organischen Materialien, etwa in Liposomen, eingeschlossen werden, um sie dann im Körper gezielt freizusetzen. 

Risiken, die Nanomaterialien laut BfR bergen können, sind besondere (physikalisch-chemische) Eigenschaften eines Nanomaterials, wie große reaktionsfreudige Oberflächen, und das Verhalten im Körper, z.B. eine lange Verweildauer und die Überwindung natürlicher biologischer Barrieren.

„Alle Zutaten, die in Form technisch hergestellter Nanomaterialien im Lebensmittel vorhanden sind, müssen im Zutatenverzeichnis eindeutig aufgeführt werden. Auf die Bezeichnung solcher Zutaten muss das in Klammern gesetzte Wort ‚Nano‘ folgen.“ 

(Quelle: BMEL, Stand 3. Juni 2020) 

Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner (CDU), forderte am 6. Mai die Rücknahme der EU-Zulassung für Titandioxid. Sie habe sich „bereits an die EU-Kommission gewandt und sie aufgefordert, hier tätig zu werden“, hieß es. Wie die dpa am selben Tag berichtete, hatte die EFSA ihre Sicherheitsbewertung auf Ersuchen der EU-Kommission neu geprüft. Nun soll „der weit verbreitete Farbstoff Titandioxid […] nach dem Willen der EU-Kommission wegen möglicher Krebsrisiken aus dem Essen verbannt werden“. Die Brüsseler Behörde habe aber darauf hingewiesen, dass keine akute Gesundheitsgefahr bestehe. Man werde den EU-Staaten einen Zulassungsstopp vorschlagen, aber nach einer geeigneten Übergangsfrist. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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