Interview mit WIPIG-Chef Helmut Schlager

Glicemia 2.0: Wegbereiter für vergütete pharmazeutische Dienstleistungen?

Stuttgart - 23.07.2021, 07:00 Uhr

Dr. Helmut Schlager ist zuversichtlich, dass es vielleicht schon bei den übernächsten Verhandlungen zwischen DAV und GKV-Spitzenverband zur Erweiterung der Angebotspalette der pharmazeutischen Dienstleistungen gemeinsame Lösungen geben wird. (s / Foto: WIPIG)

Dr. Helmut Schlager ist zuversichtlich, dass es vielleicht schon bei den übernächsten Verhandlungen zwischen DAV und GKV-Spitzenverband zur Erweiterung der Angebotspalette der pharmazeutischen Dienstleistungen gemeinsame Lösungen geben wird. (s / Foto: WIPIG)


Ein besserer HbA1c-Wert und weniger Gewicht – das passiert mit Diabetiker:innen, wenn sie bei Medikationsmanagement und Lebensstiländerung von Apotheker:innen unterstützt werden. Gezeigt hat das die Glicemia 2.0-Studie, an der Dr. Helmut Schlager, Geschäftsführer des WIPIG, sich federführend beteiligte. Die DAZ hat sich mit ihm unterhalten – auch darüber wie andere Apotheken ein solches Diabetesmanagement aufbauen können.

DAZ: Wie entstand die Idee, nach der erfolgreichen Studie GLICEMIA, bei der es um die Primärprävention von Diabetes ging, die „Wirkung“ von Apothekern auf bereits an Typ 2 Diabetes erkrankte Personen zu untersuchen?

Schlager: Hierfür gab es letztlich mehrere Auslöser. Einerseits waren wir natürlich sehr begeistert, mit der GLICEMIA-Studie zweifelsfrei wissenschaftlich und mit hoher Evidenz nachgewiesen zu haben, wie erfolgreich unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Offizin heraus „preventive care“ auf dem Feld der Primärprävention anbieten konnten. Andererseits gehören die bereits erkrankten Diabetiker zu einem eminent wichtigen Kreis an Patienten, um die sich Apotheker sehr gut kümmern. Somit wollten wir auch für diese Menschen ein strukturiertes praxisorientiertes Betreuungsprogramm im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention ausarbeiten. Darüber hinaus zeigten uns die Gespräche mit den Krankenkassenverbänden, dass diese unsere Arbeit zwar richtig gut fanden und lobten, letztlich aber leider keine Projekte dabei herauskamen, mit denen man einmal mutig ein honoriertes Präventionsprojekt für Apotheker hätte ausprobieren können. Hauptargument der GKV-Vertreter damals war, dass es keine gesetzlichen Grundlagen für solche Modelle gab.

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DAZ: Gab es bereits bei Studienbeginn die Idee, ein wissenschaftliches Fundament für die pharmazeutischen Dienstleistungen zu schaffen?

Schlager: So ist es. Vor Gründung des WIPIG hörte ich in einer Vorstellungsrunde zur Vorbereitung eines städtischen Präventionsprojektes einmal den Satz „Sie sind Apotheker? Was haben die denn mit Prävention zu tun?“. Das war so ein Schlüsselerlebnis. Der Vorstand der Bayerischen Landesapothekerkammer hatte ja 2007 mit der Gründung des WIPIG vor allem auch die Idee, die Apotheker besser im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung zu positionieren und seinem WIPIG unter anderem das Ziel „Erforschung und Entwicklung neuer Präventionsideen, einschließlich Projekterstellung und der Umsetzung in die Praxis.“ gesetzt. Wenn Sie damals wie heute mit ihren Partnern im Gesundheitswesen über die Möglichkeiten der Präventionsbetreuung durch Apotheker sprechen, müssen Sie natürlich auch immer mit harten Fakten und wissenschaftlichen Belegen argumentieren. Darum hat es uns auch sehr gefreut, dass die ABDA in ihrem Faktenblatt „Apotheker in der Prävention“ unter anderem auf die Präventionsmaterialien des WIPIG verweist und in ihrem politischen Argumentationspapier „Leistungsbeschreibung für ein apothekenbasiertes Programm zur Prävention von Typ-2-Diabetes“, das es schon vor Jahren auch bis ins BMG schaffte, auf unsere Studie einging. Fazit darin: „Die Studie hat gezeigt, dass das strukturierte Präventionsprogramm GLICEMIA in den öffentlichen Apotheken erfolgreich umgesetzt und ein gesundheitlicher Nutzen für die Teilnehmer erreicht werden kann. Apotheker können erfolgreich Personen dabei unterstützen, ihr erhöhtes Diabetes-Risiko zu senken. Somit besteht die Möglichkeit, ein wissenschaftlich evaluiertes Diabetes-Präventionsprogramm in öffentlichen Apotheken flächendeckend anzubieten.“ Ich denke, dass wir damit unser Scherflein dazu beigetragen haben, dass GKV-Vertreter, wie auch immer sie zu den pharmazeutischen Dienstleistungen stehen, in den Gesprächen mit dem DAV eines sicher nicht mehr postulieren können, nämlich dass es keine wissenschaftliche Evidenz für den Nutzen unserer pharmazeutischen Dienstleistungen gäbe.

Aufbau einer Diabetesbetreuung

DAZ: Was ist für Sie die spannendste Erkenntnis?

Schlager: Die spannendste Frage ist natürlich immer, ob man das Ziel für den primären Endpunkt erreicht und dies wiederum mit statistischer Signifikanz. Ich will nicht verhehlen, dass wir uns noch ein paar Studienteilnehmer mehr gewünscht hätten. Aber wir waren dennoch zuversichtlich, dass unsere Interventionsapotheken die effiziente Senkung der HbA1c-Werte hinbekommen würden. Wir waren natürlich überglücklich, dass diese Verbesserung im Vergleich zur Senkung in der Kontrollgruppe statistisch signifikant nachgewiesen werden konnte. Natürlich haben unsere Kontroll-Apothekenteams auch eine super Arbeit geleistet, aber diese mussten sich eben bei der „Betreuung“ in Zurückhaltung üben. Sehr gespannt, und da sind wir wieder beim Thema GKV, waren wir auch, ob wir einen pharmakoökonomischen Nutzen der Intervention nachweisen können. Dazu sind wir eine Kooperation mit der Arbeitsgruppe Prof. Dr. Zerth von der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth eingegangen. An der Stelle muss ich Sie noch ein wenig auf die Folter spannen – die Ergebnisse sind zur Publikation eingereicht.

DAZ: Wie können Apotheken – unabhängig von Vergütung – eine solche Diabetikerbetreuung etablieren? Häufig ist ja der erste Schritt der schwerste – wo muss man anfangen?

Schlager: Wir haben unser Konzept auch entsprechend den Empfehlungen aus dem GKV-Leitfaden Prävention und den Nationalen Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes konzipiert. Am besten wäre es, dieses für eine Gruppe von bis zu 15 Diabetikern anzubieten. Man darf den Aufwand allerdings nicht unterschätzen. Eine einjährige strukturierte Diabetikerbetreuung erfordert schon einen erheblichen Aufwand, und es erfordert einen großen Einsatz für die Schutzbefohlenen. Deswegen kann ich ein solches Konzept erst „nach der Pandemie“ empfehlen, in der unsere Mitglieder Sensationelles leisten und daneben meist nicht mehr die Kraft haben für zusätzliche derart ambitionierte Projekte, die zweifelslos zur „Kür“ der apothekerlichen Dienstleistungen gehören. Aber wie auch schon damals bei der Etablierung der Pharmazeutischen Betreuung ist es die Philosophie der kleinen Schritte, die zum Ziel führen. Warum daher nicht einmal erst mit einem Informationsvortrag und einer Screeningwoche starten und dabei abschätzen wie das Interesse in der Kundschaft ist. Gibt es genug potenziell interessierte Diabetiker? Wären diese bereit, an einem solchen Programm teilzunehmen? In unserer Rubrik Diabetes auf der WIPIG-Homepage finden sich viele Informationen. Die Mitglieder der Bayerischen Landesapothekerkammer können alle Studienmaterialien ab sofort einsehen und nutzen. Eigentlich soll man eine so schöne Sache ja nicht mit etwas Negativem beenden. Aber derzeit gibt es tatsächlich noch den Wermutstropfen, dass wir diese umfangreiche Materialsammlung aus steuerlichen Gründen nicht allen Apothekern bundesweit zur Verfügung stellen dürfen, obwohl wir dies gerne täten. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass es vielleicht schon bei den übernächsten Verhandlungen zwischen DAV und GKV zur Erweiterung der Angebotspalette der pharmazeutischen Dienstleistungen gemeinsame Lösungen geben wird.

DAZ: Nach GLICEMIA, GLICEMIA 2.0 – gibt es ein GLICEMIA 3.0?

Schlager: Alle guten Dinge sind drei! Mit unseren drei Studien Herzensangelegenheit 50+, GLICEMIA und GLICEMIA 2.0 konnten wir wissenschaftlich evaluierte, strukturierte Präventionsprogramme etablieren und den Nutzen der Präventionsbetreuung durch die Apotheke beweisen. Das muss man dann nicht noch ein viertes und fünftes Mal wiederholen, zumal der Aufwand solcher langjährigen Projekte wirklich immens ist. Wir warten ab, was sich im Feld der pharmazeutischen Dienstleistungen entwickelt und konzentrieren uns derzeit auf das Thema „Demenzfreundliche Apotheke“.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Hoffnungslos

von Reinhard Rodiger am 23.07.2021 um 14:05 Uhr

Solange der Mechanismus der Blockade sinnvoller Tätigkeiten nicht dingfest gemacht wird, kann endlos geprüft werden.
Wozu bauen wohl die KK solche Betreuungsaktionen auf ?
Sie wollen steuern und dafür braucht es keine Apotheken.Das steht in den Positionspapieren und strategischen Zielsetzungen der KK.Niemand greift das auf und fragt nach den Kosten und den deletären Folgen von Parallelstrukturen der Krankenkassen.Die Fakten sind längst bekannt.Sie werden politisch ignoriert.Da hilft kein soundsovieltes strukturiertes Programm und dessen wiederholte Überprüfung.
Es ist ein klares Erkenntnisdefizit, das mit den falschen Mitteln
bearbeitet wird.Hoffnungslos.

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Die wievielte Hoffnung…

von gabriela aures am 23.07.2021 um 12:25 Uhr

…auf irgendeine Art von Aufmerksamkeit ist das jetzt ?
WIPIG ist das Sammelbecken der letzten bedingungslosen Optimisten ohne finanziellen und zeitlichen Druck.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

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