Präqualifizierung extrem (Teil 1)

Game of Thrones für Hartgesottene – die behindertengerechte Toilette

05.04.2022, 07:00 Uhr

Im ersten Teil unserer Präqualifizierungsserie dreht sich alles um die behindertengerechte Toilette. (c / Foto: IMAGO / CHROMORANGE)

Im ersten Teil unserer Präqualifizierungsserie dreht sich alles um die behindertengerechte Toilette. (c / Foto: IMAGO / CHROMORANGE)


Die Präqualifizierung raubt den Apothekerinnen und Apothekern oftmals den letzten Nerv. Wir haben Sie gebeten, uns Ihre absurdesten Geschichten rund um dieses Thema zu erzählen. Lesen Sie nun den ersten Teil unserer Serie – heute dreht sich alles um die behindertengerechte Toilette.

Mindestens alle fünf Jahre fällt in den meisten öffentlichen Apotheken einiges an zusätzlichem Papierkram an. Dann ist es nämlich wieder einmal Zeit für den bürokratischen Akt der (Re-)Präqualifizierung. Und damit steigt bei vielen Apothekenleitungen zugleich der Blutdruck. Es ist ein Leidensthema, nicht nur wegen des hohen Aufwands und der damit verbundenen Kosten.

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Immer Ärger mit der Präqualifizierung

Wir haben Sie im Februar dieses Jahres gebeten, uns Ihre absurdesten Geschichten zur Präqualifizierung zu erzählen. Viele Kolleginnen und Kollegen sind unserem Aufruf gefolgt – so auch Dr. Benjamin Lieske. Der Inhaber der Ickerner Markt-Apotheke in Castrop-Rauxel erlebte bei seiner Re-Präqualifizierung inmitten einer Hochinzidenzphase der Coronavirus-Pandemie eine böse Überraschung: Seine zuletzt noch durch die Agentur für Präqualifizierung (AfP) akzeptierte behindertengerechte Toilette sollte plötzlich einen Zentimeter zu hoch montiert sein, um weiterhin Hilfsmittel der Versorgungsbereiche 05A5, 05B5, 05C, 10A15, 20ER und 23A3 mit den Krankenkassen abrechnen zu können. Hinter den genannten Versorgungsbereichen verbergen sich die in vielen Apotheken regelmäßig abgegebenen Hilfsmittel, wie Bandagen (Fertigprodukte), Gehstöcke und industriell hergestellte Orthesen (ohne Anpassung).[1]

Um seine Patientinnen und Patienten auch zukünftig mit eben diesen versorgen zu können, nahm Lieske schließlich den Umbau in Kauf. Irritiert sei er dennoch gewesen, schließlich wurde exakt diese Toilette zuvor von der AfP nicht beanstandet. Die Präqualifizierungsstelle habe ihn zwar bei der Umsetzung gut unterstützt, einen Bestandsschutz akzeptierte sie jedoch nicht.

Barrierefreiheit ja, aber mit Augenmaß

Grundsätzlich befürwortet Lieske die Bestrebungen, den öffentlichen Raum barriereärmer und somit zugänglicher für möglichst alle Menschen zu gestalten. Er sehe die Problematik eher in einer Überregulierung, die letztlich niemandem nutze. Wenn sämtliche Neuerungen des Kriterienkatalogs bei jeder Re-Präqualifizierung auch auf Bestandsobjekte angewendet würden, könnten Apotheken bald alle fünf Jahre umbauen, so Lieske. Wie viele Apotheken dann noch bereit oder wirtschaftlich dazu fähig sind, diese Kosten zu tragen, wird sich zeigen müssen.

Die Forderungen des GKV-Spitzenverbands unterscheiden zudem nicht zwischen den jeweiligen Versorgungseinrichtungen. Sie gelten gleichermaßen für Apotheken sowie Sanitätshäuser oder Friseursalons. [1], [2] 
Laut Lieske werde durch diese Vereinheitlichung die Realität nicht ausreichend abgebildet. Wieso Apotheken beispielsweise zur Abgabe von Kniegelenksbandagen eine Werkbank benötigen, obwohl sie keinerlei handwerkliche Anpassungen an den Hilfsmitteln vornehmen, erschließe sich ihm nicht.

Die Toilette am Ende einer Wendeltreppe

Auch eine Kollegin von Lieske hatte bei ihrer Präqualifizierung Ärger mit der bereits vorhandenen Toilette. Diese befindet sich am unteren Ende einer Wendeltreppe. Mittels eines kostenpflichtigen Architekten-Gutachtens, welches anfallende Umbaukosten in Höhe von 81.000 Euro für die benötigten Sanitäranlagen bescheinigt (das Schreiben liegt der Redaktion vor), wurde eine Ausnahmeregelung zu ihren Gunsten getroffen. 

Doch auch diese bewahrte sie nicht vor zusätzlichen Investitionen: Um die gewünschte Präqualifizierung zu erhalten, musste die vorhandene Toilette trotz ihrer Lage mit einer Sitzerhöhung inklusive Haltegriffen nachgerüstet werden. Und so ist die betroffene Apotheke nun im stolzen Besitz einer Toilette mit vorbildlicher Sitzhöhe, welche von allen Menschen genutzt werden kann, die es die Wendeltreppe hinab schaffen. Und hoffentlich auch wieder hinauf. Der Sinn dieser Aufrüstung ist der Apothekerin nicht ganz klar. Die Präqualifizierungsstelle immerhin sei glücklich mit dieser Lösung und erteilte das ersehnte Zertifikat.

Die Regelungsgrundlage

Die „Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V für eine einheitliche Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln“ mit Stand vom 30. August 2021 führen die behindertengerechten Toiletten im Kapitel „Besonderheiten für Neubetriebe oder bei Erstbezug“ auf. Als solche gelten alle Betriebe, die nach dem 31. Dezember 2010 – also seit Existenz des Präqualifizierungsverfahrens – gegründet wurden. Zwar kann ein bereits ausgestelltes Präqualifizierungszertifikat als Nachweis eines „Alt-Betriebes“ vorgelegt werden, ein Leitungswechsel oder die Verlegung der Geschäftsräumlichkeiten führt indes erneut zur Einstufung als Neubetrieb. 

Die GKV-Empfehlungen definieren auch Ausnahmen, in denen auf den Einbau einer behindertengerechten Toilette verzichtet werden kann. Hierzu muss durch Sachverständige schriftlich bestätigt werden, dass ein solcher Umbau nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand realisierbar wäre. Allerdings muss auch in diesem Fall die Bestandstoilette „soweit wie möglich behindertengerecht“ ausgestattet werden. Die Empfehlungen nennen hierbei konkret die vorgeschriebene Toilettensitzhöhe von 46 bis 48 cm sowie das Anbringen von Haltegriffen und einer Notrufvorrichtung. Zur Umsetzung der Forderungen kann eine Übergangsfrist gewährt werden.

Neben dieser Ausnahmeregelung kann auch eine Nutzungsvereinbarung über eine „in unmittelbarer räumlicher Nähe“ befindliche behindertengerechte Toilette vor einem großangelegten Umbau schützen. Hierbei darf jedoch für die Kundschaft kein Aufwand bei der Nutzung dieser Sanitäranlage entstehen und sie muss barrierefrei erreichbar sein. Auch darf es sich nicht um eine öffentliche Toilette handeln. Ob solch eine Toilette außerhalb der Betriebsräume akzeptiert wird, ist ausdrücklich Ermessenssache der jeweiligen Präqualifizierungsstelle.[2]

Wie Bürokratie die Versorgung verschlechtert 

Über mittlerweile zwei Apotheken, allerdings keine einzige behindertengerechte Toilette, verfügt Matthias Bröker, Apothekenleiter im 11.000-Seelen-Ort Ostbevern. Vor fünf Jahren übernahm er die rund 250 m von seiner Ambrosius-Apotheke entfernt gelegene Marien-Apotheke als Filiale. Der Einbau einer behindertengerechten Kundentoilette in der neuen Filiale sei wirtschaftlich für den Betrieb nicht tragbar.

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Und so dürfen er und sein Team trotz ähnlicher sanitärer Ausstattung beider Apotheken nur in der Hauptapotheke Bandagen und verwandte Hilfsmittel zulasten der GKV abgeben, denn dort genießt Bröker Bestandsschutz. Daher muss die Filial-Kundschaft nun vertröstet und spazieren geschickt werden. Dies am besten aber mit guter Planung: Die nächstgelegene behindertengerechte Toilette befindet sich nämlich im Rathaus, 200 m in die entgegengesetzte Richtung.

Kaum noch Hilfsmittelversorger in Ostbevern

Auch Bröker hält Barrierefreiheit für ein wichtiges Thema. Diese erreiche man jedoch nicht durch Beharren auf standardisierten Regelungen. Er wünsche sich Augenmaß und mehr Unterstützung bei der Umsetzung wirklich sinnvoller Lösungen, die zu tatsächlichen Verbesserungen in der Versorgung führen. In seinem Fall habe sich durch die Vorgaben des GKV-Spitzenverbands die Situation sogar verschlechtert. Durch die Filialisierung fiel die Marien-Apotheke als Versorger weg und das einzige Sanitätshaus in Ostbevern passe mittlerweile auch keine Bandagen mehr an. So bleibe den Menschen nur der Weg in seine Hauptapotheke oder in das Sanitätshaus im nächsten Ort. Die ohnehin schon schwierige Versorgungslage in ländlichen Gebieten werde durch die derzeitige Überregulation also weiterhin erschwert, so Bröker.

Fazit

Drei Beispiele von vielen, die deutliche Schwachstellen des Verfahrens offenbaren. Trotz aller Kritik seitens der Apothekerschaft scheinen der Gesetzgeber sowie der GKV-Spitzenverband an dieser vereinheitlichten Vorgehensweise festhalten zu wollen. Doch wem nützt dies überhaupt? Als wichtige Bezugspersonen im Gesundheitssektor liegen den Apothekerinnen und Apothekern die Belange ihrer Kundschaft – wie zum Beispiel die gesellschaftliche Teilhabe und die Unverletzlichkeit ihrer Menschenwürde – am Herzen. Statt komplexe Herausforderungen mittels allgemeinverbindlicher Regelungen nach Schema F zwangslösen zu wollen, sollte man vielleicht besser über wirkliche Anreize zur sinnvollen und nachhaltigen Mitgestaltung nachdenken.

Literatur:

[1] GKV-Spitzenverband (2021), Kriterienkatalog, in: gkv-spitzenverband.de, 30.08.2021, https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/hilfsmittel/praequalifizierung/eignungskriterien/ek_ab_01_januar_2022/HiMi_Kriterienkatalog_30.08.2021.pdf, letzter Zugriff am 29. März 2022.

[2] GKV-Spitzenverband (2021), Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V für eine einheitliche Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln, in: gkv-spitzenverband.de, 30.08.2021, https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/hilfsmittel/praequalifizierung/eignungskriterien/ek_ab_01_januar_2022/HiMi_Empfehlungen_nach__126_SGB_V_30.08.2021_bf.pdf, letzter Zugriff am 1. April 2022.



Jessica Geller, Autorin, DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Bis zum bitteren Ende

von ratatosk am 05.04.2022 um 8:56 Uhr

Es gibt keinen erfolgreichen Staat ohne gute Bürokratie. Unsere Bürokratie ist jedoch völlig marode, kaum mehr Kompetenz, dafür viel Selbstgefälligkeit. Sie zerstören von Bundeswehr über Energiesicherheit zu Gesundheitswesen zunehmend die Grundlagen unseres Staates. Leitung von Behörden in der Politik werden meist nur noch nach Proporz ohne Kompetenzanforderung vergeben, ging ohne Krisen gerade noch gut, jetzt offensichtlich nicht mehr. Wenn dann noch wie bei Karl persönliche Animositäten gegen Beteiligte dazukommen, dann Land unter. Getoppt wird das Ganze nur noch von der GKV Spitze, leider ohne jede Kontrollen, da keine Beamten, aber auch kein echtes Wirtschaftsunternehmen.

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