Arzneimittelverschwendung

Milliarden für nichts

15.08.2024, 12:15 Uhr

(Foto: IMAGO / Yay Images)

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Schätzungsweise 4,5 Billionen Arzneimittel werden jährlich hergestellt, doch einige Milliarden davon erreichen nie die Patienten. Das ist nicht nur eine verpasste Gelegenheit, Millionen von Menschen in Not zu helfen, sondern auch eine Vernichtung von Geld und Ressourcen sowie eine erhebliche Belastung für die Umwelt. Dabei könnte ein Großteil dieser Verschwendung vermieden werden. Ein Report der britischen Sustainable Medicines Partnership forscht nach den Ursachen und gibt konkrete Handlungsempfehlungen.

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland rund 132 Millionen Dosen Corona-Impfstoffe, die nicht an die Subvariante Omikron XBB.1.5 angepasst waren, entsorgt, so eine Information der Bundesregierung. Ähnlich in der EU: Dort wurden seit dem Höhepunkt der Pandemie mindestens 215 Millionen Dosen Covid-19-Impfstoffe vernichtet. Die Kosten für die europäischen Steuerzahler be­laufen sich auf geschätzt mindestens vier Milliarden Euro.

Auch Pharmaunternehmen vernichten jedes Jahr überschüssige Arzneimittelbestände im Wert von rund 11 Milliarden Dollar. Wenngleich die Zahl groß erscheint, gibt sie doch nur einen Bruchteil der gesamten globalen Verschwendung an Medikamenten wider, so die britische Sustainable Medicines Partnership (SMP), ein Zusammenschluss von 48 Organisationen aus dem Pharma- und Gesundheitssektor. In einer aktuellen Untersuchung bezieht sich die Organisation dabei auf gebrauchsfertige Arzneimittel, die nie einen Patienten erreichen. 

Bei der Suche nach den Gründen für die massenhafte Arzneimittelverschwendung stützt sich die Organisation auf Interviews mit Akteuren im Gesundheitswesen, Erkenntnisse des Kooperationspartners Deloitte und auf die gemeinnützige Organisation für Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, YewMaker. „Wir liefern mehr als nur einen Entwurf für Veränderungen – wir rufen alle Pharma- und Gesundheitsorganisationen auf, die Verschwendung von Medikamenten spürbar zu reduzieren“, so Nazneen Rahman, SMP-Gründerin und CEO von YewMaker.

System verleitet zu Übermengen

Ein wesentlicher Faktor: Die globale Gesundheitsbranche ist bestrebt, eine durchgehende und konsistente Ver­sorgung möglichst vieler Patienten mit Arzneimitteln zu gewähr­leisten. Um das zu erreichen, werden vielfach Überschüsse produziert und vorgehalten. Dieser Ansatz ist laut SMP zwar entscheidend zur Vermeidung von Engpässen, könne aber dazu führen, dass Produkte letztlich nicht verwendet und wieder vernichtet werden.

Konkret zeigt sich diese Vorgehensweise am Beispiel des britischen nationalen Gesundheitsdienstes, der auch die öffentlichen Krankenhäuser betreibt. Bei Arzneimittel-Ausschreibungen müssen Bieter einen Vorrat von sechs Monaten vorhalten. Kommt ein Bieter nicht zum Zuge, wird dessen Vorrat laut SMP in der Regel vernichtet. Darüber hinaus müssten alle Arzneimittel eine Haltbarkeit von sechs Monaten aufweisen, andernfalls würden sie vernichtet oder an die Großhändler zurückgeschickt. Diese An­forderungen, so SMP, würden eine Verschwendung begünstigen.

Überbevorratung gibt es auch bei den Pharmaunternehmen. Um lieferfähig zu sein, sind sie oftmals bemüht, Fehlbestände zu vermeiden. Hinzu komme, dass die meisten Unternehmen der Verschwendung von Arzneimitteln keine besondere Bedeutung zumessen. Generell sei es für viele Organisationen eine Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen notwendigen Überbeständen und einer Minimierung von Verschwendung zu erreichen.

Behörden setzen Rahmenbedingungen

Oftmals legen auch Regulierungsbehörden und Regierungen mit dem vorrangigen Ziel des Patientenschutzes Richtlinien fest, wie Arzneimittel hergestellt, vertrieben und verwendet werden dürfen. Die aktuellen Umweltschutzvorschriften konzentrieren sich laut SMP dabei hauptsächlich auf die Verringerung der Treibhausgasemissionen und die sichere Vernichtung gefährlicher Chemikalien, weniger aber auf die Reduzierung von Arzneimittelverschwendung.

Eine weitere Ursache: In den meisten Ländern sind die Akteure des Gesundheitswesens nicht einheitlich strukturiert. Apotheken oder Krankenhäuser arbeiteten häufig als getrennte Einheiten mit geringem Austausch untereinander. Dieses Modell könne zu unklaren Angebots- und Nachfragesignalen führen. Darüber hinaus schränken manchmal Kartellgesetze die Zusammenarbeit und den Datenaustausch ein und begünstigen damit eine Verschwendung. Bei grenzüberschreitenden Arzneimitteltransporten komme es zudem gelegentlich zu Verzögerungen, so dass Medikamente längere Zeit zurückgehalten und schließlich unter Umständen entsorgt werden müssen.

Kleinere Vials und Blister

Auch Verpackungen spielen eine Rolle. Arzneimittelinformationen müssen meist in den länderspezifischen Sprachen verfasst sein. Das erhöhe die Produktkomplexität und schränke die Möglichkeiten von Neuzuweisungen oder Spenden ein.

Eine wichtige Funktion kommt laut den Autoren der Verpackungsgröße zu. Vielfach seien diese ineffizient. So legten die Hersteller die Größe der Fläschchen (Vials) in der Regel nach dem durchschnittlichen Verbrauch fest. Damit seien diese teilweise bis zu 33 Prozent größer als nötig – der Überschuss werde nach dem Öffnen des Fläschchens in der Regel vernichtet. Ähnliches gilt für Blisterver­packungen. Hinzu kommt, dass Medikamente, die in einer Kühlkette vertrieben werden müssen, oft spezielle Verpackungen benötigen, um die Produktsicherheit zu gewährleisten. Tatsächlich gingen jedes Jahr aufgrund von Fehlern in der Kühlkettenlogistik Medikamente im Wert von 35 Milliarden Dollar verloren.

Mangelnde Datenintegration

Auch in Organisation und Logistik haben die Studienautoren Defizite entdeckt. So mangele es im gesamten Arzneimittel-Ökosystem an Datenintegration. Sind beispielsweise verschreibungsrelevante Daten in der Kette vom Arzt über die Apotheke bis zum Patienten nicht konsistent oder transparent, könne dies zu einer Verschwendung von Arzneimitteln führen. Zudem hätten viele Unternehmen mit schlechten Bedarfsprognosen zu kämpfen, und auch das Bestands- und Haltbarkeitsmanagement sei oftmals unausgereift.

Nicht zuletzt ordnen die Verfasser Ärzten und Apothekern wichtige Rollen zu. So würden Ärzte oftmals auf Onlineplattformen bewertet. Um hier möglichst gut abzuschneiden, würden sie den Patienten nicht selten eine „schnelle Lösung“ anbieten und Medikamente verschreiben, die möglicherweise nicht notwendig seien. Apotheken wiederum hätten beim Pharmagroßhandel oft Lieferverträge, die ihnen beträchtliche Rabatte auf Rückgaben gewähren, was den Anreiz zur Überbestellung erhöhe.

Handlungsempfehlungen für Akteure im Gesundheitswesen

Um die weltweite Verschwendung von Arzneimitteln einzudämmen, gibt die SMP-Untersuchung eine Reihe von Handlungsempfehlungen an die Akteure im Gesundheitswesen. Diese reichen von der Verbesserung von Lagerbeständen und Bedarfsprognosen bis hin zu längerfristigen und kooperativen Lösungen bei Datentransparenz und der Umverteilung überschüssiger Medikamente.

An erster Stelle steht laut den Autoren dabei die Messung der aktuellen Verschwendung, verbunden mit der Frage, wo und wie diese entsteht. In der Folge könnten beispielsweise Pharmaunternehmen und Großhändler ihren Bedarf besser planen, indem sie auf Best Practices zurückgreifen, in digitale Technologien und KI investieren und neue Datenquellen in ihre Systeme integrieren. Bei der Lagerung von Arzneimitteln sollten Unternehmen nach Strategien wie „First expired, first out“ vorgehen.

Eine erhebliche Bedeutung kommt der Verbesserungen von Kühlketten zu. Jüngste Fortschritte bei Material und Distribution wie „Cold Chain as a Service“ oder „Kühlkette als Dienstleistung“ zusammen mit besserer Rückverfolgung und Rückwärtslogistik würden zu weniger Abfall und höherer Kosteneffizienz führen.

Neben einer Optimierung der Verpackungsgrößen plädieren die Verfasser auch für die Einführung eines Umverteilungsprogramms, bei dem Akteure mit überschüssigen Arzneimitteln mit denjenigen zusammengebracht werden, die diese dringend benötigen. Um die Integrität der Produkte und das Vertrauen in den Markt zu gewährleisten, sollten solche Markt­plätze allerdings durch eine dritte Partei oder eine Regulierungsbehörde überwacht werden.

Mehr Effizienz, weniger Umweltbelastung

Die positiven Effekte einer geringeren Arzneimittelverschwendung sind laut SMP vielfältig. So würden damit nicht nur Kosten reduziert und die betriebliche Effizienz gesteigert, sondern auch die negativen Auswirkungen auf die Umwelt reduziert. Patienten wiederum würden durch eine höhere Verfügbarkeit von Medikamenten profitieren. „Die Zeit zum Handeln ist jetzt ge­kommen“, sagt SMP-Gründerin und YewMake-CEO Nazneen Rahman. „Gemeinsam können wir die Herausforderungen in Chancen verwandeln und ein effizienteres, gerechteres und umweltfreundlicheres globales Gesundheitsökosystem fördern, das Menschen und Planeten unterstützt, gesünder zu werden.“


Thorsten Schüller, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Nachvollziehbar, aber...

von Stefan Haydn am 16.08.2024 um 12:24 Uhr

Klingt ja erst mal richtig gut. Aber wer bezahlt denn den Verwaltungsaufwand bei den Tauschgeschichten? Arbeitszeit ist nicht kostenlos. Und berücksichtigt man die Preise der meisten Generika, wird das sicher nicht billiger als die Entsorgung.
Konsequenterweise müßte man dann auf Bulkware mit Auseinzelung seztzen. Aber das kann durch die Arbeitsprozeße schon gar nicht billiger werden als eine fertige Abpackung. Bzgl. Verwechslungsgefahr auch schwierig.
Da wird es keine optimale Lösung geben, wenn nicht geklärt ist, was der Umweltschutz monetär wert ist.

Und für die mitlesenden Politiker: In Deutschland gibt es keine hohen Rabatte auf RX, die eine Retoure begünstigen würden. Retoure ist immer Verlustgeschäft.

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