Subgruppe mit erhöhtem Suizidrisiko

Besser kein Semaglutid bei bestehender Depression?

20.08.2024, 17:49 Uhr

GLP-1-Agonisten sind eine wirksame Therapieoption bei Typ-2-Diabetes und Adipositas. Eine Auswertung von WHO-Daten kommt jedoch zu dem Schluss, dass ihr prominentester Vertreter Semaglutid bei Patienten mit bestehender Depression zu einer erhöhten Suizidalität führen könnte. (Foto: DimaBerlin / AdobeStock)

GLP-1-Agonisten sind eine wirksame Therapieoption bei Typ-2-Diabetes und Adipositas. Eine Auswertung von WHO-Daten kommt jedoch zu dem Schluss, dass ihr prominentester Vertreter Semaglutid bei Patienten mit bestehender Depression zu einer erhöhten Suizidalität führen könnte. (Foto: DimaBerlin / AdobeStock)


Schon länger wird diskutiert, ob die Therapie mit GLP-1-Agonisten zu einem erhöhten Suizid-Risiko führen könnte. In einer aktuellen Studie finden die Autoren Evidenz für ein erhöhtes Risiko für Semaglutid in einer Patienten-Subgruppe mit Antidepressiva als Komedikation, nicht aber für Liraglutid.

Bereits in den Zulassungsstudien von Semaglutid wurde ein vermehrtes Auftreten von suizidalem Verhalten beobachtet, jedoch ohne statistische Signifikanz. Aufgrund mehrerer Berichte über mögliche Fälle von Selbstverletzung und Selbstmordgedanken unter GLP(Glucagon-like Peptide)-1-Agonisten begann der Pharmakovigilanzausschuss (PRAC) der EMA im Juli 2023 eine entsprechende Untersuchung. Diese wurde jedoch im April 2024 mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass kein kausaler Zusammenhang erkennbar sei und suizidales Verhalten daher nicht in die Produktinformationen von GLP-1-Rezeptoragonisten aufgenommen werden müsse. 

Vermehrte Suizidalität unter Semaglutid, nicht unter Liraglutid

Ein internationales Autorenteam hat nun Daten der weltweit größten Datenbank für Nebenwirkungsmeldungen (VigiBase, WHO) zu Semaglutid (Ozempic®, Wegovy®) und Liraglutid (Victoza®, Saxenda®) ausgewertet. Dabei wurden 107 Meldungen suizidalen Verhaltens (davon 59 Frauen) zu Semaglutid und 162 Meldungen (davon 100 Frauen) zu Liraglutid gefunden. Die Meldungen zu Liraglutid, das früher in die Therapie eingeführt wurde, stammen aus dem Zeitraum von November 2000 bis August 2023, die Meldungen zu Semaglutid stammen aus dem Zeitraum von Juli 2011 bis August 2023.

Eine Disproportionalitätsanalyse der Daten, in der die Häufigkeit der Nebenwirkung mit der Häufigkeit bei Einnahme anderer Wirkstoffe verglichen wurde, ergab ein vermehrtes Auftreten von Suizidalität nur unter Semaglutid, nicht aber unter Liraglutid (Reporting Odds Ratio [ROR]: 1,45, 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,18 bis 1,77 und Information Component [IC]: 0,53, 95%-KI: 0,19 bis 0,78 für Semaglutid, ROR: 1,04, 95%-KI: 0,87 bis 1,25 und IC: 0,06, 95%-KI: -0,25 bis 0,28 für Liraglutid).

Als suizidales Verhalten unter Semaglutid-Therapie wurden Suizidgedanken (94 Patienten), beabsichtigte Medikamentenüberdosierung (7 Patienten), Suizidversuche (7 Patienten) und erfolgreiche Suizide (7 Patienten) gewertet.

Kein suizidales Verhalten unter anderen Antidiabetika und Antiadiposita

Da Depression eine häufige Komorbidität von Typ-2-Diabetes und Adipositas ist, verglichen die Studienautoren die Rate suizidalen Verhaltens unter Semaglutid mit der Rate bei Patienten, die mit anderen Wirkstoffen therapiert wurden. Sowohl im Vergleich mit den Antidiabetika Dapagliflozin und Metformin als auch mit dem Antiadipositum Orlistat trat unter Semaglutid vermehrt suizidales Verhalten auf. Somit schließen die Autoren die Grunderkrankung als Ursache der erhöhten Suizidalität aus. 

Erhöhtes Suizidrisiko bei Komedikation mit Antidepressiva

Eine weitere Analyse der Daten ergab, dass Patienten, die als Komedikation zu Semaglutid ein Antidepressivum einnahmen, im Vergleich zu Patienten die Semaglutid ohne Komedikation erhielten, ein stark erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten  hatten. Wurden Patienten, die parallel zur Semaglutid-Therapie ein Antidepressivum einnehmen, aus der Auswertung ausgeschlossen, konnte dagegen keine Disproportionalität bezüglich suizidaler Handlungen mehr festgestellt werden. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass speziell für die Subgruppe der Patienten, die bei bestehender Depression Semaglutid verordnet bekommen, ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten besteht. Diabetiker oder Adipöse ohne psychische Komorbiditäten haben dagegen kein erhöhtes Risiko bei Semaglutid-Anwendung.

Autoren warnen vor Off-Label-Gebrauch

Für die Frage, warum dieser Zusammenhang in anderen Studien nicht gefunden wurde, führen die Autoren einige mögliche Erklärungen an. Zum einen wurden in den Zulassungsstudien Patienten mit schweren Depressionen in den vorangegangenen zwei Jahren, Suizidversuchen in der Vergangenheit sowie schweren psychiatrischen Erkrankungen ausgeschlossen, so dass keine Komedikation mit Antidepressiva erfolgte. Zum anderen wurde in den bisherigen Studien die Anwendung von Semaglutid in den zugelassenen Indikationen betrachtet. Die Nebenwirkungsmeldungen der WHO-Datenbank beziehen sich jedoch zu 31,8 % auf Off-Label-Nutzung (34 Patienten), und nur zu 26,2 % auf die Anwendung bei Adipositas (28 Patienten) sowie zu 24,3 % auf den Einsatz als Antidiabetikum (26 Patienten), sodass hier ein bisher nicht untersuchtes Patientenkollektiv einbezogen wird.

Gerade vor dem Hintergrund der Popularität der GLP-1-Agonisten fordern die Autoren, dass der Off-Label-Gebrauch von Semaglutid im Hinblick auf eine erhöhte Suizidalität weiter untersucht werden muss. Eine weitere Forderung ist die Aufnahme einer Warnung vor einem erhöhten Suizidrisiko bei psychischen Komorbiditäten in die Produktinformationen von Semaglutid.

Literatur: 

Schoretsanitis G et al. Disproportionality Analysis From World Health Organization Data on Semaglutide, Liraglutide, and Suicidality. JAMA Network Open 2024;7(8):e2423385, doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.23385


Dr. Sabine Werner, Apothekerin und Redakteurin
readktion@daz.online


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