Klonale Hämatopoese und Atherosklerose

Mutierte Leukozyten als kardiovaskulärer Risikofaktor

Stuttgart - 02.09.2024, 09:15 Uhr

Ein Arzt macht eine Ultraschalluntersuchung eines Gefäßes. Ob es wohl atherosklerosklerotische Plaques aufweist? (Foto: Graphicroyalty/AdobeStock)

Ein Arzt macht eine Ultraschalluntersuchung eines Gefäßes. Ob es wohl atherosklerosklerotische Plaques aufweist? (Foto: Graphicroyalty/AdobeStock)


Welche kardiovaskulären Risikofaktoren kennen Sie? Hypercholesterolämie, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes – und Mutationen in den Blutzellen. Letzteres noch nie gehört? Die klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial wurde bereits mit einem verkürzten Gesamtüberleben und kardiovaskulären Ereignissen assoziiert. Eine aktuelle spanische Studie bringt nun neue Evidenz dafür, dass klonale Hämatopoese bzw. daraus entstehende mutierte Leukozyten Atherosklerose mitbedingen können. Was ist klonale Hämatopoese eigentlich? 

Klonale Hämatopoese tritt im Laufe des Alterungsprozesses bei Menschen auf, die bestimmte Veränderungen auf Genen tragen, wie z.B. im DNMT3A- und TET2-Gen. Dabei mutieren einzelne oder mehreren Blutstamm- oder Blutvorläuferzellen. Die daraus entstehenden Leukozyten werden als Blutzell-Klon bezeichnet. Auch bereits reife Leukozyten können mutieren. Sobald die Blutzell-Klone groß genug werden und mindestens vier von 100 Blutzellen zu einem Klon gehören, spricht man von CHIP (clonal hematopoiesis of indeterminate potential).

Von Blutzell-Klonen und Entzündungen

Jede zehnte Person über 60 Jahren hat CHIP-Mutationen, die Häufigkeit steigt mit dem Alter. Bei Menschen mit koronarer Herzkrankheit ist jeder Dritte betroffen. Auch Jüngere können kleinere Blutzell-Klone entwickeln. Es wird davon ausgegangen, dass CHIP-Klone Entzündungsreaktionen auslösen können, die zu kardiovaskulären Ereignissen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt führen können. Außerdem erhöhen CHIP-Mutationen das Risiko, Leukämie oder Lymphome zu entwickeln [1]. 

Auf der Webseite des Deutschen CHIP-Registers e.V. heißt es, dass CHIP das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse verdoppele. Insbesondere bei Personen unter 65 Jahren sei das Herzinfarktrisiko um ein Vielfaches erhöht. Werden die CHIP-typischen genetischen Variationen in Leukozyten gefunden, sollte das Blutbild engmaschig überwacht und andere kardiovaskuläre Risiken, wie Bewegungsmangel, Übergewicht oder Rauchen, minimiert werden [2]. 

Unidirektionaler Zusammenhang zwischen CHIP und Atherosklerose

In der aktuellen spanischen longitudinalen Kohortenstudie wurden CHIP-Klone mittels DNA-Sequenzierung von Blutproben detektiert und Atherosklerose durch Ultraschalluntersuchung der Oberschenkelarterie. Die Studie wurde im Fachjournal Nature Medicine veröffentlicht. Der Studienzeitraum belief sich auf sechs Jahre. Es nahmen 3692 gesunde Personen teil. Zu Beginn waren die Teilnehmenden 40 bis 55 Jahre alt.

Die Ergebnisse: CHIP erhöhte das Risiko um den Faktor 2,1, in drei Jahren eine Atherosklerose in der Oberschenkelarterie zu entwickeln. Umgekehrt konnte bei bereits bestehender Atherosklerose keine Zunahme der Blutzell-Klone festgestellt werden. Daraus leiten die Forschenden ab, dass CHIP unidirektional Atherosklerose begünstigt. Zuvor gab es die Annahme eines wechselseitigen Zusammenspiels zwischen Gefäßschäden und CHIP. 

Außerdem sei die CHIP-Prävalenz im mittleren Alter mit 6 % dreimal höher als bisher angenommen. Durch die tiefe genomweite Sequenzierung konnte bei 25 % der Teilnehmenden mindestens eine Mutation entdeckt werden, die mit CHIP assoziiert wird. Somatische Mutationen im DNMT3A-Gen und TET2-Gen waren hierbei am häufigsten. Frauen hatten altersunabhängig ein 64 % höheres Risiko eine DNMT3A-Genmutation zu tragen als Männer. Ansonsten gibt die Forschungsgruppe keine geschlechtsspezifischen Unterschiede an.

Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass CHIP ein unabhängiger Risikofaktor für Atherosklerose und damit verbundene Erkrankungen ist [5]. 

Prävention bei CHIP-Mutation

Die „klassischen“ Risikofaktoren für Atherosklerose machen ungefähr 50 % der Fälle aus, meint Prof. Dr. Stefanie Dimmeler, Direktorin am Institut für kardiovaskuläre Regeneration der Johann-Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhter nicht-HDL-Cholesterolspiegel, Rauchen und Diabetes erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines kardiovaskulären Ereignisses und die Gesamtmortalität insgesamt [1]. CHIP könnte einer der bisher unbekannten zusätzlichen „unmodifizierbaren“ Risikofaktoren sein und in der Prävention eine bedeutende Rolle spielen.

Gezielte Präventionsstrategien, die die mutierten Leukozyten angehen, könnten das Risiko, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden, bei Muationsträgern senken. Bisherige Leitlinien geben jedoch keine Empfehlung zum Screening oder zur Therapie der CHIP. Dr. Moritz von Scheidt, Facharzt für Kardiologie und Leiter der Spezialsprechstunde Klonale Hämatopoese des Deutschen Herzzentrum München, fasst das Präventionspotenzial so zusammen: „Die frühzeitige Erkennung [von Blutzell-Klonen] könnte es ermöglichen, gezielte Präventionsstrategien zu entwickeln und zu implementieren, bevor kardiovaskuläre Ereignisse auftreten. Praktisch umsetzbar wäre ein Screening in risikobehafteten Bevölkerungsgruppen, insbesondere bei älteren Patienten oder solchen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen (zum Beispiel bei Patienten ab 50 Jahren mit nachgewiesener Atherosklerose oder bei Patienten ab 60 Jahren bei Vorliegen von zwei kardiovaskulären Risikofaktoren).“ 

Bereits bald ein Arzneimittel bei CHIP?

Der Interleukin-1-beta-Antikörper Canakinumab zielt auf den NLRP3-Inflammasom vermittelten Signalweg ab und wirkt daher anti-inflammativ. In einer multizentrischen Studie mit 338 Herzinfarkt-Patienten, die einmal täglich für drei Monate Canakinumab erhielten, hatten Teilnehmende mit CHIP weniger schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse als Patienten ohne CHIP. Insbesondere Teilnehmende mit TET2-Mutation und CHIP profitierten von dem Wirkstoff, verglichen mit Patienten ohne CHIP [3]. 

Das Alkaloid Colchicin wird zwar immer wieder bei CHIP diskutiert, randomisierte Studien fehlen jedoch. In Studien konnte der Wirkstoff unabhängig vom CHIP-Satus das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse reduzieren. [4]  

Literatur

[1] The Global Cardiovascular Risk Consortium. Global Effect of Modifiable Risk Factors on Cardiovascular Disease and Mortality . NEJM 2023, Global Effect of Modifiable Risk Factors on Cardiovascular Disease and Mortality | New England Journal of Medicine (nejm.org

[2] Was ist CHIP? Deutsches CHIP-Register e.V. 2023, Was ist CHIP? - German Chip Register - Deutsches CHIP Register (chip-register.de)

[3] Svensson EC et al. TET2-driven clonal hematopoiesis and response to canakinumab. JAMA 2022, TET2-Driven Clonal Hematopoiesis and Response to Canakinumab: An Exploratory Analysis of the CANTOS Randomized Clinical Trial | Genetics and Genomics | JAMA Cardiology | JAMA Network

[4] Tardif J et al. Efficacy and Safety of Low-Dose Colchicine after Myocardial Infarction. The New England Journal of Medicine 2019, doi: 10.1056/NEJMoa19123

[5] Diez-Diez M et al. Unidirectional association of clonal hematopoiesis with atherosclerosis development. Nature Medicine 2024, Unidirectional association of clonal hematopoiesis with atherosclerosis development | Nature Medicine


Juliane Russ, M.Sc., DAZ-Redakteurin
jruss@dav-medien.de


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