Barrierefrei kommunizieren

Wie Apotheken zur Inklusion von Hörbeeinträchtigten beitragen können

05.12.2024, 09:14 Uhr

Die Apotheke und die Arzneimittelberatung sollten so gestaltet sein, dass sie für alle ohne fremde Hilfe zugänglich sind. (Foto: Jörg Lantelme/AdobeStock)

Die Apotheke und die Arzneimittelberatung sollten so gestaltet sein, dass sie für alle ohne fremde Hilfe zugänglich sind. (Foto: Jörg Lantelme/AdobeStock)


Dass Kunden in der Apotheke ausreichend über die Anwendung von Arzneimitteln beraten werden müssen, steht außer Frage. Was aber, wenn das Gegenüber schwerhörig oder sogar gehörlos ist? Wir zeigen verschiedene Möglichkeiten, die auch hörbeeinträchtigten Menschen eine barrierefreie Kommunikation in der Apotheke ermöglichen.

Schätzungen zufolge ist in Deutschland etwa jede fünfte Person über 14 Jahren hörbeeinträchtigt [1]. 80.000 Menschen sind laut dem deutschen Gehörlosen Bund hierzulande komplett gehörlos [2]. Die Schwerhörigkeit wird anhand des Hörverlustes in fünf Stadien unterteilt, wobei die Hörfähigkeit durch die Tonhöhe (Frequenz in Hertz) und Lautstärke (in Dezibel) bestimmt wird (s. Abb.1)

Abb. 1: Die Hörfähigkeit wird durch die Tonhöhe (Frequenz in Hertz) und Lautstärke (in Dezibel) bestimmt. Die Buchstaben stellen die Konsonanten dar, die für das Verstehen der gesprochenen Sprache verantwortlich sind [4].
  • Normalhörigkeit: Der Hörverlust liegt bis zu 20 dB unterhalb der normalen Hörschwelle.
  • geringgradige Schwerhörigkeit: Hörverlust zwischen 25 und 40 dB. Leise Geräusche, wie das Ticken einer Uhr, werden nicht mehr wahrgenommen.
  • mittelgradige Schwerhörigkeit: Hörverlust zwischen 40 und 60 dB. Die betroffene Person hört erst Geräusche ab einer Lautstärke, die mit normalem Umgebungsgeräuschpegel vergleichbar ist.
  • hochgradige Schwerhörigkeit: Hörverlust ab 60 dB. ­Normale Gespräche können nicht mehr ohne Hilfsmittel verstanden werden.
  • an Gehörlosigkeit grenzende Schwerhörigkeit: Hörverlust über 80 dB. Geräusche wie laute Musik oder Verkehrslärm werden kaum noch wahrgenommen. In extremen Fällen führt dies zur vollständigen Taubheit [3].

Formen von Hörbeeinträchtigung und wie man damit umgeht

Die Spätertaubung tritt erst nach dem Erwerb der Lautsprache, z. B. nach einer Krankheit oder Verletzung, auf. Menschen mit Spätertaubung haben in der Regel zuvor normal gehört und können sich meist gut in der gesprochenen Sprache ausdrücken.

Dagegen haben gehörlose Menschen entweder von Geburt an oder seit einem frühen Zeitpunkt kein Gehör. Sie können die Lautsprache also nicht durch Hören lernen. Deshalb kommuniziert man mit gehörlosen Menschen am besten in Gebärdensprache und mit Gebärdensprachdolmetscher sowie durch deutliches und zugewandtes Sprechen, Aufschreiben oder Sprach-Apps.

Die Schwerhörigkeit umfasst verschiedene Ausprägungsformen (s. Abb. 2). Schwerhörige Menschen können, abhängig vom Grad der Schwerhörigkeit, Geräusche und Sprache eingeschränkt wahrnehmen und nutzen oft Hörgeräte oder andere Hilfsmittel zur Verbesserung der Hörwahrnehmung. Für die Kommunikation eignen sich deutliches und zugewandtes Sprechen, Schriftdolmetschunterstützung, technische Hilfsmittel oder Sprachapps [4].

Abb. 2: Verschiedene Formen der Schwerhörigkeit und die grafische Darstellung, wie sie von den Betroffenen empfunden werden. Bei einem reinen Intensitätsverlust (A) hören die Betroffenen sehr leise. Der Intensitätsverlust kann sehr einfach mit einem Hörgerät behoben werden. Menschen mit Dynamikverlust (B) hingegen sind trotz leiserem und undeutlicherem Hören extrem empfindlich gegen Lautstärke. Hörgeräte helfen ihnen zwar, aber sie empfinden den Lärm oft als unerträglich laut. Beim Frequenzverlust (C) können Betroffene bestimmte Tonhöhen – wie Konsonanten, die in höheren Frequenzbereichen liegen – nicht wahrnehmen, wodurch die Sprache unvollständig klingt. Bei einem Phasenverlust (D) hören Betroffene zwar das gesagte Wort, benötigen aber mehr Zeit, um das Gehörte gedanklich zu verarbeiten [4].

Allgemeine Tipps für die Beratung

Häufig greifen hörbeeinträchtigte Personen auf Lippenlesen zurück, um das Gesagte zu verstehen. Das ist jedoch sehr anstrengend und führt oft zu Missverständnissen, da nur etwa 30 % des Gesprochenen selbst unter besten Bedingungen von den Lippen abgelesen werden können – die restlichen 70 % müssen erraten werden [2]. Generell gilt beim Sprechen mit hörbeeinträchtigten Menschen:

  • Sehen Sie Ihr Gegenüber beim Sprechen an, Ihr Mund sollte nicht verdeckt sein.
  • Sprechen Sie langsam und deutlich – (Achtung: Lautes Sprechen verzerrt die Gesichtszüge und erschwert das Ablesen der Lippen).
  • Benutzen Sie kurze, klare Sätze und sprechen Sie keinen Dialekt.
  • Unterstreichen Sie das Gesagte mit einer deutlichen ­Mimik und Gestik sowie natürlichen Gebärden (z. B. für „essen“ oder „schlafen“).
  • Schreiben Sie wichtige Stichworte auf [2].

Die Kommunikation mit komplett gehörlosen Menschen in der Apotheke stellt eine Herausforderung dar. Gebärdensprache ist hierbei eine wertvolle Möglichkeit, die jedoch nicht jeder beherrscht. Schnelle Hilfe bieten hier vor allem Apps und Dienste mit Dolmetscherlösungen (s. u.). Wer die Gebärdensprache selbst erlernen möchte, kann Bücher und Videos unterstützend einsetzen. Da neben Handzeichen aber auch Mimik und Körperhaltung des Gegenübers abgelesen und interpretiert werden müssen, empfiehlt der Deutsche Gehörlosen Bund, die Gebärdensprache immer in Kontakt mit einem Gehörlosen zu lernen. Entsprechende Kurse werden von vielen Volkshochschulen und Gehörlosenvereinen angeboten.

Moderne Technik ermöglicht sogar Telefonate

In Zeiten der Digitalisierung können Apotheken aber auch moderne Hilfsmittel nutzen, um die Kommunikation mit gehörlosen und hörbeeinträchtigten Menschen zu verbessern. So bieten etliche Apps Funktionen wie Echtzeit-Übersetzungen in Gebärdensprache oder schriftliche Kommunikation, die es Apothekenmitarbeitern ermöglichen, Fragen zur Medikation, Dosierung oder zu Gesundheitsthemen zu beantworten. Beispiele für geeignete Apps in der Beratung sind:

  • AVA: eine Echtzeit-Untertitelungs-App, die gesprochene Sprache in Text umwandelt. Gehörlose oder schwerhörige Personen können direkt am Gespräch teilnehmen, indem sie den Text auf ihrem Smartphone lesen [7].
  • VerbaVoice: ermöglicht die ortsunabhängige Zuschaltung von Gebärdensprach- und Schriftsprachdolmetschern in Echtzeit [8].
  • RogerVoice: macht Telefongespräche für hörbeeinträchtigte Personen zugänglich, indem sie das Gesagte in Text ­umwandelt [9].

Was machen andere Apotheken?

Eine Vorreiterposition in der Beratung von Gehörlosen nimmt die Marien Apotheke in Wien ein. Dort arbeitet Magister Sreco Dolanc als Apotheker, der selbst gehörlos ist. Neben der Kundenberatung mittels Gebärden stellt er seit über zehn Jahren auf Youtube sowie der Apotheken-Website mit Gebärden- und Lautsprache versehene Videos zu verschiedenen Gesundheitsthemen barrierefrei zur Verfügung. Das Problem: Für viele pharmazeutische Begriffe gibt es keine Gebärde. Deshalb steht Sreco Dolanc im ständigen Austausch mit Linguisten, Gebärdensprach-Dolmetschern und gehörlosen Fachexperten des Gestu(Gehörlos Erfolgreich Studieren)-Projekts an der TU-Wien. Zusammen haben sie bereits über 100 neue Gebärden für den pharmazeutischen Kontext entwickelt. Auf diese Weise sind auch die Gebärden für das Heilkräuter-Daumenkino entstanden. Ein Herzensprojekt von Dolanc ist das Kinderbuch „Krankheit, Unfall, Notfall: Anna und Paul wissen, was zu tun ist”, welches er zusammen mit der gehörlosen Verlegerin Lydia Tenkart sowie der ebenfalls gehörlosen Illustratorin Barbara Schust herausgebracht hat. Das Buch thematisiert die Angst vor dem Arztbesuch sowie das korrekte Vorgehen in Notfallsituationen. Es richtet sich an gehörlose und hörende Kinder im Alter zwischen drei und zehn Jahren und enthält neben Bild und Text auch Gebärden [10].

Auch die Gebärdensprache kennt Dialekte

Lange Zeit verpönt, ist die Gebärdensprache erst seit 2002 als vollwertige Sprache in Deutschland anerkannt. Sie verfügt über andere Regeln als die gesprochene Sprache. Während die Grammatik hierzulande überall die gleiche ist, variieren die Gebärden und die Gestik regional. So führen beispielsweise die Bayern Zeige- und Mittelfinger ans Ohr, um eine Wurst zu beschreiben, die Norddeutschen hingegen mittels eines leichten wurstförmigen Bogens vor der Brust. So kann es passieren, dass sich ein gehörloser Hamburger wundert, warum ihm ein Münchner einen Frisörbesuch nahelegt, obwohl dieser ihm lediglich ein Würstchen anbieten wollte. Auch international unterscheiden sich die Gebärden, da sie sich genau wie die Lautsprachen durch verschiedene Einflüsse im Laufe der Zeit entwickeln. Um sich dennoch verständigen zu können, greifen Gehörlose dann oft auf die sogenannten „International Signs“ zurück. Die Kommunikation über „International Signs“ basiert größtenteils auf Wiederholungen, der Übernahme von Gebärden aus verschiedenen Ländern sowie dem Umschreiben von Zeichen und Inhalten. Dadurch funktioniert die Verständigung zwar, benötigt jedoch mehr Zeit. Bei internationalen Kongressen verständigen sich die Teilnehmenden daher meist mithilfe von Dolmetschern [5, 6].

Induktive Höranlage für Hörgeräteträger

Aber auch Menschen, die nicht komplett taub sind und nur ein vermindertes Hörvermögen aufweisen, kann die Apotheke unterstützen. Damit die Beratungsgespräche vertraulich bleiben, kann beispielsweise eine induktive Höranlage genutzt werden. Induktive Höranlagen wurden ursprünglich dafür entwickelt, schwerhörigen Personen Veranstaltungen mit Reden und Musik zugänglich zu machen. In der Apotheke kann die Technik dazu genutzt werden, um störende Hintergrundgeräusche auszuschalten und so das gesprochene Wort für Hörgeräteträger besser verständlich zu machen. Dazu werden die Tonsignale in analoge elektrische Ströme umgewandelt, die über eine im Raum ausgelegte Induktionsschleife ausgesendet werden. Hörgerät- und Cochlea-Implantate verfügen über eine integrierte T-Spule, die – gegebenenfalls vom Hörakustiker – mittels Kippschalter oder Taste aktiviert werden kann. Diese kann Signale empfangen und wiedergeben [11]. Räume, in denen induktive Höranlagen verbaut sind, zeigen dies mit einem speziellen Logo, auf dem ein Ohr in Verbindung mit dem Buchstaben T zu erkennen ist.

Was Pharmaunternehmen für Gehörlose tun

Auch pharmazeutische Hersteller sind nicht untätig, was die Inklusion von gehörlosen Menschen angeht. So stellen verschiedene Firmen den Apotheken visuelle Informationsmaterialien für die Beratung zur Verfügung. Als erstes Pharmaunternehmen hat Boehringer Ingelheim 2021 eine innovative Lösung für gehörlose Menschen getestet, um den Zugang zu wichtigen Arzneimittelinformationen zu erleichtern und den „Gebärdensprach-Avatar“ für Beipackzettel eingeführt. Dieser Avatar sollte Informationen zur Anwendung und Handhabung von Arzneimitteln in Gebärdensprache übersetzen. Nutzer konnten über einen QR-Code auf der Packungsbeilage zu einer Website gelangen, auf der animierte Videos mit den entsprechenden Erklärungen bereitgestellt werden. Diese Videos sollten komplizierte medizinische Begriffe verständlich machen. Auch ein Lexikon für spezifische Fachbegriffe war zu finden [12].

Literatur

 [1] Statistiken. Informationen des Deutschen Schwerhörigenbunds e. V., www.schwerhoerigen-netz.de/statistiken/?L=0, Abruf am 23. Oktober 2024

 [2] Ratgeber Gehörlosigkeit. Informationen des Deutschen Gehörlosenbunds. https://dglb.de/service/ratgeber-gehoerlosigkeit/, Abruf am 23. Oktober 2024

 [3] Stadien der Schwerhörigkeit. Informationen der HNO-Ärzte im Netz, www.hno-aerzte-im-netz.de/krankheiten/schwerhoerigkeit/stadien-der-schwerhoerigkeit.html

 [4] Leitfaden für eine gelingende Kommunikation zwischen Pflegekraft und hörbeeinträchtigten Patienten/Bewohnern. Informationsbroschüre des Deutschen Schwerhörigenbund e. V. (DSB), www.schwerhoerigen-netz.de/fileadmin/user_upload/dsb/Dokumente/Information/Service/Ratgeber/DSB_Kommunikationsleitfaden_Pflege.pdf.pdf, Stand: September 2022

 [5] Frick D. Dialekte in der deutschen Gebärdensprache: Haarschneiden oder Wurst essen? Informationen der Tagesschau, www.tagesschau.de/inland/meldung-ts-1844.html, Stand: September 2007

 [6] Gebärdensprache. Informationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden e. V., https://bundesarbeitsgemeinschaft-taubblinden.de/infothek/gebardensprache/

 [7] Beschriftungen für alle. Informationen von ava, https://de.ava.me/

 [8] VerbaVoice macht Sprache sichtbar! Informationen der VerbaVoice GmbH, www.verbavoice.de/

 [9] Rogervoice, Informationen der Rogervoice SAS, https://rogervoice.com/

[10] Gehörlos in Österreich. Informationen der Marienapotheke in Wien, www.marienapo.eu/gehoerlos/

[11] Was sind induktive Höranlagen? Informationen der audibene GmbH, www.audibene.de/hoergeraete/induktionsspule/?srsltid=AfmBOoqxo76noZpK-X3G7q59vXReHuIncJXD5MimXn-IXEzy261NNmjw, Abruf am 23. Oktober 2024

[12] Sprecher N. Boehringer testet Beipackzettel mit „Gebärdensprach-Avatar“. DAZ.online vom 3. Dezember 2021, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/12/03/boehringer-testet-beipackzettel-mit-gebaerdensprach-avatar


Marina Buchheit-Gusmão, Apothekerin
redaktion@daz.online


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