Stammzellen und Remyelinisierung

Ging es 2024 in der MS-Forschung voran?

Stuttgart - 30.12.2024, 09:15 Uhr

CAR-T-Zellen, BTKI und Stammzellen: Was ist bei MS passiert? (Foto: New Africa / AdobeStock)

CAR-T-Zellen, BTKI und Stammzellen: Was ist bei MS passiert? (Foto: New Africa / AdobeStock)


Lohnt sich ein Weizenverzicht für Menschen mit MS? Und schafft PIPE-307 endlich eine gute Remyelinisierung? Was ist 2024 bei Multipler Sklerose passiert?

Frustrierend in der Behandlung von multipler Sklerose (MS) blieb auch 2024: Die neurodegenerative Erkrankung ist nach wie vor nicht heilbar. Erkenntnisse wurden dennoch gewonnen – zum Absetzen hocheffektiver Immuntherapien, ob ein Weizenverzicht für Menschen mit MS sinnvoll ist, wie wirksam und sicher eine Stammzellbehandlung ist und dazu, welcher Wirkstoff Schübe derzeit am effektivsten reduziert. Auch die Hoffnung auf einen remyelinisierenden Wirkstoff konnten Wissenschaftler schüren.

Stammzellbehandlung erfolgreich

Derzeit wird die autologe Stammzelltransplantation (aHSCT) in der Behandlung der multiplen Sklerose laut S2k-Leitlinie nur im Rahmen von Studien vorgesehen. Eine schwedische MS-Register-basierte Kohortenstudie zeigte bei 174 Menschen mit MS deren Sicherheit und Wirksamkeit bei Patienten mit hochaktiver multipler Sklerose. Im Median waren sie 3,4 Jahre an MS erkrankt und hatten zwei krankheitsmodifizierende Therapien, 23 Patienten waren therapienaiv. Das Ergebnis: 73% der mit einer aHSCT behandelten MS-Patienten zeigten nach fünf Jahren und 65% nach zehn Jahren keine Krankheitsaktivität. Ihre Schubrate sank von jährlich 1,7 auf 0,035 – das entspricht einem Schub in etwa 30 Jahren. Das Resümee der Studienautoren: „Dieses Verfahren sollte als Standardbehandlung für Patienten mit hochaktiver RRMS überlegt werden“.

Bremst Natalizumab die Behinderung am besten?

Einer in diesem Jahr aktualisierten Cochrane-Metaanalyse zufolge verringern Natalizumab (z. B. Tysabri), Cladribin (z. B. Mavenclad) und Alemtuzumab (Lemtrada) bei Menschen mit schubförmig remittierender multipler Sklerose (RRMS) die Häufigkeit von Schüben nach einer zweijährigen Behandlung am wirksamsten, Natalizumab konnte zudem nach zweijähriger Gabe das Fortschreiten der Behinderung „stark“ verlangsamen. Allerdings berücksichtigten die Cochrane-Autoren keine neueren Therapien, wie B-Zell-depletierende Antikörper. Sie sind erst seit kurzem in der EU zugelassen: Ocrelizumab (Ocrevus) seit 2018, Ofatumumab (Kesimpta) seit 2021 und Ublituximab (Briumvi) seit 2023 (DAZ 11, S. 32).

Einmal MS-Arzneimittel, immer MS-Arzneimittel?

Wie sieht es aus mit dem Absetzen hocheffektiver Immuntherapien? Mit zunehmendem Alter sinkt die Erkrankungsaktivität von Patientinnen und Patienten mit multipler Sklerose, sodass sie – wenn sie jahrelang schubfrei gewesen sind – Fingolimod, Natalizumab, Rituximab und Ocrelizumab möglicherweise gern absetzen würden. Nach Wirkstoffen unterschieden, hatten Natalizumab-Patienten in einer 2024 veröffentlichten Studie nach Absetzen jedoch ein 7,2-mal und signifikant höheres Risiko für einen Schub als MS-Patienten, die weiterhin Natalizumab erhielten. Das Absetzen von Fingolimod erhöhte das Schubrisiko ebenfalls signifikant, jedoch lediglich 4,5-mal. Kein signifikant höheres Risiko für einen Schub, verglichen mit ihrer Kontrollgruppe, hatten MS-Patienten, die ihre Anti-CD20-Therapie beendet hatten. Die Studienautoren sagen, dass es für die „beste therapeutische Strategie“ weiterer Studien bedürfe – z. B. um herauszufinden, ob eine Deeskalation auf weniger wirk­same MS-Arzneimittel sinnvoll sein könnte oder ein Umstellen auf CD20-Antikörper wie Ocrelizumab und Rituximab, da Letztere das Schub­risiko nach Absetzen nicht erhöht hätten.

Weizenverzicht: Einen Versuch wert?

Eine „MS-Diät“ gibt es nicht. Mittlerweile weiß man jedoch, dass das Mikrobiom eine Rolle bei multipler Sklerose spielt und kurzkettige Fettsäuren wie Propionsäure die Schubrate bei Menschen mit schubförmiger MS reduzieren können. Was bringt ein Weizenverzicht – kann dadurch die Entzündung gebremst werden und welche Rolle spielen Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI)? Aus Mausmodellen ist bereits bekannt, dass eine ATI-reiche Kost, welche unserer westlichen Ernährung entspricht, Nager deutlich schwerer an experimenteller Autoimmunenzephalitis – dem Mausmodell für MS – erkranken lässt. Daten zu ATI gibt es seit 2024 auch von Menschen mit MS, die sich zunächst drei Monate weizenreich, dann drei Monate weizenreduziert ernährt hatten oder umgekehrt (Cross-over-Studie). Allerdings verpasste die Studie ihren primären Endpunkt (Abnahme der proinflammatorischen T-Zellen im Blut). Zumindest berichteten die Patienten über signifikant weniger Schmerzen – einen Versuch könnte ein Weizenverzicht also Wert sein.

PIPE-307 in der Pipeline bei MS

Worauf viele Menschen mit MS hoffen, ist endlich eine Chance zur Remyelinisierung. Ein neuer remyelinisierender Wirkstoffkandidat ist PIPE-307. Er soll Myelinscheiden im Zentralnervensystem wieder aufbauen, die bei der neurodegenerativen Erkrankung verloren gehen. PIPE-307 ist ein oral verfügbarer, ZNS-gängiger Muskarinrezeptor-Antagonist, der selektiv den M1-Rezeptor blockiert (M1-Rezeptor-Agonisten hemmen die Oligodendrozytendifferenzierung, ein Antagonist könnte sie also fördern). In Mäusen mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis war PIPE-307 bereits erfolgreich, und der M-Rezeptorblocker bremste die Behinderungsprogression stärker als in der Kontrollgruppe. Sollte PIPE-307 weiter „performen“ und der Wirkstoff es vielleicht irgendwann zur Zulassung schaffen – eine Phase-II-Studie läuft bereits –, sehen die Studienautoren den Wirkstoff nicht als alleinige Therapie für Menschen mit multipler Sklerose. Vielmehr gehen sie von einer Kombination des zentralen M1-Rezeptorblockers mit Immunmodulatoren aus. Denn es bleibe essenziell, weitere Schübe und neue demyelinisierende Ereignisse durch krankheitsmodifizierende Arzneimittel zu verhindern, während gleichzeitig bereits demyelinisierte Bereiche sich durch PIPE-307 er­holen könnten.

BTKI und CAR-T-Zellen

Großes Potenzial versprechen sich Neurologen zudem von Bruton-Tyrosinkinase­inhibitoren (BTKI). Als „kleine Moleküle“ (small molecules) schaffen sie, was Antikörpern nicht gelingt – sie kommen ins Zentralnervensystem und sollen dort B-Zellen, denen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese bei MS zugeschrieben wird, hemmen und andere Immunzellen, wie die Mikroglia, modifizieren. Evobrutinib von Merck verfehlte allerdings bereits 2023 den primären Endpunkt und reduzierte die jährliche Schubrate nicht besser als Teriflunomid. Sanofi untersucht derzeit Tolebrutinib, Roches Kandidat heißt Fenebrutinib. Tolebrutinib überzeugte in diesem Jahr in Phase-III-Studien bislang auch nur bei sekundär progredienter MS und erreichte bei Patienten mit schubförmiger MS den primären Endpunkt nicht. Die Ergebnisse aus Phase-III-Studien an Menschen mit primär progredienter MS stehen noch aus.

Nachdem Wissenschaftler CAR-T-Zellen zunehmend auch bei Autoimmunerkrankungen prüfen, rücken sie auch bei MS in den Fokus. Auch in Deutschland erhielten in diesem Jahr im Rahmen von individuellen Heilversuchen Menschen mit MS eine CAR-T-Zelltherapie, die FDA hat 2024 in den USA eine Phase-I-Studie genehmigt.


Celine Bichay, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Kommentar abgeben

 

Ich akzeptiere die allgemeinen Verhaltensregeln (Netiquette).

Ich möchte über Antworten auf diesen Kommentar per E-Mail benachrichtigt werden.

Sie müssen alle Felder ausfüllen und die allgemeinen Verhaltensregeln akzeptieren, um fortfahren zu können.