Ausschreibepraxis der Krankenkassen

Die Sicherheitslücken bei der ambulanten Zytostatikaversorgung

01.03.2017, 16:05 Uhr - Ein Blog-Beitrag von DAZ.online-Mitglied Dr. Franz Stadler

Darf nicht sein: Niemand kontrolliert den weiteren Weg der hergestellten Infusionsbeutel. (Foto: benicoma / Fotolia)

Darf nicht sein: Niemand kontrolliert den weiteren Weg der hergestellten Infusionsbeutel. (Foto: benicoma / Fotolia)


Immer wieder versuchen Krankenkassen ihre Ausschreibungen als eine Verbesserung der Zytostatikaversorgung zu verkaufen. Der jüngste Fall ist ein Schreiben an die Gesundheitspolitiker der Regierungsfraktionen mit dem Ziel, die Abschaffung des Ausschreibungsverbotes im geplanten AM-VSG zu bewirken. Immer wieder wird die Diskussion auf die möglichen Einsparpotentiale verkürzt, meint Dr. Franz Stadler 

Dabei gibt es eklatante Sicherheitslücken im Versorgungssystem, die durch eine Fortführung der Ausschreibepraxis nur verstärkt werden würden, während Einsparungen auch auf anderen Wegen zu erzielen wären. Eigentlich müsste im Interesse der Patienten endlich alles dafür getan werden, die wohnortnahe Versorgung wirklich zu stärken Im Allgemeinen wird das Augenmerk, geht es um die Sicherheit bei der Herstellung applikationsfertiger Zytostatikainfusionen, auf die Mikrobiologie gerichtet. Deren penible Einhaltung wird zu Recht gefordert und überwacht. Aber was passiert in der Zeit zwischen Herstellung und Anwendung? Plötzlich ändert sich das Anforderungsprofil und das Patienteninteresse spielt kaum mehr eine Rolle.

Die Arzneimittelsicherheit ist ein hohes Gut. Das AMG gibt ein beredtes Zeugnis davon. Jeder, ob gerade oder künftiger Patient, möchte die bestmögliche Behandlung und die besten verfügbaren Arzneimittel. Das gilt natürlich auch für Zytostatikainfusionen. In den letzten Jahren wurde viel dafür getan, den Prozess der Zubereitungen zu optimieren. So wurde eine neue Apothekenbetriebsordnung in Kraft gesetzt, die sich stark an den industriellen GMP-Richtlinien orientiert. Es wurden Reinraumlabore gebaut und der Personen- und Produktschutz erhöht. Inzwischen kann man sagen, dass der Prozess der Zubereitung mehr als ausreichend geregelt ist und zudem gut kontrolliert wird – mit einer Ausnahme: dem laxen Umgang mit den Haltbarkeiten der hergestellten Produkte, die in vielen Fällen ziemlich willkürlich gesetzt werden, und sich dann, wie selbstverständlich, auf den Etiketten wiederfinden.

Die „Strohapotheke“ rechnet die Zytostatikainfusion ab

Und hier beginnt die Kette der Sicherheitslücken: Niemand kontrolliert den weiteren Weg der hergestellten Infusionsbeutel. Wie lange werden Sie aufbewahrt? Ist das angegebene Haltbarkeitsdatum überhaupt möglich, ist es valide? Wie lange, über welche Wege und wie oft werden die Beutel transportiert? Sind die zum Teil sehr empfindlichen Wirkstoffe nach dem Transport überhaupt noch (voll) wirksam? Was geschieht mit den zu früh hergestellten (nicht freigegebenen), aber nicht benötigten Infusionen? In dem gesamten Bereich zwischen Herstellung und Anwendung wird der Umgang mit den applikationsfertigen Infusionsbeuteln den wirtschaftlichen Zwängen der Beteiligten überlassen – mit unabsehbaren Folgen für die Qualität der Behandlung und damit für den Patienten.

So hat sich über die Jahre eine neue Spezies von Apotheken entwickelt, die „Strohapotheke“, die zwar Zytostatikainfusionen abrechnet, aber diese selbst, mangels eines Reinraumlabores, nicht selbst herstellen kann. So haben im Januar 2017 von 135 abrechnenden Apotheken 79 oder fast 60% angegeben nicht selbst herzustellen. Tendenz (trotz der laufenden Ausschreibungen) steigend (Datenquelle: VSA München).

Die Krankenkassen ihrerseits behaupten nun, dass durch ihre Ausschreibungen die Versorgungsqualität wieder steigen würde und näher an die Praxen und damit Patienten rücken würde. Diese Behauptungen dienen aber meist nur einem einzigen Ziel, nämlich unter allen Umständen Einsparungen zu erzielen. Das ist auch das allein entscheidende Vergabekriterium der Ausschreibungen. So sollen nicht vorhersehbare Verwürfe in den Preis miteinkalkuliert werden, was bei Einhaltung der pharmazeutischen Rahmenbedingungen nicht möglich ist. Zudem werden die zwar geforderten und oft leichtfertig unterschriebenen Eigenerklärungen zur Qualität und zu den Transportwegen in der Realität kaum überprüft.

Viele Fälle werden geschönt dargestellt. So werden beispielsweise nur die abrechnenden Apotheken, die eigentlichen Losgewinner, und die zu versorgenden onkologischen Praxen veröffentlicht, nicht jedoch die oft federführenden Subunternehmer, die eigentlichen Hersteller der Infusionen.  Selbst bei der Interpretation der Lieferwege wird mal mehr mal weniger geschummelt.

Dabei sind Haltbarkeiten und Lieferwege von enormer Bedeutung für die Wirkung der Infusionen. Gerade die empfindlichen Antikörper können durch die mechanische Belastung auf langen Transportwegen möglicherweise erhebliche Wirkverluste erleiden. Niemand hat das jemals genau untersucht, es gibt aber hinreichende Verdachtsmomente, dass es so ist.

Ebenso leichtfertig ist der Umgang mit den Haltbarkeiten. Sie über die Angaben des Herstellers, der allein sein Produkt detailliert kennt und dafür auch haften kann, hinaus zu verlängern, erscheint in vielen Fällen grob fahrlässig, besonders da der Patient (und meist auch der Onkologe) nicht über dieses Vorgehen informiert wird. Begründet wird dieses Vorgehen oft mit juristischen Spitzfindigkeiten, deren handfester Hintergrund aber logistische und finanzielle Überlegungen sind. Nur längere Haltbarkeiten ermöglichen die zunehmende Zentralisierung der Versorgung und die Eroberung neuer Marktanteile bei den Ausschreibungen durch das Bieten extrem niedriger (Dumping-)Preise. Dabei gibt es eigentlich klare gesetzliche Regelungen.

Der Schwarze Peter beim Losgewinner?

Diese eklatanten Sicherheitslücken werden bisher von den Krankenkassen weitgehend ignoriert. Es ist eben nicht ausreichend, möglichst hohe Einsparungen zu fordern, ohne die Einhaltung der pharmazeutischen Rahmenbedingungen wirklich kontrollieren zu können. Die Abgabe bzw. die Annahme von Eigenerklärungen stellt nichts weiter als eine juristische Absicherung der Krankenkassen dar. Der schwarze Peter wäre im Falle eines Falles immer bei den versorgenden Losgewinnern.

Deren Streben nach Gewinn und vor allem nach Marktbeherrschung mag sie zwar zur Abgabe finanziell fahrlässiger Angebote und von fragwürdigen Eigenerklärungen verleiten, entbindet aber die Krankenkassen nicht von der Sorgfaltspflicht ihren Mitgliedern gegenüber. Es gibt hinreichend Hinweise auf Sicherheitslücken bei der fortschreitenden Zentralisierung der Versorgung, die nicht mit Ausschreibungen vereinbar sind. Das Verbot im AM-VSG ist also konsequent und sollte möglichst schnell umgesetzt werden. Einsparungen können auch ohne eine Gefährdung der Patientengesundheit erzielt werden. In einem zweiten Schritt wäre dann über die Schaffung wirklich wohnortnaher Versorgungsstrukturen nachzudenken. Alternativ könnte es sein, dass sich die Patienten erheben und um eine korrekte Versorgung kämpfen müssen.  

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion von DAZ.online.


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