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Kommentar
Biedermänner, Beutelschneider, Brandstifter
Quer zu denken, Neues an- und Altes umzudenken - das ist zuweilen durchaus nützlich. Allerdings nur, wenn man sich frei macht von der Vorstellung, man müsse in hektischem Aktionismus auch gleich alles umsetzen, was man dabei an Ideen munter aufwirbelt. Vorher nachdenken, und das bitte gründlich - das muss die Devise bleiben, bevor man in komplexen Systemen mit großer gesellschaftlicher Bedeutung funktionsfähige Strukturen durch neue, noch unbekannte ersetzt. Sonst schafft allzu leicht Rückschritt und Risiko, wer für Fortschritt sorgen wollte.
Wenn das die Leitidee hinter dem Bonner Symposion "E-Commerce mit Arzneimitteln" gewesen wäre - nun gut. Das Bundesministerium für Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände hatte dazu eingeladen. Manches sieht man jetzt klarer - auch wie verschwommen und unausgegoren manche Vorstellungen von der schönen neuen Welt von E-Commerce und Arzneimittelversand noch sind. Vielleicht hat aber doch der eine oder andere gemerkt, was ein hochrangiger Teilnehmer mit Blick auf die Vorteile eines Systembruchs in der Arzneimittelversorgung so formuliert hat: "Wir sind dabei, für ein Kotelett einen Elefanten zu schlachten", der zuverlässig seine Arbeit erledigt.
Worum geht es? Es geht nicht nur und nicht einmal vorrangig darum, das Internet für die Arzneimittelversorgung zu nutzen. Das wäre ja schon nicht wenig - jedenfalls wenn die Einschätzung unserer Gesundheitsministerin stimmt, das Internet sei seit der Erfindung des Buchdrucks die tiefgreifendste Entwicklung in der Menschheitsgeschichte. Sehr vielen geht es aber ganz offensichtlich nur darum, das Internet als Hebel zu nutzen, um das erst vor zwei Jahren im Arzneimittelgesetz verankerte Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln auszuhebeln. Sie geben sich als Gutmenschen und Biedermänner, sind aber doch wohl eher Brandstifter und Beutelschneider. Über einen schnell geschaffenen europäischen Zusammenschluss bekennen sich die Arzneiversender vollmundig zu beeindruckend-aufgeblasenen Qualitätsstandards. Das ist freilich wenig glaubwürdig. Denn andererseits flüchten sie sich sofort in Tricksereien oder spielen ganz offen die "Doof-Karte" (so Jens Apermann von DocMorris zum Spiegel), um hinderliche rechtliche Barrieren gerissen zu unterlaufen. Hinzu kommt: Ohne die Ausnutzung von staatlich diktierten Unterschieden bei den Herstellerabgabepreisen und ohne die Begrenzung ihrer Sortimente auf lukrative Artikel (also mit dem gleichen Kontrahierungszwang wie normale Apotheken) wären die Versandapotheken jedenfalls in Deutschland überhaupt nicht wettbewerbsfähig - von relevanten Preisvorteilen ganz zu schweigen.
Die Gesundheitsministerin hat in Bonn - über ihre Forderung hinaus, Versandapotheken müssten gleichen Sicherheitsstandards wie übliche Apotheken genügen - bemerkenswertes gesagt: Es müsse verhindert werden, dass "einzelne Apotheken sich die Rosinen heraus picken", aber "mit dem breiten Auftrag, den die Apotheken zu erfüllen haben, nichts zu tun haben wollen". Es gehe darum, "faire und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu erhalten". Das ist vernünftig. Unter gleichen Wettbewerbsbedingungen, ohne illegale Bevorzugung durch Krankenkassen oder Ärzte und mit der gleichen Pflicht, ihre Patienten cito et iucunde mit allen Arzneimitteln (auch wirtschaftlich uninteressanten) zu versorgen, hätten Versandapotheken freilich keine Chance. Ihre bekanntesten Vertreter bekennen sich ganz ungeschminkt zu eben jener Rosinenpickerei, die unsere Ministerin ablehnt, die aber die raison d'źtre der Internetapotheken ist und bleiben werde - so Dr. Reinhard Büscher von der EU-Kommission, der sich in Bonn gleichwohl unverblümt für den Arzneimittelversand innerhalb der EU stark machte. Das Problem sei doch viel mehr der illegale Arzneimittelimport aus Drittstaaten.
"Viel mehr" - das mag richtig sein. Aber die Probleme innerhalb der EU reichen - erst recht wenn in wenigen Jahren Länder wie Polen, Rumänien und andere dazugehören. Über den Internet-Versandhandel lassen sich nationale Sicherheitsstandards und Regelungen perfekt unterlaufen. Sie werden ad absurdum geführt. Die Verpflichtung auf unsere Standards und Regelungen lässt sich im Ausland in sehr vielen Fällen kaum durchsetzen und schon gar nicht kontrollieren. Das schafft sehr schnell offene Flanken - für Arzneimittelfälschungen, für die Missachtung wohlbegründeter Vorschriften für Kennzeichnung und Patienteninformation, für die Missachtung der Rahmenverträge ... und, und, und. Will das BMG dafür die Verantwortung übernehmen? Was der deutsche Gesetzgeber für Arzneimittel, die er nach Deutschland kommen lässt, international nicht durchsetzen kann, das könnte er dann auch deutschen Apotheken für nominal gleiche Arzneimittel nicht länger abverlangen. Damit müsste in Deutschland ein ganzes Netz wohldurchdachter Verbraucherschutzmaßnahmen außer Kraft gesetzt werden.
Wer genauer darüber nachdenkt, "wie" Internet-Versandhandel mit Arzneimitteln akzeptabel gestaltet werden könnte, steht bald erneut vor der Frage nach dem "ob": Warum denn überhaupt ... Für die Technik gibt es inzwischen eine Technik-Folgenabschätzung. Die gegenwärtigen Fummeleien an den Rahmenbedingungen der Arzneimittelversorgung schreien geradezu danach, endlich so etwas wie eine Politik-Folgenabschätzung zu etablieren.
Klaus G. Brauer
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