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Ernährung
R. WeberHaben wir das vernünftige Essen verlernt? (
Missverhältnis zwischen Zufuhr und Verbrauch
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Ursachen und Therapiemöglichkeiten bei Adipositas ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert. Damals liebäugelte man vor allem mit den Hormonen: erst stand die Schilddrüsenunterfunktion im Verdacht, später tendierte man mehr dazu, den Mangel an Keimdrüsenhormonen als Ursache für das Übergewicht anzusehen. In der Deutschen Apotheker Zeitung Nr. 43 vom 28.10.1954 räumte K. G. Krebs (Tübingen) mit diesen Vorstellungen gründlich auf:
"Je weiter die Forschung über die Ursachen der Fettleibigkeit voranschritt, desto klarer zeigte sich, dass an der Entstehung des Krankheitsbildes die verschiedenartigsten Faktoren beteiligt sind, und dass ein Grundübel, das allen oder doch wenigstens den meisten Fällen gemeinsam ist, nicht besteht ... Und doch gibt es ein Hauptmerkmal, das allen Fällen eigen ist und an dem die Therapie ansetzen kann... Im neueren Schrifttum mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass die Manifestation der Adipositas - unabhängig von den genetischen Zusammenhängen - auf einem Missverhältnis zwischen den aufgenommenen Nahrungsmengen und dem individuellen Nahrungsbedarf beruht ... Das Missverhältnis zwischen den zugeführten und verbrauchten Kalorien vergrößert sich beim Fettsüchtigen noch durch die mit dem Übergewicht meist verbundene körperliche Trägheit."
Der Autor führt eine große retrospektive Untersuchung an - mit Auswertung von 35 000 Krankengeschichten aus der Bonner Universitätsklinik von 1935 - 1951; diese zeigt, wie sich der Gewichtsverlauf während diesem Zeitraum veränderte. Vor dem Krieg hatten 9% dieser Patienten mehr als 10% Übergewicht, während des Krieges sank die Rate auf 2% und hatte 1951 bereits wieder 11% erreicht. Wahrscheinlich hat man damals das Normalgewicht nach der BROCA-Formel berechnet: Länge in cm minus 100 = Gewicht in kg. Bei einer Größe von 1,75 m durfte jemand also 75 kg wiegen, und bis 82,5 kg (Normalgewicht + 10%) drückte man ein Auge zu; das würde einem BMI (Body Mass Index) von 24,5 resp. 27 entsprechen.
Adipositas - die Epidemie des 3. Jahrtausends
Aktuelle Zahlen zur Adipositas in Europa und USA lassen eine alarmierende Entwicklung erkennen, weshalb die WHO die Adipositas zu Recht als Epidemie des 3. Jahrtausends bezeichnet. Nach den heute akzeptierten Definitionen spricht man ab einem BMI von 25 von Übergewicht (pauschal), oder man grenzt das Übergewicht von der Adipositas ab; dann wird ein BMI zwischen 25 und 29,9 als Übergewicht gewertet, das ab einem BMI von 30 in eine Adipositas übergeht. Darüber hinaus lässt sich noch der Grad der Adipositas abstufen, mit der morbiden Adipositas (BMI > 40) als schwerster Erkrankungsform (Tab. 1).
Die Adipositas stellt ein globales Problem dar, wobei Deutschland keine Ausnahme macht. Das multinationale MONICA-Projekt (Monitoring of International Trends and Determinants in Cardiovascular Disease) brachte für Deutschland die folgenden Resultate: 51% der Erwachsenen sind übergewichtig, 16% adipös. Auch andere Erhebungen wie VERA (Verbundstudie Ernährung und Risikofaktorenanalytik), DHP (Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie) oder die EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nurtrition) gingen in diese Richtung. Wenn man einzelne Altersgruppen betrachtet, haben Männer zwischen 50 und 59 Jahren und Frauen zwischen 60 und 69 Jahren den höchsten mittleren BMI von 27,6 resp. 27,0.
Mit zunehmendem Lebensalter kommt es nicht nur zu einem kontinuierlichen Gewichtsanstieg, sondern auch zu einer von Jahr zu Jahr ungünstigeren Waist/Hip-Ratio (WHR, Taille/Hüfte-Quotient), gleichbedeutend mit dem ungünstigen Fettverteilungsmuster der abdominalen (oder viszeralen) Adipositas. Da auch der Bauchumfang allein ein verlässliches Maß für die abdominale Fettmasse darstellt, lässt sich mit dem Zentimetermaß eine gesundheitliche Risikoabschätzung durchführen. Männer mit einem Bauchumfang > 94 cm und Frauen mit > 80 cm haben ein erhöhtes Risiko für metabolische Komplikationen, von einem stark erhöhten Gesundheitsrisiko geht man aus, wenn bei Männern mehr als 102 cm und bei Frauen mehr als 88 cm gemessen werden.
Bauchumfang messen!
Obwohl das Thema des 3. Tessiner Gesprächs "Den gesunden Dicken gibt es nicht" lautete, stellte PD Dr. Paolo M. Suter, Medizinische Universitätspoliklinik, Zürich, dies gezielt in Frage - mit Blick auf die entscheidende Rolle des Fettverteilungsmusters. Den gesunden Dicken gibt es also doch: das sind körperlich aktive und/oder körperliche Arbeit leistende Menschen mit leichtem Übergewicht, die ihren BMI über 25 durch die so genannte metabolische Fitness (als Resultat der körperlichen Aktivität) kompensieren können. Typisch für solche Personen ist das günstige Fettverteilungsmuster - ohne eine betonte abdominale Adipositas und ohne nennenswert erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre und metabolische Komplikationen.
Wenn hingegen bei nur geringfügiger Zunahme des Körpergewichts eine überwiegende Ablagerung des überschüssigen Fettes im Bauchbereich stattfindet, kommt es zu einem deutlichen Anstieg des Erkrankungsrisikos. Also ist neben der Gewichtskontrolle das regelmäßige Messen des Bauchumfangs von entscheidender Bedeutung, auch wenn das die Patienten nicht besonders schätzen. Denn der Bauchumfang korreliert bedeutend besser mit dem Morbiditätsrisiko als der BMI.
Die abdominale Adipositas stellt in der Regel - auch bei nur geringem Übergewicht - eine Indikation für die Gewichtsreduktion dar. Wenn allerdings davon ausgegangen werden muss, dass der Übergewichtige nicht in der Lage sein wird, das reduzierte Gewicht auf dem niedrigeren Niveau zu stabilisieren, sollte der Schwerpunkt bei der Stabilisierung des aktuellen Gewichts liegen. Gelingt das über einen angemessenen Zeitraum, kann bei entsprechender Motivation erneut über eine Gewichtsreduktion diskutiert werden.
Folgende Risikofaktoren begünstigen die Entstehung einer abdominalen Adipositas:
- Genetische Prädisposition
- Positive Energiebilanz
- Körperliche Inaktivität
- Alkoholkonsum (Bierbauch)
- Psychischer Stress
- Menopause (?)
- Rauchen
- Jo-Jo-Dieting
Abdominale Fettzellen besitzen offenbar eine ganz andere biochemische Charakteristik als solche in der Peripherie: Unter Stresseinwirkung wird sehr rasch abdominales Fett mobilisiert. Im Bereich der Pfortader entstehen hohe Konzentrationen an Fettsäuren, die den Lebermetabolismus erheblich stören können und darüber hinaus - über Mechanismen, die noch kontrovers diskutiert werden - die Entstehung einer Insulinresistenz begünstigen. Als Folge der Insulinresistenz entwickelt sich im Diabetes-Frühstadium eine Hyperinsulinämie, gefolgt von verminderter Insulinsekretion, was schließlich einen manifesten Typ-II-Diabetes zur Folge hat.
Prävention des Übergewichts hat vorrangige Bedeutung
Wenn heute der Präventionsgedanke ganz im Vordergrund steht, hat das seinen guten Grund. Die praktischen Erfahrungen mit der Gewichtsreduktion in der Vergangenheit waren mehr als ernüchternd, wobei es so gut wie keine Rolle spielte, wie das Gewicht reduziert wurde. Prof. Dr. Jürgen Margraf, Psychiatrische Universitätsklinik, Basel, erläuterte, dass 70% der Abnehmwilligen bereits nach sechs Monaten wieder beim Ausgangsgewicht angelangt sind, nach zwei Jahren sind es über 90%. Abgesehen davon möchten die Übergewichtigen in der Mehrzahl mindestens ein Drittel des aktuellen Gewichts verlieren, was jedoch keine realistische Zielsetzung ist.
Etwa 5 bis 10% Gewichtsabnahme sind realistisch, aber in keiner Weise motivierend: Wenn jemand 100 kg wiegt und dieses Übergewicht mit enormer Anstrengung und bewusstem Verzicht auf 90 kg reduziert, dann ist er ja keineswegs schlank - und vom gültigen Schönheitsideal so weit entfernt wie eh und je. Und solche kosmetischen Überlegungen stehen hinter dem Wunsch, endlich richtig abzunehmen. Der vom Arzt in Aussicht gestellte gesundheitliche Nutzen ist da kein Trost.
Bewegung muss sein
Ziel aller Bemühungen muss es daher sein, den Anfängen zu wehren und schon bei Kindern und Jugendlichen ein Bewusstsein für eine vernünftige Lebensweise mit gesunder Ernährung und regelmäßiger körperlicher Aktivität zu schaffen. Dabei steht nicht das permanente Kalorienzählen im Vordergrund, sondern vielmehr der Wellness-Gedanke, nach dem Motto: Wissen, was mir gut tut! Bewegung und Sport, der Spaß macht - das muss das Ziel sein, denn durch derartige Aktivitäten lassen sich auch kleine Kaloriensünden ohne weiteres ausbügeln.
Gerade für die Gewichtsstabilisierung hat sich das Bewegungsprogramm als unerlässlich herausgestellt. Wenn man jedoch vor hat, sein Übergewicht - ohne Veränderung des Ernährungsverhaltens - durch sportliche Aktivität in den Griff zu bekommen, dann hat man sich viel vorgenommen, wie die Tabelle 2 zeigt.
Die dicken Kleinen bewegen sich nicht
Leider haben nicht nur die Erwachsenen Probleme mit der Gewichtskontrolle, sondern in zunehmendem Maße auch bereits Kinder und Jugendliche. Dr. Urs Zumsteg vom Universitäts-Kinderspital beider Basel, nannte aktuelle Zahlen: In der Schweiz ist jedes siebte bis achte Kind übergewichtig, in den USA jedes vierte. Aufgrund von Zahlen aus Deutschland aus dem Jahr 1995 liegt die Prävalenz der Adipositas in der Pädiatrie bei 15 bis 20%.
Diese dramatische Entwicklung - bei Kindern wie auch Erwachsenen - muss man vor dem Hintergrund sehen, dass in den USA beispielsweise zwischen 1976 und 1990 der Fett- und Gesamtkalorienverbrauch spürbar zurückging und der Konsum an Light-Produkten deutlich zunahm - und die Rate der übergewichtigen Kinder trotzdem von 25 auf 33% kletterte (Tendenz steigend). Woran liegt es? Der Grund liegt in der im selben Zeitraum deutlich zurückgegangenen körperlichen Aktivität. Es nützt eben nichts, wenn man etwas weniger und kalorienärmer isst und sich noch weniger bewegt. Und dementsprechend korreliert das Übergewicht sehr gut mit dem täglichen Fernsehkonsum sowie mit der Anzahl Autos pro Haushalt.
Neben der körperlichen Inaktivität infolge TV, Video, Computerspielereien oder Internet-Aktivitäten gibt es noch eine Reihe weiterer Risikofaktoren, welche die Entstehung des Übergewichts bei Kindern begünstigen: dazu gehört vor allem die Adipositas bei den Eltern und Geschwistern, aber auch Einzelkinder, Kinder alleinerziehender Mütter und Kinder von Frauen, die bei der Geburt älter als 35 Jahre waren, sind Risikokandidaten (Tab. 3).
Aus dicken Kleinen werden dicke Große
Nicht nur Wachstum und Entwicklung sind bei adipösen Kindern beschleunigt, sie kommen auch 6 bis 12 Monate früher in die Pubertät. 30 bis 40% zeigen eine leicht abnorme Glukosetoleranz und bei einem geringen Prozentsatz diagnostiziert man eine sekundäre Hyperlipidämie.
Die Aussichten für adipöse Kinder sind alles andere als rosig, denn 80% werden auch im Erwachsenenalter mit Gewichtsproblemen konfrontiert sein. Aufgrund der schlechten Langzeitprognose sollte man der Prävention grösste Bedeutung beimessen. Dafür ist enorm viel Aufklärungs- und Motivationsarbeit erforderlich, wobei man sich in erster Linie "die genuine Freunde der Kinder an der Bewegung" zum Verbündeten machen sollte. Wenn es dann noch gelingt, Kinder rechtzeitig für eine gesunde und vernünftige Ernährung zu gewinnen, müssen oft nicht einmal dramatische Gewichtsverluste therapeutisch anvisiert werden. Oft genügt es, das Gewicht zu stabilisieren, da das Wachstum ein Übriges tut. Nur wenn bereits Sekundärfolgen wie Hypertonie, Fett- oder Glukosestoffwechselstörungen vorliegen, wird man um eine Gewichtsreduktion nicht herum kommen.
Ernährung, Sport, Verhaltenstraining
Der psychische Leidensdruck und die Änderungsmotivation müssen vorhanden sein, wenn man therapeutisch etwas erreichen möchte. Solange das adipöse Kind nicht motiviert ist oder nur eine Pseudomotivation vorliegt, macht die Behandlung keinen Sinn. Erst wenn diese Grundvoraussetzungen stimmen, kann eine langfristige multidisziplinäre Therapie mit Ansätzen auf vielen Stufen erfolgreich sein. Die Basis für ein Gewichtsmanagement in der Pädiatrie besteht aus drei Säulen: Ernährung, körperliche Aktivität und Verhaltensmodifikation (Tab. 4). Mit regelmäßiger körperlicher Aktivität lassen sich nicht nur die Langzeitresultate bezüglich Gewichtsnormalisierung verbessern, die Kinder profitieren auch im Hinblick auf eine verbesserte psychische Befindlichkeit (Tab. 5).
Weniger essen schmackhaft machen
Sonja Mannhardt, Universitäts-Kinderspital beider Basel, erläuterte die komplexe Problemsituation adipöser Kinder und ging auf die Grundzüge der Therapie ein. Auch bei den Kindern führt kein Weg an der Lifestyle-Modifikation vorbei, auch wenn man einen mehr spielerischen Zugang sucht und ihnen das Kalorienzählen ersparen möchte. Ziel ist ein neues Energiegleichgewicht, indem man den Energieverbrauch z. B. durch vermehrte außerhäusliche Aktivitäten (Radfahren, Spiele, kindgerechter Sport - ohne dominierenden Leistungsgedanken) steigert und die Kalorienzufuhr vermindert.
Allerdings ist es erschreckend, wie viele Kinder entweder kein Fahrrad haben oder das vorhandene kaputt ist … Auch hier spielen realistische Ziele eine entscheidende Rolle: es ist schon ein Erfolg, wenn das Kind in einem bestimmten Zeitraum sein Gewicht halten kann, vielleicht schafft es dann auch den nächsten Schritt und lernt neue Verhaltensweisen, die ihm den Verzicht auf die zahllosen Kalorienbomben aus der Werbung leichter machen. Ganz wichtig ist es weiterhin, dass Kinder wieder lernen, den Hunger und das Sättigungsgefühl wirklich wahrzunehmen - und nur dann zu essen, wenn sie hungrig sind, und aufzuhören, wenn sie sich satt fühlen.
Zum Verhaltensaspekt erklärte Frau Mannhardt, dass ein Verhalten so lange beibehalten wird, wie es einen positiven Nutzen hat. Die Alternative (z. B. weniger/gesünder essen und mehr bewegen) hat nur dann eine Chance, wenn sie einen vergleichbar guten Nutzen verspricht. Die Herausforderung ist es nun, genau das den Kindern schmackhaft zu machen.
Wichtige Kriterien für ein Behandlungsprogramm:
- Interdisziplinäre Betreuung in Gruppen
- Langfristig angelegte Programme
- Multimodale Konzepte
- Einbeziehung der Familie
- Etappenziele formulieren und das Erreichte lobend anerkennen.
Adipositas - Risiko für Bluthochdruck und Schlaganfall
Die intensive Auseinandersetzung mit der Adipositas - nicht zuletzt im Rahmen der Einführung neuer Medikamente - hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass man die Adipositas als Risikofaktor für eine Vielzahl von kardiovaskulären und metabolischen Komplikationen und Spätfolgen dingfest machen konnte.
Dr. Suter bezeichnete die Adipositas als wichtigsten Modulator des kardiovaskulären Risikos. So kann man etwa 40% aller Fälle von koronarer Herzkrankheit einem erhöhten BMI anlasten und auch zwischen der Hypertonie und dem Übergewicht besteht eine klare Korrelation: mehr als 70% der Hypertoniker sind übergewichtig und die Framingham-Studie zeigte, dass der erhöhte Blutdruck bei 70% der Männer und 60% der Frauen durch das Übergewicht verursacht wurde. Mit jedem Kilo Gewichtszunahme erhöht sich das Hochdruckrisiko um etwa 5%. Auf der anderen Seite hat bereits eine Gewichtsreduktion von 5 bis 10% einen nachweislichen Nutzen im Sinne der Blutdrucksenkung: jedes Kilo, das man weniger auf die Waage bringt, senkt den Blutdruck um 0,5 bis 1 mmHg. Das Schlaganfallrisiko ist ebenfalls erhöht, vor allem bei Menschen mit abdominaler Adipositas.
Aus der Praxis bestens bekannt ist der übergewichtige Typ-II-Diabetiker, vier von fünf haben einen BMI > 25. Die Rolle der abdominalen Adipositas bei der Entstehung des metabolischen Syndroms wurde bereits diskutiert. Darüber hinaus müssen Adipöse mit einer ganzen Reihe weiterer Komplikationen rechnen, die Simon-Vermot und Keller (2000) zusammengestellt haben (Tab. 6), wobei den psychischen und sozialen Konsequenzen der Adipositas erst in jüngster Zeit vermehrt Beachtung geschenkt wurde.
Wenn Sympathie für Übergewichtige
Der Übergewichtige - was geht in ihm vor, was denkt und fühlt er? Mit einem Blick hinter die Kulissen wird klar, wie dünnhäutig die meisten Dicken sind. Professor Margraf argumentierte mit Daten zur Selbsteinschätzung von ausgeprägt adipösen Patienten vor und nach einer operativen Gewichtsreduktion (um durchschnittlich 50 kg);
Vor der Operation:
- 100% schätzen sich als sozial unattraktiv ein
- 87% sind davon überzeugt, dass man hinter ihrem Rücken über sie redet
Nach der Operation:
- hat sich die psychische Befindlichkeit deutlich gebessert
- würden 90% lieber eine Beinamputation oder Blindheit in Kauf nehmen als das frühere Gewicht.
Übergewichtige sehen sich mit den unterschiedlichsten Vorurteilen konfrontiert, und die damit einhergehende Diskriminierung beginnt schon im Grundschulalter. Auch hierfür hatte Professor Margraf zahlreiche Beispiele parat: Bereits vor der Pubertät mögen Kinder keine dicken Körperformen, und Sechsjährige assoziieren "faul, dreckig, dumm" mit der Silhouette eines dicken Kindes.
Übergewichtige in den USA und in England gehen weniger lang in die Schule und werden bei gleichen Leistungen seltener in renommierte Colleges aufgenommen. Die Diskriminierung während der Schulzeit geht nahtlos in die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt über: 16% der Arbeitgeber stellen übergewichtige Frauen "wahrscheinlich nicht" und 44% "unter keinen Umständen" ein. Auch die Karrierechancen sinken mit steigendem Gewicht und amerikanische Führungskräfte verdienen pro Pfund Übergewicht 1000 Dollar weniger im Jahr.
Aber auch vom Arzt dürfen sich Übergewichtige nicht viel Sympathie erhoffen, so Margraf, denn 78% aller Adipösen fühlen sich wegen des Übergewichts von den Ärzten manchmal beziehungsweise immer respektlos behandelt. Ärzte stufen adipöse Patienten als "willensschwach, ungeschickt, hässlich" ein. In einer britischen Studie war die Wahrscheinlichkeit, einen Lipidsenker verordnet zu bekommen, bei Adipösen erheblich geringer als beispielsweise bei Rauchern, und die Ärzte bekannten sich ganz klar zu diesem Verordnungsverhalten.
Dick, diskriminiert und psychisch am Ende?
Die Diskriminierung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche. Eine Repräsentativstudie mit 2064 jungen Frauen zeigte, dass die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen, vor allem Depressionen und Angsterkrankungen, bei über 50% liegt, wenn eine Adipositas (BMI > 30) besteht.
Eine Repräsentativumfrage zum Schönheitsideal 2000 (Abb. 2) brachte klare Resultate: "vor allem schlank" war das Ideal der Frauen (71%), während sich etwa gleich viele Männer für "muskulös und durchtrainiert" entschieden. Margraf machte auf die enorme Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufmerksam: "Etwa ab den 60er-Jahren wurden Fotomodelle und Schauspielerinnen immer dünner. So hat sich von 1959 bis 1979 das Durchschnittsgewicht der Teilnehmerinnen an der Wahl von Miss America ebenso verringert wie dasjenige der 'Centerfold-Modelle' im Playboy-Magazin. In der gleichen Zeit hat das Durchschnittsgewicht der Allgemeinbevölkerung drastisch zugenommen, mit steigender Tendenz."
Die Rolle der Apotheke...
... ist undankbar. Denn das Traumgewicht zum Nulltarif können auch wir den abnehmwilligen Adipösen nicht bieten. Was Frauen wirklich wünschen, brachte kürzlich eine Umfrage an den Tag (Tab. 7): "Essen ohne dick zu werden."
Die besten Erfahrungen wurden bisher mit dem integrativen Gewichtsmanagement gemacht, bei dem Ernährungsumstellung, Verhaltensmodifikation und körperliche Aktivität im Mittelpunkt stehen. Ob für die Gewichtsreduktion eine zusätzliche medikamentöse Unterstützung infrage kommt, ist Sache des Arztes. Von entscheidender Bedeutung - aber sehr schwer zu vermitteln - sind realistische Vorstellungen und Ziele. Denn bereits eine Gewichtsreduktion von 5 bis 10% bringt einen gesundheitlichen Nutzen, aber leider bringt sie die Übergewichtigen der Traumfigur nur unwesentlich näher. Kastentext: Die schwerwiegenden Probleme übergewichtiger Frauen Vieles, was aus gynäkologischer Sicht bei den normalgewichtigen Frauen selbstverständlich und unkompliziert ist, macht bei adipösen Frauen mehr oder weniger große Probleme. Prof. Dr. Johannes Bitzer, Frauenspital Basel, erläuterte dies am Beispiel der fiktiven, aber lebensnah erfundenen Patientin Anna M., welche weitreichenden Konsequenzen die Adipositas in der Gynäkologie haben kann - vor allem dann, wenn sie von einem polyzystischen Ovarsyndrom begleitet ist (PCOS: eine bei übergewichtigen Frauen häufig auftretende Störung, die durch folgende Symptome und Veränderungen charakterisiert ist: mindestens zehn peripher angeordnete Follikel von 2 - 8 mm, zu seltene Monatsblutungen, Androgenisierungserscheinungen mit Hirsutismus und schwerer Akne, Anovulation, Subfertilität, Übergewicht; Abb. 1).
Auf sämtliche gynäkologisch relevanten Ereignisse im Leben einer Frau wie Menarche, Kontrazeption, Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und Menopause wirkt sich die Adipositas ungünstig aus.
Der gynäkologische Leidensweg der seit ihrer Kindheit übergewichtigen Anna beginnt mit 12 Jahren; nach der Menarche leidet sie an einer Oligomenorrhö mit seltenen, dafür gelegentlich aber so starken Periodenblutungen, dass sie notfallmäßig ins Krankenhaus muss. Dort diagnostiziert man ein PCOS. Zur Behandlung der Zykluskomplikationen käme die Pille infrage, die sich auch auf das PCOS günstig auswirken würde. Man entscheidet sich jedoch für die "Gestagen only"-Variante, da es wegen der Adipositas unter der kombinierten oralen Kontrazeption zu thromboembolischen Komplikationen kommen könnte. Wegen Dauerblutungen - sie sind typisch für adipöse Frauen - versucht man es (erfolglos) mit der Dreimonatsspritze, da Anna darauf mit einer weiteren Gewichtszunahme reagiert.
Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt
Nach der Heirat von Anna bleibt der Kinderwunsch unerfüllt, zurückzuführen auf das PCOS und die Adipositas. Die Ärzte entschließen sich zur Stimulationsbehandlung, auf die sie mit Zeichen der Überstimulation reagiert. Anna wird schwanger, sie entwickelt einen Schwangerschaftsdiabetes und gegen Ende der Gravidität eine Präeklampsie, die einen notfallmäßigen Kaiserschnitt erforderlich macht. Anna bringt noch zwei weitere Kinder zur Welt, jeweils mit Kaiserschnitt, der aufgrund der zunehmenden Komplexität der gesamten Situation nur von sehr erfahrenen Operateuren durchgeführt werden kann.
Menopause und postmenopausale Situation
Mit 50 Jahren stellt sich die Menopause ein. Als nach zwei Jahren plötzlich wieder Blutungen auftreten, wird eine adenomatöse Hyperplasie diagnostiziert, die als obligate Präkanzerose des Endometriumkarzinoms gilt - mit dem klassischen Risikofaktor Adipositas. In einem komplizierten chirurgischen Eingriff werden Gebärmutter, Eierstöcke und Lymphknoten entfernt. Aufgrund des bei Endometrium-Karzinom und Adipositas erhöhten Mammakarzinom-Risikos sind engmaschige mammographische Kontrollen erforderlich. Aufgrund dieser komplexen Risikokonstellation verbietet sich auch die Behandlung der starken Hitzewallungen mit einer Hormonersatztherapie.
Wie kaum anders zu erwarten, entwickelt Anna M. im Laufe der Jahre einen Diabetes und eine Hypertonie, gefolgt von einer koronaren Herzkrankheit. Sie stirbt mit 72 Jahren an kardiovaskulären Komplikationen.
Kastentext: Statistik
Jeder Zweite ist übergewichtig. Den Deutschen schmeckt's gut. Fast jeder zweite Erwachsene hat Übergewicht - so lautet die erschreckende Nachricht des Statistischen Bundesamts. Den größten Anteil an Übergewichtigen zeigt die Gruppe der 65- bis unter 69-Jährigen: 73 Prozent der Männer und 59 Prozent der Frauen sind zu dick. Überhaupt neigen die Männer in allen Altersklassen eher zu Übergewichtigkeit als die Frauen. Während 56 von 100 Männern mehr Gewicht auf die Waage bringen, als gesundheitlich gut ist, sind es bei den Frauen "nur" 39 Prozent. Festgelegt wurde das Übergewicht nach dem Body-Mass-Index.
Kastentext: Gewichtsentwicklung - ein Rechenexempel
Da sich sowohl das Lebensalter als auch das zunehmende Gewicht ungünstig auf das Morbiditäts- und das Mortalitätsrisiko auswirken, sollte man die Gewichtsstabilisierung als "Lebensaufgabe" betrachten, denn das Alter können wir nicht beeinflussen. Das wäre der Wunsch, doch die Wirklichkeit sieht anders aus: die Statistik hat gezeigt, dass Fünfzigjährige im Mittel 15 kg schwerer sind als Zwanzigjährige, was ein Pfund Übergewicht pro Lebensjahr bedeutet.
Nun zum Rechenbeispiel: Ein Mann mit 30 Jahren ist 1,80 m groß und wiegt 74,5 kg. Das entspricht einem BMI von 23, wogegen nichts einzuwenden ist. Wenn dieser Mann nun pro Jahr ein Kilo zunimmt, was ja nicht besonders viel ist, wiegt er mit 50 Jahren 94,5 kg (BMI = 29). Mit 60 Jahren sind es 104,5 kg, und wenn er 70 Jahre alt ist, bringt er 114,5 kg auf die Waage und sein BMI liegt bei 35.
Aus etwa 7000 Kalorien, die - übers Jahr verteilt - über den Bedarf hinaus aufgenommen werden, resultiert ein Kilo Übergewicht. Pro Tag sind das lächerliche 20 bis 30 kcal, die sich summieren. Wenn man dann noch bedenkt, dass die körperliche Aktivität im höheren Lebensalter abnimmt, sei es aus Trägheit oder aus gesundheitlichen Gründen, dann steht außer Frage, dass die Gewichtsstabilisierung bei einem BMI < 25 einen enormen Erfolg darstellt.
Im gleichen Maß, wie das Schönheitsideal von immer dünneren Frauen bestimmt wird, nehmen Übergewicht und Adipositas in den industrialisierten Ländern zu. Aus medizinischer Sicht spielen dabei die kardiovaskulären und metabolischen Komplikationen die Hauptrolle. Die Experten sind sich heute einig, dass es sich um eine chronische Krankheit handelt, die eine meist lebenslange Betreuung erforderlich macht. Daher müssen vermehrt konkrete Behandlungsmodalitäten auf breiter Basis angeboten werden. Beim "3. Tessiner Gespräch", das unter der Überschrift "Den gesunden Dicken gibt es nicht" stand, diskutierten Experten, Maßnahmen gegen die Adipositas.
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