Feuilleton

Erfahrungsbericht: Heilkunde und Heilpraxis in Kamerun

Die Mutter war während der Entbindung gestorben. Um das Überleben des Neugeborenen zu sichern, baten die Angehörigen einen Heiler um Hilfe. Dieser stellte für die Großmutter des Kindes eine Kräutermischung zusammen, die bei ihr vierzehn Jahre nach dem letzten Abstillen wieder die Milchbildung in Gang setzte. Das Kind ist inzwischen herangewachsen und gesund. Solche "Fälle" erlebte die Krankenschwester Petra Brune, die von 1992 bis 1998 auf einer Krankenstation in Nordkamerun gearbeitet hatte.

Bitte mit Spritze

Statistisch betrachtet, versorgt ein Arzt in Kamerun 20 000 Menschen. Und auf eine Million Menschen kommt nur eine zahnärztliche Praxis. Zwar konsultieren in Kamerun viele Patienten parallel zum Besuch eines Arztes oder einer Krankenstation einen Heiler, doch sie lassen sich von den schulmedizinischen Behandlungsmethoden stärker beeindrucken. So geht das weniger geschätzte traditionelle medizinische Wissen zusehends verloren. Dies umso mehr, als zahlreiche Heiler ihren Erfahrungsschatz nicht preisgeben möchten.

Ein typisches Beispiel: Ein Patient, der wegen Windpocken die Krankenstation besuchte, bestand nach der Applikation von fiebersenkenden Arzneien auf Verabreichung einer Injektion. Weil Petra Brune ihm diese mangels Indikation verweigerte, suchte er das weit entfernte Krankenhaus auf. Dort ging ein afrikanischer Arzt auf den Wunsch ein, der Patient war glücklich und zufrieden.

Eine etwas andere Arzneimittelherstellung

Auf dem Weg von der Krankenstation zum Krankenhaus müssen sieben Flüsse überquert werden, sodass es in der Regenzeit nur schwer erreichbar ist. Gerade aufgrund der schwach entwickelten Infrastruktur versuchte die Krankenschwester, die sich auch als Apothekerin betätigte, möglichst autark zu sein. Sie hatte sechs einheimische Mitarbeiter, aber einen Arzt gab es auf der Station nicht.

Komplementär zu den schulmedizinisch ausgerichteten Therapien nutzte sie die Ressourcen der regionalen Flora, zumal einige Medikamente, welche aus Europa an die Krankenstation geliefert wurden, Substanzen aus Pflanzen enthielten, die am südlichen Rand der Sahelzone gedeihen. Zum Beispiel bereitete sie aus Wasser, den getrockneten Blättern von Eucalyptus globulus und Würfelzucker einen hustenstillenden und schleimlösenden Sirup.

Hilfreich war häufig die Zusammenarbeit mit einheimischen Heilern, obwohl deren Krankheitsverständnis dem der Schulmedizin widerspricht. Während wir beispielsweise Husten als Folge einer Atemwegsinfektion erkennen und entsprechend behandeln, suchen die Kameruner Heiler die Krankheitsursache häufig in Störungen im Beziehungsgeflecht des Patienten. Heiler mit chiropraktischen Kenntnissen hatten gute Erfolge in der Behandlung von nicht offenen Brüchen. Bei Geburten halfen einheimische Frauen mit einschlägigen Erfahrungen.

Über die Rezepturen der Heiler hat Petra Brune nichts erfahren. Vermutlich waren sechs Jahre Aufenthalt zu kurz, um deren Vertrauen zu gewinnen. Sie selbst hingegen vermittelte medizinisch-pharmazeutisches Basiswissen an verschiedene Personen, sodass sie in den Dörfern Arzneien gegen Migräne, Malaria und andere Erkrankungen applizieren konnten.

Pflanzen mit breitem therapeutischen Spektrum

Bemerkenswert ist das außerordentlich breite Anwendungsspektrum mancher Pflanzen. So werden zum Beispiel aus Rauvolfia vomitoria gewonnene Präparate sowohl als Sedativa, als Antihypertonika, bei Fieber und auch gegen Krätze, Würmer, Kopflausbefall und verschiedene Hautkrankheiten eingesetzt.

Ferner wirken Substanzen dieser Apocynacee psychotrop wie auch als Gegengift gegen Schlangenbisse. Sogar in der Augenheilkunde könnten sie äußerlich angewandt werden. Der Milchsaft des auf Brachflächen gedeihenden Hundsgiftgewächses, das eine Höhe von drei bis vier Metern erreichen kann, wirkt einer Obstipation entgegen. Die indikationsgerechte Dosierung setzt indessen viel Erfahrung voraus.

Aus Blättern und Wurzeln von Catharanthus roseus werden unter anderem Therapeutika gegen Diabetes mellitus, Magengeschwüre und bakterielle Ruhr hergestellt. Sogar zur Behandlung von Ödemen, Hypertonie, Ikterus und Leukämie dienen Zubereitungen aus dieser Apocynacee. Die Blätter von Passiflora incarnata wirken gegen Schlaflosigkeit, Angst und Verkrampfungen. Sie sollen auch bei Vitamin-C-Mangel und Asthma verabreicht werden.

Der Chinesische Beifuß Artemisia annua wurde mittlerweile züchterisch bearbeitet. Im Gegensatz zur Art ist die gezüchtete Sorte besonders reich an Wirkstoffen gegen Malaria. Sie soll aber auch erfolgreich bei der Behandlung von Wurmkrankheiten, Fieber und chronischer Ruhr eingesetzt werden. Äußerlich wird sie für die Steigerung der Immunkräfte nach HIV-Infektion, bei Krätze und zahlreichen anderen Erkrankungen angewandt.

Die "Apotheke vor der Haustür"

Der Zaērer Sekundarschullehrer Bindanda M'Pia, der an dem Buch "Natürliche Medizin in den Tropen" von Apotheker Hans-Martin Hirt als Koautor mitwirkte, staunte, dass in einer Apotheke in der Hauptstadt für ein Antirheumatikum umgerechnet acht Euro verlangt werden. Ein ganzes Monatseinkommen also für den Extrakt von gewöhnlichem Capsicum frutescens, das im tropischen Afrika vor jeder Haustür wächst. Für solch einen hohen Verkaufspreis können zu Hause 5 Kilogramm des Medikaments selbst hergestellt werden, so die Überlegung M'Pias.

Dem unbestrittenen Nutzen der Schulmedizin steht in armen Ländern eine fatale Abhängigkeit von Importen gegenüber. Um möglichst viel traditionelles einheimisches Wissen zu retten und nutzbar zu machen, gründeten Hebammen, Heiler, M'Pia und Apotheker Hans-Martin Hirt 1985 in Zaēre die "Aktion Natürliche Medizin" (anamed). Die ursprünglich regionale Bewegung fand mittlerweile in zahlreichen weiteren Ländern Interesse.

Tradition und Moderne verbinden

"Anamed" unterstützt die Erforschung traditioneller Rezepturen nach schulmedizinischen Kriterien. Daraus sollen Empfehlungen für die Anwendung möglichst vieler Arzneipflanzen abgeleitet werden, die die Bevölkerung selbst kultivieren kann. Unter anderem möchte "anamed" erreichen, dass die präventive Heilkunde als Alternative zur kurativen Medizin mit importierten Medikamenten anerkannt wird. Hierzu gehören auch Maßnahmen zum Schutz des Trinkwassers sowie die Erhaltung der Wälder, indem durch die Einführung von Solaröfen der Verbrauch von Brennholz vermindert wird.

Aber auch eine ausgewogene Ernährung kann Erkrankungen vorbeugen. Im Norden Kameruns können Obst und Gemüse allerdings nur unter schwierigen Bedingungen angebaut werden. Die Niederschlagsmenge beträgt 1000 Milliliter im Jahr, von Oktober bis Mai ist Trockenzeit. Deshalb versuchten Petra Brune und ihre Mitarbeiter, mit einfachen Mitteln die Vitaminaufnahme zu fördern: Jeder gebärenden Frau schenkten sie einen bewurzelten Steckling von Zitrus-, Mango-, Papaya- oder Guavenbäumen. Dieser wurde dort angepflanzt, wo die Mutter ihr Kind wusch. Dabei wurden die Bäume regelmäßig gewässert und konnten heranwachsen.

Seit der Rückkehr nach Deutschland arbeitet Petra Brune in der Kinderklinik des Kreiskrankenhauses Altenburg gGmbH. Zwischen Afrika und Deutschland liegen Welten. Der Krankenschwester fiel beispielsweise auf, dass sich in Kamerun die Angehörigen engagiert an der Pflege der Patienten beteiligen. Was dort selbstverständlich ist, muss hierzulande vielen Eltern erst behutsam vermittelt werden.

Nach einem "Gespräch in den Sammlungen" des Naturkundemuseums Mauritianum, Altenburg, mit Krankenschwester Petra Brune und Diplombiologin Margitta Pluntke.

Kasten Aktion Natürliche Medizin

Anamed versteht heute unter "Natürlicher Medizin" einen Prozess in drei Schritten:

  • das Forschen nach Rezepten der "Traditionellen Medizin", die z. T. seit Tausenden von Jahren bekannt sind,
  • das Forschen nach Rezepten und Erkenntnissen der "Modernen Medizin" (in Entwicklungsländern auch "westliche" oder "industrielle" Medizin genannt),
  • das Entwickeln von Empfehlungen hieraus, um es der Bevölkerung zu ermöglichen, möglichst viele Heilpflanzen selbst zu ziehen und zu verwenden und dabei Nebenwirkungen so weit wie möglich zu vermeiden.

Weitere Informationen: www.anamed.net

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