Kind und Apotheke

Kleine Patienten mit großem Anspruch

Eltern schätzen den Rat der Apotheke, wenn es um die Gesundheit ihrer Kinder geht. Das Besondere: je jünger die kleinen Patienten sind, umso rasanter verläuft ihre Entwicklung, und ebenso schnell wechseln die Themen, zu denen sich Eltern informieren möchten. Kaum sind die Trinkschwierigkeiten beim ersten Schnupfen dank der Nasentropfen aus der Apotheke behoben, zeigen sich die Symptome der ersten Windeldermatitis. Bald darauf steht ein Familienurlaub an der Ostsee bevor und damit die Frage nach dem geeigneten Sonnenschutzmittel für den Sprössling auf der Tagesordnung. Mit unserer Kinder-Serie möchten wir Ihnen nützliche Informationen an die Hand geben, damit Sie Familien mit Kindern in diesen und zahlreichen anderen Fällen kompetent beraten können.
Junge, Mädchen, groß, klein, dick oder dünn? Nicht nur äußerlich unterscheiden sich Kinder, auch hinsichtlich der pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Gegebenheiten sind sie individuell verschieden. Diese Besonderhei­ten sollten sich auch in der Dosierung und Applikation von Arzneimitteln niederschlagen.

Sonnencremes gibt es auch im Drogeriemarkt nebenan. Leidet das Kind jedoch an einer schweren Mittelohrentzündung oder Angina, lehnt aber den vom Arzt verordneten Antibiotika-Saft wegen des schlechten Geschmacks ab, kann nur die Apotheke weiterhelfen (siehe Fallbeispiel 1). Wie bei allen anderen Patientengruppen sollte sich die Apotheke daher auch bei Kindern und deren Eltern auf ihre Kernkompetenz – die Beratung rund um das Arzneimittel – konzentrieren.

Im Mittelpunkt der Serie stehen deshalb die wichtigsten Erkrankungen im Kindesalter und ihre Behandlungsmöglichkeiten, praxisnahe Tipps zur richtigen Anwendung von Arzneiformen und zahlreiche Fallbeispiele.

Kinder sind eine sehr heterogene Patientengruppe. Zwischen den Altersgruppen (siehe Tab. 1.) gibt es große pharmakodynamische und pharmakokinetische Unterschiede, die bei der Dosierung und Applikation von Arzneimitteln berücksichtigt werden müssen. Zusätzlich treten innerhalb der Altersgruppen starke interindividuelle Unterschiede auf.

Bei Früh- und Neugeborenen (< 36. Schwangerschaftswoche, 0 bis 27 Tage) ist die Epidermis dünn und kaum keratiniert; daher ist eine Resorption von Arzneistoffen über die Haut sehr leicht möglich. Bei oraler Gabe von Arzneimitteln müssen die geringe Säureproduktion des Magens, der spärliche Gallenfluss und die verlängerte Magen-Darm-Passagezeit berücksichtigt werden. Die Blut-Hirn-Schranke ist noch nicht vollständig ausgebildet, daher können Arzneistoffe leichter als bei älteren Kindern in das ZNS übertreten. Die Metabolisierung ist bei Früh- und Neugeborenen stark eingeschränkt, die Nierenfunktion verringert. Sie liegt beim Frühgeborenen bei ca. 10 bis 20%, beim Neugeborenen bei ca. 20 bis 40% im Vergleich zum Erwachsenen. Charakteristisch für das Säuglingsalter (28 Tage bis 23 Monate) ist ein rasches Wachstum, eine kontinuierliche Änderung der Körperzusammensetzung (z. B. Wasserverlust, Erhöhung des Fettanteils) und die zunehmende Organreife. Am Ende des Säuglingsalters ist die Reifung von Niere und Leber abgeschlossen, die Plasmaproteinbindung entspricht weitgehend den Verhältnissen bei Erwachsenen. Die Applikation von Arzneimitteln ist in dieser Altersgruppe meist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Am ehesten sind Suppositorien oder gut schmeckende flüssige Oralia applizierbar, feste Oralia sind eher nicht geeignet.

Im Kindesalter (zwei bis elf Jahre) können auch schwieriger zu handhabende Arzneiformen wie Asthmasprays oder feste Oralia angewendet werden. Da das Wachstum nun langsamer verläuft als in den ersten beiden Lebensjahren, können Dosisanpassungen in größeren Intervallen erfolgen. Bei vielen Arzneistoffen ist die Dosierung pro Kilogramm Körpergewicht höher als bei Erwachsenen. Häufig wird über die Körperoberfläche dosiert.

Im Jugendalter (12. bis 17. Lebensjahr) kommt es noch einmal zu einem Wachstumsschub. Die Dosierung von Arzneimitteln entspricht weitgehend der bei Erwachsenen, bezüglich der Applikation von Arzneiformen gibt es keine Einschränkungen. Problematischer wird in dieser Altersgruppe die Compliance – vor allem bei chronisch erkrankten Kindern – da es oft schwierig ist, einen geregelten Tagesablauf einzuhalten.

Rechtliche Besonderheiten

Seit dem Contergan® -Skandal unterliegt die Zulassung von Arzneimitteln in Deutschland strengen gesetzlichen Vorschriften. Dies gilt insbesondere für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche, da sie als "nicht einwilligungsfähige" Personen eine besonders schützenswerte Patientengruppe darstellen.

Daraus ist jedoch eine paradoxe Situation entstanden: da klinische Studien mit Kindern mit einem viel größeren Aufwand verbunden sind als solche mit Erwachsenen, verzichten viele Pharmahersteller darauf und geben Kinder als Kontraindikation an. Die Kinderärzte sehen sich daher in vielen Fällen gezwungen, Arzneimittel bei Kindern außerhalb der Zulassung ("off label") anzuwenden. Auf neonatologischen Intensivstationen werden derzeit etwa 90%, auf onkologischen Stationen zwischen 50 und 70% und im niedergelassenen Bereich immerhin noch zwischen 20 und 30% der Arzneimittel entweder ohne Zulassung ("unlicensed") oder außerhalb des Zulassungsbereiches bei Kindern eingesetzt. Eine Off-label-Anwendung liegt dann vor, wenn das Arzneimittel

  • nicht für die entsprechende Indikation,
  • nicht für diese Altersgruppe,
  • nicht in der angegebenen Dosierung,
  • nicht in der verordneten Applikationsart zugelassen ist.

Letzteres ist dadurch begründet, dass es nicht genügend kindgerechte Darreichungsformen gibt. Daher muss in der Praxis häufig die Galenik verändert werden (z. B. Öffnen von Hartgelatine-Kapseln und Suspension des Inhaltes in Flüssigkeit).

Bei Off-label-Verordnung eines Arzneimittels unterliegt der Arzt einer besonderen Dokumentations- und Informationspflicht. Werden die Eltern nicht darauf hingewiesen, dass das Arzneimittel für die Altersgruppe ihres Kindes zwar nicht zugelassen, dessen Anwendung aufgrund langjähriger Erfahrungen jedoch sicher ist, können bei der Lektüre des Beipackzettels (Kontraindikation: Kinder und Jugendliche) Fragen auftauchen. Im Beratungsgespräch gelingt es meist – eventuell nach Rücksprache mit dem Arzt – entsprechende Bedenken der Eltern auszuräumen (siehe Fallbeispiel 2).

Neue EU-Verordnung für höhere Therapiesicherheit

Am 26. Januar 2007 ist eine neue EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln in Kraft getreten, über die in der DAZ schon ausführlich berichtet wurde (siehe DAZ Nr. 5/2007, S. 18-20, 50-60). Durch diese Verordnung sind Pharmaunternehmen jetzt verpflichtet, alle in Entwicklung befindlichen Arzneimittel auch für Kinder und Jugendliche zu prüfen und zur Zulassung zu bringen, sofern diese für Minderjährige in Betracht kommen. Die Unternehmen erhalten dafür einen um sechs Monate verlängerten Schutz vor Nachahmerpräparaten. Für bereits zugelassene Präparate mit abgelaufenen Schutzfristen gibt es zwar keine Verpflichtung, jedoch Anreize, sie nachträglich auch für Kinder und Jugendliche zu erproben und dafür eine spezielle "Kinderzulassung" zu erwirken. Für ein solches Arzneimittel kann dem Hersteller dann bis zu zehn Jahre lang ein Datenschutz gewährt werden. Die neue europäische Verordnung soll den Rahmen dafür schaffen, die Zahl kindgerechter Arzneimittel rasch zu steigern.

Kinder als "Versuchskaninchen"?

Aus der Verordnung ergibt sich die Notwendigkeit, erheblich mehr klinische Studien mit kranken Minderjährigen durchzuführen als bisher. Damit diese auch realisiert werden können, sind zahlreiche strukturelle Maßnahmen geplant. Hierzu zählen beispielsweise die Weiter- und Fortbildung der Pädiater und Pflegekräfte in der Durchführung von Arzneimittelstudien nach den sehr umfangreichen und aufwändigen EU-Leit- und Richtlinien, die Entwicklung von wenig belastenden und kindgerechten Prüfmethoden und der Aufbau von Studiennetzwerken mit möglichst vielen Kinderkliniken und Arztpraxen. Ziel ist es, Zentren zur Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen bei Kindern einzurichten und Register aufzubauen, die bei Kindern, die eine neuartige Arzneimitteltherapie mit unklarem Langzeitrisiko erhalten, den Verlauf bis ins Erwachsenenalter erfassen. Eine wichtige Rolle bei dieser Strukturentwicklung spielt das PAED-Net. Dieses vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Netzwerk (siehe Kasten "Weitere Links") hat das Ziel, Infrastruktur und Expertise für Arzneimittelstudien aufzubauen. Die "mentale Hürde", die Eltern überwinden müssen, wenn sie ihre Einwilligung zur Studienteilnahme ihres kranken Kindes geben, ist sicher nicht zu unterschätzen. Doch letztendlich sehen viele Eltern in dieser Teilnahme eine – und in nicht wenigen Fällen eine letzte – Chance auf wirksame Behandlung der kranken Kinder. Dies trifft vor allem auf seltene Erkrankungen wie angeborene Stoffwechseldefekte zu. Ein weiterer Vorteil: Die medizinische Betreuung erfolgt in Studien stets nach neuestem medizinischem Standard und ist in vielen Fällen hinsichtlich Anamnese und Behandlungs-begleitender Diagnostik umfassender, als sie es im Rahmen einer normalen Behandlung sein kann.

Wo kann man Kinderdosierungen nachschlagen?

Die EU-Verordnung sieht vor, dass spätestens in drei Jahren auf jeder Arzneimittelpackung ein besonderes (noch zu beschließendes) Symbol darauf hinweist, dass das Präparat für Kinder zugelassen ist. Dann kann die Dosierung für das entsprechende Lebensalter aus der Packungsbeilage entnommen werden. Bis dahin müssen andere Quellen genutzt werden, wenn die Dosierung für ein Kind überprüft werden soll (siehe Kasten "Literatur für Angaben zu Kinderdosierungen").

Die Abgabe eines Arzneimittels in der Apotheke sollte mit eindeutigen und vollständigen Hinweisen zur Dosierung, Art und Dauer der Anwendung erfolgen. Einen Überblick über die richtige Anwendung der verschiedenen Arzneiformen bei Kindern gibt der zweite Teil der Serie.

Quelle

Bruhn, C.; Frey, O.; Wagner, R.: Das Kind in der Apotheke. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart (2006).

Anschrift der Verfasserin:

Dr. Claudia Bruhn

12163 Berlin

Ahornstr. 8
Fallbeispiel 1
Antibiotikum wird vom Kind aufgrund des Geschmacks abgelehnt
Fallbeschreibung: Einem fünfjährigen Kind wurde wegen einer Streptokokken-Angina ein Penicillin-Präparat verordnet. Vier Tage, nachdem die Mutter das Präparat geholt hat, kommt sie erneut in die Apotheke und berichtet, dass es ihrem Kind inzwischen viel besser ginge und es sich nun weigere, den unangenehm schmeckenden Saft weiterhin einzunehmen. Der Arzt habe ihr aber gesagt, sie solle die ganze Flasche verabreichen. Die Mutter erkundigt sich, ob sie die Therapie vorzeitig beenden könne und sie ihrem Kind stattdessen ein homöopathisches Mittel verabreichen dürfe.
Problem: Bei Streptokokken-Angina ist orales Penicillin Mittel der Wahl (für ein fünfjähriges Kind in einer Dosierung von 1,2 bis 1,8 Millionen IE pro Tag in zwei bis drei Einzelgaben). Bei adäquater Therapie tritt in der Regel nach 24 bis 48 Stunden eine deutliche Besserung ein. Eine Therapiedauer von zehn Tagen ist unumgänglich, andernfalls kann es zum Auftreten eines Rezidivs kommen.
Beratung: Die Mutter muss in der Apotheke unbedingt über die Möglichkeit des Auftretens eines Rückfalls aufgeklärt werden, falls sie die Therapie abbricht.
Da der Geschmack des verordneten Saftes vom Kind nicht mehr akzeptiert wird, kann der Mutter angeboten werden, dass sie – nach Rücksprache mit dem Kinderarzt – für die restlichen Therapietage das Penicillin in Tablettenform erhält. Für eine altersgerechte Dosierung müssen diese Tabletten eventuell geteilt werden. Falls die Mutter Schluckbeschwerden befürchtet, kann ihr empfohlen werden, die Tablette zuhause zu zerkleinern und dem Kind z. B. mit etwas Marmelade zu verabreichen.
Fallbeispiel 2
Gegenanzeige "Kinder und Jugendliche" im Beipackzettel eines vom Kinderarzt verordneten Hustenbalsams
Fallbeschreibung: Eine Mutter kommt in die Apotheke und berichtet, dass sie wenige Stunden zuvor einen vom Arzt verordneten Hustenbalsam (Wirkstoff: Eucalyptusöl) für ihr dreijähriges Kind abgeholt habe. Nach der Lektüre des Beipackzettels sei sie völlig verunsichert, da dort stehe, dass für die Anwendung bei Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren keine ausreichenden Untersuchungen vorliegen.
Problem: Mit der Umsetzung der neuen EU-Verordnung wird es immer weniger Präparate geben, bei denen Hersteller wegen nicht vorhandener klinischer Studien für Kinder als Gegenanzeige "Kinder und Jugendliche" in die Packungsbeilage aufnehmen.
Beratung: Der besorgten Mutter sollte erklärt werden, wie dieser Hinweis zustande kommt und dass der Kinderarzt das Präparat auf der Basis langjähriger Erfahrungen verordnet hat; die Anwendung sei daher unproblematisch.
Das PAED-Net ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Netzwerk mit dem Ziel, Infrastruktur und Expertise für Arzneimittelstudien in der Pädiatrie aufzubauen, um zur Verbesserung von Arzneimitteltherapie und -sicherheit in Deutschland beizutragen. Derzeit sind dem PAED-Net sechs Universitätskliniken angeschlossen.
Unter diesem Link findet sich eine Liste der Zulassungen und Zulassungserweiterungen von Arzneimitteln für Kinder und Jugendliche, die ständig aktualisiert wird.
  • Bruhn, C.; Frey, O.; Wagner, R.: Das Kind in der Apotheke. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart (2006).
  • von Harnack, G. A.; Janssen, F.: Pädiatrische Dosistabellen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart (2003).
  • Ankermann, T.; Pankau, R.; Wessel, A. (Hrsg). Arzneimitteltherapie und Ernährung im Kindesalter, Hinweise und Tipps für Klinik und Praxis. Arzneimitteltherapie und Ernährung im Kindesalter, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart (2005).
  • Wigger, D.: Medikamente in der Pädiatrie. Urban & Fischer (2007).
  • Taketomo, C.; Hodding, J.; Kraus, D.: Pediatric Dosage Handbook. American Pharmaceutical Association (2002).
Von 0 auf 18
Länge, Gewicht, Enzymaufbau: Kinder wachsen auf der Überholspur. Was heute noch gilt, kann morgen schon anders sein. Drei Profis aus Krankenhaus und Offizin zeigen, worauf es ankommt.
  • Ihre Kernkompetenz: Rund 200 Steckbriefe von Wirkstoffen enthalten Wissen weit über Fachinfos hinaus.
  • Know-how für Ihre Beratung: 60 typische Krankheitsbilder im Überblick decken auf, was dahinter steckt. Fakten zu Impfungen, Ernährung oder Reisen mit Kindern rüsten Sie für das Gespräch.
  • So klappt‘s: Der passende Kniff bei der Anwendung garantiert den Erfolg der Therapie.
Kleine Kranke, großer Anspruch: Eltern schätzen den Rat der Apotheke. Werden Sie diesem Vertrauen gerecht!
Claudia Bruhn, Otto Frey, Rita Wagner
Das Kind in der Apotheke
Krankheiten, Wirkstoffe, Besonderheiten der Behandlung
2005. 432 S., 32 s/w Abb., 60 s/w Tab. Kartoniert.
ISBN 978-3-7692-3513-5
Deutscher Apotheker Verlag Stuttgart
Dieses Buch können Sie einfach und schnell bestellen unter der Postadresse:
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