Arzneimittel und Therapie

Multiple Sklerose

Natalizumab verhindert Entzündungen im Gehirn

Zur Basistherapie der multiplen Sklerose werden Beta-Interferone und Glatirameracetat, als Mittel der zweiten Wahl Azathioprin und Immunglobuline eingesetzt. Wenn diese Basistherapeutika nicht ausreichend wirken und die Krankheit weiter voranschreitet, gibt es mit Natalizumab (Tysabri®) von der Firma Biogen seit August 2007 eine zusätzliche Behandlungsoption.

Natalizumab wird von der MS-Therapie Konsensusgruppe (MSTKG) zur Monotherapie bei immunmodulatorisch oder -suppressiv vorbehandelten Patienten empfohlen, wenn diese eine hochaktive schubförmige multiplen Sklerose aufweisen oder als Primärtherapie bei Patienten, bei denen die Erkrankung rasch fortschreitet.

Natalizumab richtet sich gegen ein Adhäsionsmolekül auf Lymphozyten und Monozyten, das Alpha-4-Integrin. Der Antikörper soll Entzündungsreaktionen verhindern, indem er die Kommunikation zwischen den Immunzellen stört. Wahrscheinlich hindert Natalizumab Immunzellen daran, die Blutgefäße zu verlassen und in entzündete Gewebe zu wandern. Damit blockiert Natalizumab gezielt den Übertritt der Leukozyten durch die Blut-Hirn-Schranke und schirmt das ZNS gegen Entzündungszellen ab.

Eine Infusion im Monat

Natalizumab wird einmal monatlich in einer Dosis von 300 mg infundiert. Der neue Antikörper kann die Schubrate im Vergleich zu Placebo um 68% reduzieren, wie sich in der zweijährigen Zulassungsstudie zeigte. Unter der Therapie mit Natalizumab verminderten sich auch die aktiven MS-spezifischen Läsionen im Kernspintomogramm, und der Anteil der Patienten mit anhaltender Behinderungsprogression reduzierte sich um 54%. Bisher wurde diese gute Wirkung über einen Zeitraum von zwei Jahren nachgewiesen. Bei 28% der Patienten zeigte sich in diesem Zeitraum überhaupt keine Krankheitsaktivität, unter der Placebotherapie waren das nur 6%.

Jetzt liegen Daten von einer bis zu dreijährigen Therapiedauer vor. Demnach bleiben die Schubraten auch im dritten Behandlungsjahr stabil niedrig, der Anteil progressionsfreier Patienten liegt nach drei Jahren mit fast 90% weiter sehr hoch.

Potenziell tödliche Infektionen als Nebenwirkung?

Natalizumab beeinflusst die Reaktion der T-Zellen im Gehirn. Theoretisch besteht dadurch die Möglichkeit, dass auch Infektionen nicht mehr abgewehrt werden können. In den klinischen Studien erkrankten zwei Patienten an einer seltenen virusbedingten Hirnerkrankung, der potenziell tödlichen progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML). Ein dritter Patient, der Natalizumab zur Behandlung eines Morbus Crohn erhalten hatte, starb.

Die progressive multifokale Leukenzephalopathie ist eine sehr seltene Folgeerkrankung einer Hirninfektion mit dem JC-Virus. Sie trat bisher nur bei Aids-Patienten oder bei Organtransplantierten auf, da der Erreger normalerweise vom Immunsystem zuverlässig eliminiert wird. Als Vorsichtsmaßnahme sollte auf eine Kombinationstherapie verzichtet werden, denn die PML-Fälle traten bei Patienten auf, die neben Natalizumab auch das Interferon-Präparat Avonex® erhalten hatten.

Bis jetzt sind weltweit über 18.000 Patienten mit Natalizumab behandelt worden, ohne dass weitere schwere Nebenwirkungen auftraten.

In der Entwicklung: Alemtuzumab

Ein weiterer monoklonaler Antikörper zur Behandlung der MS befindet sich derzeit in der Entwicklung: Alemtuzumab (MabCampath®) von Bayer und Genzyme wird in einer klinischen Phase-II-Studie bei der schubförmig-remittierenden multiplen Sklerose in zwei verschiedenen Dosierungen einmal jährlich als intravenöse Infusion erprobt.

Der Antikörper ist bei uns seit 2001 für die Behandlung der chronisch-lymphatischen B-Zell-Leukämie (B-CLL) bei Patienten, die mit alkylierenden Substanzen vorbehandelt sind und auf eine Therapie mit Fludarabin nicht mehr ausreichend ansprechen, zugelassen.

Alemtuzumab bindet spezifisch an den CD52-Rezeptor. Dieses Glykoprotein ist an der Oberfläche praktisch aller B- und T-Lymphozyten sowie von Monozyten, Thymozyten und Makrophagen im peripheren Blut zu finden. Der Antikörper markiert die entsprechenden Zellen für die Vernichtung durch das körpereigene Immunsystem. Dieses greift an, es kommt zur Komplementfixierung und einer antikörperabhängigen, zellvermittelten Zytotoxizität. Die Folge ist die Lyse der markierten Zellen.

Da der Antikörper nicht nur entartete, sondern auch gesunde Leukozyten eliminiert, geht die Behandlung teilweise mit drastischen Nebenwirkungen einher. Schwere Blutungsreaktionen wurden häufig beschrieben. Auch in den klinischen Studien zur Behandlung der multiplen Sklerose kam es zu gravierenden unerwünschten Wirkungen: Bis jetzt erkrankten drei Patienten an schwerer idiopathischer thrombozytopenischer Purpura, einer davon starb.

Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe der einjährigen Behandlung einen MS-Schub zu erleiden, war bei den Patienten, die Alemtuzumab erhielten, um mindestens 75, nach neuesten Daten sogar um 94% geringer als bei denjenigen, die mit Interferon beta-1a behandelt wurden.

Die Patienten sollten aber über die Zeichen und Symptome der idiopathischen thrombozytopenischen Purpura aufgeklärt sein, damit sie rechtzeitig einen Arzt aufsuchen können. Dann ist diese Nebenwirkung meistens behandelbar. Fast alle in der Studie mit Alemtuzumab behandelten Patienten haben bereits die Dosis für das zweite Jahr erhalten. In den kommenden Monaten werden Schering und Genzyme untersuchen, ob die vorgesehene dritte Dosis notwendig ist und wann sie gegebenenfalls verabreicht werden soll.

Quelle

Vorträge und Informationen auf dem 80. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Berlin, 12. bis 15. September 2007.

hel
Bei der multiplen Sklerose werden Nerven des zentralen Nervensystems geschädigt. Eine der Ursachen für die Erkrankung ist eine Autoimmunreaktion gegen Komponenten der Myelinscheiden. Außerdem werden Nervenzellen abgebaut. Der humanisierte monoklonale Antikörper Natalizumab bindet spezifisch an ein Integrin auf Leukozyten und verhindert dadurch deren Wanderung durch das Gefäßendothel in entzündliches Parenchymgewebe.
Foto: Serono

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