DAZ aktuell

Tod auf Rezept?

Klaus Heilmann

Kaum ein Tag vergeht, an dem es keine Horrormeldungen über die Nebenwirkungen von Medikamenten gibt. Zehntausende von Toten durch Arzneimittel. Sterben mehr Menschen durch Medikamente als durch Verkehrsunfälle? Keiner weiß es so genau, sagen die Kritiker, fügen aber gleich hinzu, dass man zur Beantwortung der Frage auf die Informationen der Pharmaindustrie angewiesen ist, die es mit der Wahrheit bekanntlich nicht so genau nehmen soll. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bestätigt die hohen Todeszahlen, ebenso der Bremer Gesundheitsforscher Gerd Glaeske und Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Jeder nennt Zahlen, jeder nennt andere, aber alle sind sie hoch.

Also, auf die Informationen der Pharmaindustrie ist man hierbei überhaupt nicht angewiesen, denn dass Arzneimittel mehr Todesopfer fordern als der Straßenverkehr, ist kein Geheimnis, sondern seit Langem ein Faktum.

Doch niemand der Experten sagt, dass die meisten dieser Fälle in die Kategorie "vermeidbar" gehören, also nicht substanzbedingt sind. Die Menschen sterben im Zusammenhang mit Arzneimitteln, nicht durch sie.

Und wenn im Zusammenhang mit den ach so gefährlichen Arzneimitteln auch noch beklagt wird, dass immer mehr schwierige Kinder mit Medikamenten lenkbar gemacht werden, muss man schon fragen dürfen, was das Versagen von Elternhaus und Schule eigentlich mit der Sicherheit der Medikamente zu tun hat. Dass die Pharmaindustrie den versagenden Erziehern gerne helfend zur Seite springt, ist eine andere Sache. Sie reagiert eben – wie jedes andere Wirtschaftsunternehmen auch – auf Nachfrage.

Arzneimittel wie auch Automobile sind per se nicht gefährlich, Probleme mit ihnen entstehen meist erst durch ihren fehlerhaften Gebrauch. Damit ein Auto sicher durch den Verkehr geführt werden kann, muss sein Gebrauch erlernt und ein Führerschein erworben werden. Die gleichen Bedenken wie mit Autos hat der Gesetzgeber bei Arzneimitteln nicht. Obwohl sie hoch wirksame chemische Produkte sind, bei deren Anwendung viele "Verkehrszeichen" zu beachten sind, lässt man Laien völlig unkontrolliert mit ihnen umgehen. Und entlässt immer mehr Substanzen aus der Verschreibungspflicht und hat auch nichts gegen ihren Vertrieb im Internet und in Drogeriemärkten.

Durch den ARD-Zweiteiler, der kürzlich an die Contergan-Tragödie vor 50 Jahren erinnert hat, ist das Thema Arzneimittelsicherheit wieder in den Fokus gerückt. Experten beklagen, dass sich seither nicht viel geändert hat, dass die Sicherheit von Medikamenten in Deutschland nach wie vor mangelhaft sei. Also, erstens gibt es so etwas wie ein sicheres Arzneimittel überhaupt nicht, denn es gibt auch keine sicheren Gifte, und Arzneimittel sind (dosisabhängig) Gifte. Und zweitens ist nicht die Sicherheit der Medikamente das Problem, sondern der Umgang mit ihnen.

Etwa 80 Prozent aller Medikamente müssen von Patienten eigenverantwortlich angewandt werden. Dies ist ökonomisch vernünftig und praktisch auch gar nicht anders machbar. Das Prinzip Arzneimittelsicherheit erfordert jedoch eine ständig vorzunehmende Nutzen-Schaden-Beurteilung der Präparate. Sie obliegt nicht nur den zuständigen staatlichen Organen, dem Hersteller, den das Präparat verordnenden Ärzten und den es abgebenden Apothekern, sondern auch dem Arzneimittelanwender. Allerdings setzt dies voraus, dass sich der Konsument, der ja Laie ist, ein möglichst umfassendes Bild über das Medikament machen kann und dadurch in den Stand versetzt wird, die Konsequenzen seiner Anwendung bei sich richtig einzuschätzen. Mangelnde Aufklärung gehört zu den Hauptgründen für die fehlerhafte Anwendung von Arzneimitteln. Der Weg weg vom (ratgebenden) Apotheker wird den "sicheren" Umgang mit Arzneimitteln sicher nicht verbessern.

Die Arzneimittelsicherheit wird heute aber noch auf andere Weise gefährdet. Die Verordnung von Medikamenten ist die wichtigste Behandlungsmaßnahme eines Arztes überhaupt. Sein Verschreibungsverhalten hängt von vielen Faktoren ab, besonders aber von seiner selbstgemachten Erfahrung mit den von ihm verwendeten Medikamenten. Ständig neue Bestimmungen wie Positiv- und Negativ-Listen oder Aut-idem-Regelungen sowie die Ausgliederung der rezeptfreien Arzneimittel beeinflussen die Verordnungssicherheit des Arztes in negativer Weise: der Arzt verliert Erfahrungen. Und Erfahrung mit einem Arzneimittel gewinnt man nur durch jahrelangen Umgang mit ihm, sie kann nicht durch Nachschlagen in Listen gewonnen werden.

Glaeske und Sawicki sind überzeugt, dass eine bessere Erforschung von Nebenwirkungen nach der Marktzulassung die Situation verbessern würde (ja, dazu müssen sie aber erst auftreten). Und sie rügen in diesem Zusammenhang, dass der Blutfettsenker Lipobay oder das Rheumamittel Vioxx erst nach Bekanntwerden von Nebenwirkungen vom Markt genommen wurden (ja, sollten sie es vorher werden?). Wann wird endlich begriffen, dass man Probleme nicht lösen kann, bevor man sie erkannt hat?

Klaus Heilmann

 

 

Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift Heilmann Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.