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Welchen Stellenwert hat Sicherheit?

Beatrice Rall

Es kam "überraschend": Die EU-Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Die deutsche Regelung, wonach nur Apotheker eine Apotheke führen und maximal drei Filialen betreiben dürfen, erfüllt nach Auffassung der Kommission nicht die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot verletzt das Gemeinschaftsrecht, meint die Behörde und hat die Bundesregierung zu einer Stellungnahme aufgefordert – weitere rechtliche Schritte könnten folgen.

Wie Sie in unserem Bericht auf S. 18 lesen können, spielt in dem Schreiben aus Brüssel das Thema Arzneimittelsicherheit eine wichtige Rolle – allerdings nicht im positiven Sinn. Denn offenbar sieht man bei der EU-Kommission die Sicherheit bei der Arzneimittelversorgung der Bürger durch Lockerungen des bislang geltenden Fremd- und Mehrbesitzverbotes nicht gefährdet. Es müsse nur in jeder Apotheke "ein qualifizierter Apotheker anwesend sein, der für die Verwaltung, die Lagerung und die Abgabe der Arzneimittel zuständig ist", dann gebe es keinen Grund, Kapitalgesellschaften als Betreiber dieser Apotheke zu verbieten oder eine räumliche Nähe von Filialen einzufordern. Schließlich erlaube Deutschland ja auch den Arzneimittelversandhandel aus dem Ausland. Und wenn der "sicher" funktioniere, dann müsse alles andere doch auch gehen.

Dass es sicher nicht geht – zumindest nicht mit dem bislang in Deutschland geltenden hohen Standard zur Arzneimittelsicherheit – zeigt ein aktueller Bericht aus den USA (S. 20). Darin werden eklatante Sicherheitsmängel bei der Abgabe von Arzneimitteln in Kettenapotheken beschrieben. Verantwortlich für die Abgabefehler machen die Berichterstatter das Kettenmanagement, das von seinen Angestellten offenbar Umsatzsteigerungen um jeden Preis fordert. Wert wird vor allem auf schnelle Abfertigung der Kunden gelegt. Zwei Minuten pro Rezeptbearbeitung müssen reichen, zu "Risiken und Nebenwirkungen" fragt der Kunde hoffentlich nicht nach. Soll die Entwicklung bei uns tatsächlich auch in diese Richtung gehen? Kann man davon ausgehen, dass deutsche Kapitalgesellschaften (und auch ausländische, die dann wohl auf den Markt drängen werden) beim Betrieb einer Apothekenkette hierzulande den Euro weniger im Blickfeld haben werden als die amerikanischen den Dollar? Die Antwort hierauf lautet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nein. Und dass der im Schreiben der EU-Kommission erwähnte Arzneiversandhandel aus dem Ausland eben keine sichere Versorgungsform darstellt, hat gerade erst wieder eine Untersuchung des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker ergeben: Bei einem Testkauf via Internet stellten sich 60 Prozent der Arzneimittel als Fälschungen heraus (s. S. 26). Nicht gerade ein Paradebeispiel für eine gute Arzneimittelsicherheit – aber leider sicherlich kein Grund für die EU-Kommission und weitere Befürworter von Arzneimittelversandhandel sowie Fremd- und Mehrbesitz, ihre Meinung über die Notwendigkeit einer Liberalisierung des deutschen Apothekenmarktes zu revidieren.

Auch wenn es eigentlich schon oft genug betont wurde, muss man es allen Liberalisierungsbefürwortern wohl noch einmal vor Augen führen: Arzneimittel sind Waren der besonderen Art und bedürfen besonderer Sicherheitsmaßnahmen. Und selbst beim bislang in Deutschland geltenden Sicherheitsstandard kommt es immer wieder zu Zwischenfällen und Diskussionen um die Arzneimittelsicherheit (was eigentlich zu denken geben sollte). So ist aktuell die Diskussion um die Sicherheit der Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs entbrannt. Ab S. 63 können Sie lesen, wie die noch bis vor Kurzem als weltweit erste Krebsimpfung gefeierte und mit einer groß angelegten Kampagne allen Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren dringend empfohlene Immunisierung gegen HPV durch Berichte über damit in zeitlichem Zusammenhang stehende Todesfälle zunehmend in Kritik gerät. Kritik, die berechtigt sein mag oder auch nicht. Kritik, die jedoch in jedem Fall zeigt, dass die Sicherheit eines Arzneimittels nicht automatisch mit seiner Markteinführung gegeben ist. Kritik, die zudem zu Verunsicherung bei jungen Frauen führt, und die damit die Notwendigkeit und den Stellenwert einer guten und ausführlichen Arzneimittelberatung wieder einmal deutlich macht. Eine Beratung, die im derzeitigen deutschen Apothekensystem noch möglich ist – die aber in einer Kettenapotheke, in der einem nur noch maximal zwei Minuten pro Kunde zugestanden werden, mit Sicherheit nicht mehr zu finden sein wird.


Beatrice Rall

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