Stereochemie

Dex-, Lev-, Ar-, Es-, Rac-, neue "reine" Arzneistoffe

Bilanz der letzten fünf Jahre

von Hermann J. Roth*

Im Mai 2004 wurde in der DAZ eine Bilanz gezogen zwischen racemischen und enantiomerenreinen Arzneistoffen, die in den Jahren 1999 bis 2003 den aktuellen Arzneischatz bereichert hatten [1]. Dabei ging es um chirale Moleküle, die über ein oder mehrere Asymmetriezentren verfügen und deren Enantiomere molekulare Bilder und Spiegelbilder darstellen. Fünf Jahre später soll nun in knapper Form untersucht werden, ob und wie sich der positive Trend hin zum "reinen", d. h. enantiomerenreinen Wirkstoff fortgesetzt hat.

*Herrn Dr. Kurt Michel zum 70. Geburtstag gewidmet.

Chiralität (Hände und Gesicht) Farbradierung von H. J. Roth, 1996

Neue monochirale Arzneistoffe: mehr Enantiomere, weniger Racemate

In Tabelle 1 sind die 25 neuen monochiralen Arzneistoffe zusammengefasst, die im Zeitraum 2004 bis 2008 in Deutschland auf den Markt gekommen sind [2]. Darunter sind zwei reine Enantiomere (Dexrazoxan und Levobupivacain), die als Eutomere die bisherigen Racemate ersetzen (s. u.). Neu in die Therapie eingeführt wurden 18 Enantiomere. Als Racemate kamen fünf Arzneistoffe hinzu. Das Verhältnis von reinen Enantiomeren zu Racematen beträgt also insgesamt 20:5.

Der Vergleich mit dem vorangegangenen Lustrum zeigt, dass das Verhältnis deutlich zugunsten der Enantiomere verschoben wurde. Im Zeitraum 1999 bis 2003 waren sechs racemische Arzneistoffe durch reine Enantiomere ersetzt worden und neun neue Enantiomere hinzugekommen. Als Racemate waren neun Arzneistoffe neu in den Markt eingeführt worden. Das Verhältnis von reinen Enantiomeren zu Racematen betrug damals insgesamt 15:9 [1].

Übrigens sind alle neuen monochiralen Arzneistoffe synthetischer Art. Ihre stereospezifische Synthese dürfte heute ohne allzu großen Aufwand möglich sein. Deshalb ist die Frage an die Hersteller zu stellen, warum sie unter den 23 neu eingeführten monochiralen Arzneistoffen noch fünf als Racemate anbieten: Eflornithin, Manidipin, Paliperidon, Racecadotril und Stiripentol.

Erläuterungen zur Nomenklatur
Präfixabgeleitet vonBedeutung
Dex-dexter = rechtsD-Form (Fischer Projektion) oder rechtsdrehend*
Lev-laevus = linksL -Form (Fischer Projektion) oder linksdrehend*
Ar-, Er-R -FormR -Enantiomer 
(CIP-Nomenklatur)
Es-S -FormS -Enantiomer 
(CIP-Nomenklatur)
Rac-RacematMischung gleicher Teile beider Enantiomere
* Die D-Form muss nicht rechtsdrehend und die L -Form muss nicht linksdrehend sein.

Vorteile der Eutomeren gegenüber den Racematen

Razoxan / Dexrazoxan (Abb. 1). Das Racemat wurde als antineoplastischer Wirkstoff eingesetzt. Das reine S-Enantiomer findet darüber hinaus Anwendung bei einer Extravasation durch Anthracycline. Es verringert die Kardiotoxizität der Anthracycline, indem es als Eisenchelatbildner in Konkurrenz zu diesen tritt und damit die Bildung freier Radikale unterdrückt.

Bupivacain / Levobupivacain (Abb. 1). Das linksdrehende Enantiomer führt zu weniger kardialen Nebenwirkungen, während das rechtsdrehende die Natriumkanäle stärker und länger blockiert.

Tab. 1: Neue monochirale Arzneistoffe (d. h. mit 1 Asymmetriezentrum): Art des Enantiomers ( R oder S ) bzw. Racemat ( R,S ), Jahr der Markteinführung und Indikation
ArzneistoffPräparat®CIPJahrIndikation
AmbrisentanVolibrisS2008Pulmonale arterielle Hypertonie
AtomoxetinStratteraR2005ADHS
CarglumsäureCarbagluS2004Hyperammonämie
CinacalcetMimparaR2004Hyperparathyreoidismus
DarifenacinEmselexS2004Blasenschwäche
DexrazoxanSaveneS2006Extravasation durch Anthracycline
DuloxetinYentreveS2004Inkontinenz bei Frauen
EflornithinVaniqaR,S2004Hirsutismus im Gesicht von Frauen
FesoterodinToviazR2008Überaktive Blase
IvabradinProcoralanS2006Angina pectoris
LacosamidVimpatR2008Epilepsie
LenalidomidRevlimidR2007Multiple Sklerose
LevobupivacainChirocainS2004Lokalanästhesie, Analgesie
ManidipinManyperR,S2004Essenzielle Hypertonie
PaliperidonInvegaR,S2007Schizophrenie
PemetrexedAlimtaS2004Krebs
PregabalinLyricaS2004Epilepsie
RacecadotrilTiorfanR,S2004Akute Diarrhö bei Säuglingen
RasagilinAzilectR2005Parkinson
RivaroxabanXareltoS2008Prophylaxe venöser Thromboembolien
RotigotinNeuproS2006Parkinson
SitagliptinJanuviaR2007Diabetes Typ 2
SolifenacinVesikurR2004Reizblase
StiripentolDiacomitR,S2008Epilepsie
VildagliptinGalvusS2008Diabetes Typ 2

Neue Arzneistoffe mit mindestens zwei Asymmetriezentren

In Tabelle 2 sind die 36 neuen chiralen Arzneistoffe aufgelistet, die zwei oder mehr Asymmetriezentren (AsZ) enthalten. Die Häufigkeit der synthetischen, partialsynthetischen und nativen Stoffe innerhalb der Gruppen mit gleicher Anzahl Asymmetriezentren geht aus der Tabelle 3 hervor.

Tab. 2 Neue chirale Arzneistoffe mit mindestens zwei Asymmetriezentren (AsZ): Art der Synthese (N = nativ, P = partialsynthetisch, S = vollsynthetisch), Jahr der Markteinführung und Indikation
ArzneistoffPräparat®AsZArtJahrIndikation
AbarelixPlenaxis10S2008Prostatakarzinom
AliskirenRasilez4S2007Essenzielle Hypertonie
AnidulafunginEcalta14P2007Candida-Infektionen
ArgatrobanArgatra4S2005Thrombozytopenie
AtazanavirReyataz4S2004HIV-Infektion
BortezomibVelcade2S2004Multiples Myelom
CiclesonidAlvesco9P2005Entzündungen am Auge, Asthma bronchiale
DaptomycinCubicin13N2006Infektionen mit grampositiven Keimen
DarunavirPrezista5S2007HIV-Infektion
DoripenemDoribax5S2008Nosokomiale Pneumonie, intraabdominelle und Harnwegsinfektionen
EntecavirBaraclude3S2006Hepatitis B
EplerenonInspra8P2004Herzinsuffizienz
EverolimusCertican15P2004Immunsuppression nach Organplantation
FosamprenavirTelzir3S2004HIV-Infektion
FosaprepitantIvemend3S2008Zytostatika-induziertes Erbrechen
FulvestrantFaslodex6P2004Metastasiertes Mammakarzinom
IcatibantFirazyr10S2008Hereditäres Angioödem
LoteprednolLotemax7P2005Entzündungen am Auge
MaravirocCelsentri4S2007HIV-Infektion
MelagatranMelagatran2S2004Prophylaxe venöser Thromboembolien
MethylnaltrexonRelistor4S2008Suchterkrankungen
NalbuphinNalpain5S2008starke Schmerzen
NelarabinAtriance4S2007T-Zell-Leukämie
PalonosetronAloxi2S2005Zytostatika-induziertes Erbrechen
ParicalcitolZemplar7P2005Sekundärer Hyperparathyreoidismus
PosaconazolNoxafil4S2005Pilzinfektionen
RetapamulinAltargo11P2007Oberflächliche Hautinfektionen
RifaximinXifaxan9P2008Reisediarrhö
TafluprostTaflotan4S2008Glaukom (erhöhter Augeninnendruck)
TelbivudinSebivo3S2007Hepatitis B
TemsirolimusTorisel13P2007fortgeschrittenes Nierenzellkarzinom
TetrabenazinNitoman2S2007Bewegungsstörungen
TigecyclinTygacil4P2006Bakterielle Infektionen
TipranavirAptivus2S2005HIV-1-Infektion
TrabectedinYondelis8P2007Weichteilsarkom
XimelagatranExanta2S2004Prophylaxe venöser Thromboembolien

So wie die neuen monochiralen Arzneistoffe werden auch die sechs neuen Arzneistoffe mit je zwei AsZ synthetisch gewonnen: Bortezomib, Melagatran, Palonosetron, Tetrabenazin, Tipranavir und Ximelagatran. Ebenso ist es mit den vier Arzneistoffen, die über drei AsZ verfügen, obwohl der Aufwand stereospezifischer Synthesen dabei schon recht beträchtlich ist: Entecavir, Fosamprenavir, Fosaprepitant und Telbivudin.

Es fällt auf, dass unter den neun neuen Arzneistoffen mit je vier AsZ nur ein partialsynthetischer Vertreter (Tigecyclin) zu finden ist und alle anderen vollsynthetisch gewonnen werden: Aliskiren, Argatroban, Atazanavir, Maraviroc, Methylnaltrexon, Nelarabin, Posaconazol und Tafluprost.

Im Argatroban, Atazanavir und Posaconazol sind Edukte mit einem oder zwei AsZ linear verbunden, was die stereospezifische Synthese erleichtert. Nelarabin ist ein Nucleotid, bei dessen Synthese man sich eines nativen, chiralen Bausteins bedienen kann (insofern könnte man diesen Arzneistoff auch unter "partialsynthetisch" einordnen). Bei den Synthesen von Methylnaltrexon und Tafluprost kann man auf die langen Erfahrungen zurückgreifen, die auf dem Gebiet der synthetischen Opioide bzw. der synthetischen Prostaglandine vorliegen. Im Aliskiren sind auf einer aliphatischen Kette vier AsZ fixiert – eine in synthetischer Hinsicht schwere, aber lösbare Aufgabe. Besondere stereochemische Verhältnisse liegen im Maraviroc vor, auf die später eingegangen wird. Sehr schwierig und ebenso aufwendig wird die stereospezifische Synthese, wenn die AsZ in ein kondensiertes oder überbrücktes Ringsystem integriert sind. Dies ist beim Tigecyclin der Fall, und hier bevorzugt man zu Recht eine partialsynthetische Gewinnung (Tab. 4).

Die Synthese der drei vollsynthetischen Arzneistoffe mit fünf AsZ – Darunavir, Doripenem und Nalbuphin – wird durch die Erfahrungen erleichtert, die man auf den Gebieten der Darstellung von Proteasehemmern, Carbopenemen und synthetischen Opioiden bereits gemacht hat.

Bei der Darstellung der Arzneistoffe mit sechs bis 15 AsZ schöpft man mit zwei Ausnahmen in Form der Partialsynthese aus dem chiralen Pool der Naturstoffe. Die Ausnahmen mit je zehn AsZ sind das synthetische Oktapeptid Icatibant und das synthetische Dekapeptid Abarelix. In beiden Fällen besteht die Synthese in der linearen Verknüpfung chiraler Bausteine (Tab. 4).

Tab. 3: Anzahl der neuen nativen (N), partialsynthetischen (P) und synthetischen Arzneistoffe (S), geordnet nach der Anzahl ihrer Asymmetriezentren (AsZ)
AsZNPSSumme
2  66
3  44
4 189
5  33
6 1 1
7 2 2
8 2 2
9 2 2
10  22
11 1 1
1311 2
14 1 1
15 1 1
 1122336

Ein besonderer Fall von Partialsynthese

Trabectedin (Abb. 2) ist ein Alkaloid der Seescheide Ecteinascidia turbinata , die zu den Manteltieren gehört und Mangrovensümpfe in festsitzender (sessiler) Lebensweise bewohnt [3]. Die ursprüngliche Bezeichnung war Ecteinascidin 743. Wegen der acht im Molekül enthaltenen AsZ wäre die Totalsynthese eine kaum zu bewältigende Sisyphusarbeit. Ein mikrobieller Naturstoff, das Cyanosafracin B (Abb. 2), das aus Kulturen von Pseudomonas fluorescens in ausreichenden Mengen gewonnen werden kann, eignet sich aber als Edukt für eine partielle Synthese. Es stimmt konfigurativ mit fünf AsZ des Trabectedin überein und kann durch eine überschaubare Zahl von Reaktionen in dieses umgewandelt werden. Das legt den Verdacht nahe, dass Trabectedin nicht von der Seescheide selbst synthetisiert wird, sondern aus ihrer mikrobiellen Nahrung stammt.

Stereospezifische Besonderheiten

Sulfoxide sind bekanntlich chiral, wenn sie zwei unterschiedliche Reste enthalten [4]. Das wurde vor fünf Jahren am Beispiel Esomeprazol erläutert [1] und trifft auch für Fulvestrant und Armodafinil zu (Abb. 3).

Im Fulvestrant sind fünf AsZ mit denen des nativen Estradiol identisch. Zusätzlich bringt eine Substitution in Position 7 ein neues AsZ, was auch bei der Molekülbeschreibung berücksichtigt wird. Übersehen wird dabei die Chiralität der ungleichmäßig substituierten Sulfoxid-Gruppe. Es liegt also ein Diastereomerenpaar vor.

Dagegen wurde mit dem Armodafinil bewusst das R -Enantiomer von Modafinil für die Therapie der Narkolepsie entwickelt (und 2007 in den USA zugelassen).

Maraviroc ist ein substituiertes Tropan-Derivat. Das als Tropan bezeichnete Grundgerüst 8-Azabicyclo[3.2.1]octan, das von den Tropan-Alkaloiden her bekannt ist, stellt ein cis -verknüpftes, überbrücktes Piperidin bzw. Pyrrolidin dar, in dem der Stickstoff räumlich fixiert ist [5]. Tropan besitzt in Position 1 ein R -konfiguriertes und in Position 5 ein S -konfiguriertes Chiralitätszentrum. Da zwei der am C-3 haftenden Liganden strukturell identisch sind und sich nur durch ihre Konfiguration unterscheiden (R und S), wird es als pseudo -asymmetrisch bezeichnet und durch die Symbole r oder s gekennzeichnet. Somit ist die stereochemische Charakterisierung des Ringteils mit 1R , 5S und 3r kein Schreibfehler, sondern wissenschaftlich begründet.

Tab. 4: Neue partialsynthetische Arzneistoffe, geordnet nach der Anzahl ihrer Asymmetriezentren (AsZ), und ihre nativen chiralen Edukte
AsZArzneistoffEdukt
4TigecyclinTetracycline
6FulvestrantEstradiol
7

Loteprednol

Paricalcitol

Glucocorticoide

Vitamin D

8

Eplerenon

Trabectedin

Aldosteron

Cyanosafracin B

9

Ciclesonid

Rifaximin

Glucocorticoide

Rifamycin

11RetapamulinPleuromutilin (aus dem Trichterförmigen Räsling)
13TemsirolimusSirolimus
14AnidulafunginEchinocandin B
15EverolimusSirolimus

Bilanz

Bei den Arzneistoffen, die von 2004 bis 2008 neu auf den Markt kamen, ist das Verhältnis der achiralen zu den chiralen Arzneistoffen mit 40:61 gegenüber der Bilanz im vorangegangenen Lustrum (1999 bis 2003) mit 40:60 kaum verändert.

Dagegen hat sich in denselben Zeiträumen bei den neuen monochiralen Arzneistoffen das Verhältnis der reinen Enantiomere zu den Racematen mit 20:5 statt 15:9 wesentlich verbessert.

 

Literatur

[1] Roth H J. Dex-, Lev-, Es-, eine Bilanz der letzten fünf Jahre. Dtsch Apoth Ztg 2004;144:2309.

[2] Hellwig B (Hrsg). DAZ-Beilage Neue Arzneimittel 2004;51 bis 2008;55. 

[3] Mendola D, in Drugs from the Sea (Hrsg N Fusetani). Karger, Basel 2000, S. 120.

 [4] Roth H J, Müller C E, Folkers G. Stereochemie & Arzneistoffe, Heteroatome als Chiralitätszentren. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1998, S. 39.

 [5] Roth H J. Symmetrie versus Chiralität. DAZ-Beilage Student und Praktikant 2008;(3):46.

 

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe, www.h-roth-kunst.com, info@h-roth-kunst.com

 

Abb. 1: Zwei enantiomerenreine Arzneistoffe, die früher als Racemate an­gewandt wurden.
Abb. 2: Ein partialsynthetischer Arzneistoff (rechts) und sein mikrobielles Edukt. Hier dient ein Edukt aus dem chiralen Pool der Natur zur Gewinnung eines enantiomerenreinen Arzneistoffs.
Abb. 3: Zwei chirale Sulfoxide Aufgrund der verschiedenartigen Substitutionen liegt Fulvestrant als Enantiomerenpaar vor, Armodafinil hingegen als Racemat.
Abb. 4: Maraviroc, ein pseudo-asymmetrisches Tropanderivat und ein Beispiel für die gegenseitige Beeinflussung von Symmetrie und Chiralität.

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